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Bücherbummler

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Insgesamt 127 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2025
Kitamura, Katie

Die Probe


ausgezeichnet

Schauspielerin ist die Ich-Erzählerin und glücklich verheiratet mit Tomas. Eine Abtreibung und eine Fehlgeburt hat sie hinter sich, weswegen sie sich sehr sicher ist, dass der junge Xavier, der ihr erklärt, dass er vermutet, ihr Sohn zu sein, sich nur irren kann. Xavier scheint diese Offenbarung nicht weiter zu betrüben. Anstatt der Sohn der Schauspielerin wird er der Assistent ihrer Regisseurin.

So die Ausgangssituation in „Die Probe“ von Katie Kitamura und viel mehr möchte ich auch gar nicht verraten. Nur so viel sei gesagt: Realitäten und Grundannahmen werden sich verschieben, und das nicht zu knapp.

„Die Probe“ ist mein zweiter Roman von Katie Kitamura. Während mir „Intimitäten“ ganz gut gefallen hat, fand ich ihren neuen Roman großartig. Er ist nicht so einfach zu greifen, wie man am Anfang vermuten könnte, hat mich verwirrt und teilweise ein wenig erschüttert. Ich habe mich oft gefragt, wo das ganze hinführen soll, befürchtet, dass es keinen befriedigenden Ausgang oder -weg geben kann. Aber als ich mit der letzten Seite durch war, war ich einfach nur angetan. Angetan wie jemand, der gerade einem sehr cleveren Kunststück beigewohnt hat, einem Twist der anderen Art.

Aber der Roman bietet darüber hinaus noch viel mehr. Er geht auch gewichtige Themen an, die viel Material zum Nachdenken bieten. Obwohl diese bei mir, muss ich zugeben, hinter meinem Entzücken ein wenig ins Abseits geraten sind.

Ganz generell ist mir sicherlich einiges entgangen, vermutlich habe ich Tiefen und Symbolik in diesem Roman komplett überlesen. Ich weiß nicht, ob man wirklich so viel hineininterpretieren kann, wie ich es in einigen Besprechungen gesehen habe. Vielleicht ja. Aber ehrlich gesagt ist mir das recht egal. Ich habe dieses Buch genau so geliebt, wie es bei mir angekommen ist. Hätte es ein bisschen weniger wild sein können im letzten Drittel? Durchaus, aber auch hier hat sich zumindest in meinem eigenen Verständnis alles zusammengefügt und ein rundes Ganzes ergeben. Wobei ich mir bewusst bin, dass meine Deutung wohl nur eine von vielen ist.

Ich nehme an, dass diese Rezension eher verwirrend als hilfreich ist. Und ich würde unglaublich gerne mehr sagen. Aber da das nicht geht, ohne das Leseerlebnis zu stören, werde ich mich zurückhalten. Dafür aber eine große Leseempfehlung aussprechen.

Nominiert für den Booker Prize 2025.

Bewertung vom 29.08.2025
Weeda, Lisa

Aleksandra


gut

Aleksandra ist noch jung, als sie während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiter aus ihrer Heimat in der Ost-Ukraine nach Deutschland verfrachtet wird. Nach Kriegsende kehrt sie nicht zurück, sondern zieht in die Niederlande, heiratet zweimal, bekommt Kinder. Mit ihrer Familie in der Ukraine bleibt der Kontakt bestehen.
2018 ist Aleksandra 94 und beauftragt ihre Enkelin Lisa, nach Lugansk zu fahren, um das Grab ihres 2015 verschollenen Onkels Koljas zu finden. Sie soll ihm ein Tuch bringen, das mit den Lebens- und Todeslinien der Familie bestickt ist, damit Kolja im Jenseits seinen Seelenfrieden finden kann.
In Lugansk angekommen, gerät Lisa sofort in den Palast der Erinnerungen, eine Art magischen Ort der verlorenen Don Kosaken, die nicht in Frieden gestorben sind. Hier trifft sie ihren vor langem verstorbenen Urgroßvater und beginnt mit ihm eine Reise durch die Geschichte dieses Teils des Landes und ihrer Familie.

Ich habe „Aleksandra“ von Lisa Weeda dreimal angefangen, bevor ich mich dazu durchringen konnte, es ganz zu lesen. Für mich war die Lektüre in erster Linie Chaos. Dabei bin ich gar keine Gegnerin von Wechseln in der Zeitebene und Erzählperspektive. Im Gegenteil, es ist meistens eine Bereicherung, wenn eine Geschichte aus mehreren Winkeln beleuchtet wird. Aber Weedas Strukturierung konnte ich nicht folgen. Die Vielzahl an Personen, die ungünstiger Weise auch ab und an ihre Vornamen teilen (was man natürlich schlecht ändern kann, wenn man von der eigenen Familie berichtet) hat mich überfordert. Und das, trotzdem man zu Beginn vorgewarnt wird und auch einen Stammbaum zu Rate ziehen kann. Dass die Perspektive dazu noch oft etwas unvermittelt zwischen „ich“, „er“, „sie“ und „wir“ springt, tut ihr Übriges. Für mich war das zu viel des Guten und hat keinen Lesestrom entstehen lassen.

Und dann ist da noch die – ja, wie soll ich es nennen? Die surreale oder mythische Ebene. Und hier muss ich erwähnen, dass ich nur sehr, sehr selten Zugang zu diesem Kunstgriff habe. Der Palast der verlorenen Don Kosaken und die weißen Hirsche haben mich überhaupt nicht abgeholt. Allerdings kann man Kommentare finden, dass gerade dieser Punkt für einige Leser das Buch besonders lesenswert gemacht hat. Wie man dazu auch stehen mag, eine originelle, wenn vielleicht auch nicht einzigartige, Idee hatte Weeda hier auf jeden Fall.

Auf der anderen Seite hat dieser Roman auch starke Komponenten. Es gibt Passagen, die mich völlig gefesselt und in die Geschichte hineingezogen haben, insbesondere jene, in denen Nikolai von dem erzählt, was die Familie durchmachen musste. Wäre das Buch in dieser Perspektive geblieben, hätte es weniger mit Symbolik um sich geworfen, wäre ich womöglich ein Fan geworden.

Mit ihrem Debüt wollte Lisa Weeda ihrer eigenen Aussage nach einen Beitrag zum Krieg in der Ukraine leisten und ihren Vorfahren ein Denkmal setzen. Das ist ihr auf ihre Art sicherlich gelungen und eigentlich ist das ja das einzige, was zählt. Würde man mich aber nach Büchern fragen, die mir die Ukraine inklusive ihrer historischen Problematik näher gebracht haben, würde mir „Aleksandra“ wohl nicht als Erstes einfallen. Aber ein weiteres Puzzleteil kann dieser Roman durchaus liefern.

Bewertung vom 27.08.2025
Elmiger, Dorothee

Die Holländerinnen


weniger gut

Eigentlich sollte die namenlose Schriftstellerin einen Vortrag über ihre Arbeit halten, merkt aber in der Vorbereitung, dass ihr dieser einfach nicht gelingen will. Darum beschließt sie kurzerhand, stattdessen von einem Projekt zu erzählen, dem sie drei Jahre vorher beigewohnt hat. Damals hatte sie ein Theatermacher eingeladen, mit ihm und einem Team aus Theaterleuten und Laiendarstellern in den südamerikanischen Urwald zu fliegen, um sich dort auf die Spuren zweier junger Holländerinnen zu machen, die vor einigen Jahren dort verschwunden sind. Die Reise wird – und hier muss ich aus unten näher erläuterten Gründen ausnahmsweise einmal den Verlagstext zitieren – „eine beunruhigende Geschichte von Menschen und Monstren, von Furcht und Gewalt, von der Verlorenheit im Universum und vom Versagen der Erzählungen.“

Auch wenn keine Namen genannt werden, wenn man sich ein wenig in den Untiefen des True Crimes aufgehalten hat, errät man schnell, welchen bis heute ungelösten Fall Dorothee Elmiger für ihren neuen Roman „Die Holländerinnen“ gewählt hat. Wirklich weitergeholfen hat zumindest mir dieses Hintergrundwissen nicht. Ich stehe, was das Anliegen der Autorin betrifft, völlig im Dunkeln. Dabei ist das Buch nicht einmal arm an Geschichten, im Gegenteil, das Erzählte schachtelt sich munter ineinander, sie erzählt, wie er erzählte, als ihm erzählt wurde … Aber trotz allem Erzählens konnte ich eine wirkliche Handlung nicht entdecken.

Was erstmal nicht grundsätzlich schlimm ist. Es gibt großartige Romane, in denen so ziemlich gar nichts passiert, die ganz von ihren Personen, Dialogen oder Atmosphären leben. Im vorliegenden Fall würde ich davon ausgehen, dass letzteres die größte Stärke des Werkes ist. Nur hat auch sie mich leider nicht wirklich erreicht. Ich habe weder die Monstren, noch die Furcht vor Gewalt oder die Verlorenheit im Universum gespürt. Ich könnte jetzt sagen, dass ich mich ziellos durch einen Urwald an Wörtern geschlagen habe, um wenigstens eine pseudo-clevere Anmerkung zu machen, aber auch damit würde ich meiner Verwirrung nach dieser Lektüre nur unzulänglich gerecht werden.

Warum dieses Buch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 steht, kann ich nicht wirklich sagen. Vielleicht entgeht mir in meiner Verwirrung einfach das Wesentliche. Vielleicht liegt es aber ja schlicht daran, dass es aus der breiten Masse heraussticht, unter anderem auch wegen der Entscheidung der Autorin, ihr Buch fast komplett in die indirekte Rede zu setzen. Was übrigens weniger anstrengend ist, als ich erst vermutet hätte.

Fazit: Mein Buch war es bedauerlicherweise und trotz großer Hoffnung nicht, ich habe schlicht gar nichts verstanden. Es sei denn, Elmigers erklärtes Ziel war es, ihren Lesern Fragezeichen in den Kopf zu pflanzen. Das üble Gefühl, etwas Wesentliches verpasst
zu haben, zu unaufmerksam durch die Seiten gerast zu sein, wurmt mich durchaus. Sollte also jemand mehr Einsicht erlangt haben, als ich, möge er mich aufklären. Aber so kann ich vorerst keine Leseempfehlung aussprechen.

Bewertung vom 26.08.2025
Fang, Fang

Blume Vollmond


sehr gut

1948, der chinesische Bürgerkrieg nähert sich der Stadt, wer Drangsalierungen befürchtet, flieht. Nur die 20-jährige Hua Manyue ( = Blume Vollmond) hat andere Pläne. Vor der Flucht will sie auf jeden Fall noch die 100 Mah-Jongg Partien spielen, die ihre Eltern ihr zugesagt haben. 100 letzte Runden, bevor sie dieses für junge Damen im heiratsfähigen Alter unwürdige Hobby für immer aufgeben soll. 72. Runden zieht sie durch, bis ihr Kutscher sie überreden kann, endlich aufzubrechen. Aber zu spät, die Familie musste ohne sie abreisen. Und Hua Manyue, die jetzt ohne alles dasteht, bleibt nur, eine neue Identität anzunehmen und ein Leben als Frau eines armen Kutschers zu führen.

60 Jahre wird es dauern, bis die Familie Hua gefahrlos zurückkehren kann, um nach ihrer verlorenen Tochter zu suchen und sie zu sich zu holen. Hua Manyue ist nicht abgeneigt, aber zuerst muss sie noch eine letzte Aufgabe erfüllen: die 100 Mah-Jongg Partien zu vollenden …

Ich habe zuerst den Fehler begangen, „Blume Vollmond“ von Fang Fang mit westlichen Augen zu lesen. Wenn man das tut, kommt nicht so viel bei herum. Eine durchaus interessante Geschichte, die ein wenig an Pearl S. Bucks Romane erinnern mag, aber dann einige Seiten mehr benötigt hätten, um einen wirklich zu fesseln. Erst das Nachwort des Übersetzers Michael Kahn-Ackermann hat mich dazu veranlasst, die Perspektive zu verschieben und hat damit eine ganz andere Lektüre aus diesem recht schmalen Bändchen gemacht. Aus der harmlosen Geschichte wird eine Gesellschaftskritik, die Fang Fang nicht nur einiges an Anfeindungen eingebracht, sondern auch zu einem „faktischen Publikationsverbot“ in ihrer Heimat geführt hat. Diese Brisanz ihres Textes hat mich nicht unmittelbar angesprungen, aber im Nachhinein mein Interesse geweckt.

Fang Fangs Figuren sind durch die Reihe weg eher mehr als weniger unsympathisch. Gerade in deren Charakterisierung scheint ein großer Schwerpunkt ihrer Gesellschaftskritik zu liegen. Wo unser stereotypes Denken vielleicht an „Kollektiv vor Individuum“ denkt, an Höflichkeit, Respekt und Zurückhaltung, präsentiert uns die Autorin in einem Rundumschlag ausschließlich Menschen, die auf ihre eigenen Vorteile gucken. Selbst gute Taten werden nur ausgeführt, weil man sich selbst einen Vorteil verspricht oder bei Unterlassung Konsequenzen fürchtet. Keinerlei Sympathieträger zu finden, kann eine Lektüre schwer zugänglich machen oder sogar zerstören. Aber bei Fang Fang spielt dieser „Schönheitsfehler“ keine Rolle, macht im Gegenteil auf bizarre Weise den Charme der Geschichte aus. Sie zeichnet ein düsteres Gesellschaftsbild. Aber auch eins, von dem man sich in den meisten sozialen Gruppierungen nicht ganz freisprechen kann.

„Blume Vollmond“ hat nicht die gleiche Wucht wie „Wütendes Feuer“, ist aber trotzdem ein interessanter Blick auf eine Seite der chinesischen Kultur und Geschichte, die uns so vielleicht nicht so oft begegnet. Ob Fang Fang ihre Landsleute dabei zu sehr über einen Kamm schert, kann ich dabei nicht beurteilen (vermute es allerdings), aber sie wirft auf jeden Fall Aspekte auf, über die es sich lohnt, nachzudenken. Und verdient damit eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 25.08.2025
Prizkau, Anna

Frauen im Sanatorium


gut

Nach der „Sache“, von der wir nur spekulieren können, worum es sich dabei genau gehandelt hat, kommt Anna in ein Sanatorium. Hier trifft sie auf Marija, Elif und David, später auch auf die Soldatin Katharina und deren Kollegen. Als Elif entlassen wird, hinterlässt sie Anna ein Heft mit Geschichten über die anderen Patienten und den Auftrag, mit David eine Beziehung zu beginnen. Und da Anna anscheinend einen Hang zu Hörigkeit hat, macht sie sich auch gleich daran, Elifs Wunsch in die Tat umzusetzen. Mit fragwürdigen Folgen.

Ich fange meine Rezensionen gerne mit den Punkten an, die mir an einem Roman gut gefallen haben, aber jetzt, wo ich vor dem Bildschirm sitze, fällt mir da zu „Frauen im Sanatorium“ von Anna Prizkau überraschend wenig ein. Ich mag das Cover. Und den Titel. Und es gab auch die ein oder andere Stelle, die ich durchaus interessant und unterhaltsam fand. Aber den Gesamteindruck konnte das nicht retten.

Dabei ist Prizkaus Art, ihren Inhalt zu vermitteln, nicht ohne Charme. Sie lässt Anna erzählen, lässt sie von ihrer Vergangenheit berichten, von den Ereignissen im Sanatorium, von dem, was sie von anderen Patienten gehört hat, was sie selbst vermutet und beobachtet oder in Elifs Heft liest. Und ihr Gesprächspartner ist dabei vorzugsweise Pepik, ein Flamingo aus dem Park des Sanatoriums.

Auch, dass wir im Laufe des Romans immer mehr dahinterkommen, dass wir es nicht nur mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun haben, sondern gleich mit mehreren, kann man reizvoll finden. Wenn man denn eine Vorliebe für unzuverlässige Erzähler hat. Ich habe sie allerdings eher nicht.

Da hat es dann auch nicht geholfen, dass ich nur wenig Sympathie für die Figuren (außer vielleicht für Marija) entwickeln könnte. Jungs aufreißen, fragwürdige Mixgetränke saufen, peinliche und dabei noch gefährliche Racheaktionen ausführen, dem Schwarm hinterherschnüffeln … das alles erwarte ich nicht von Frauen in einem Sanatorium, sondern eher von Jugendlichen in einer Einrichtung für Schwererziehbare. Und trotz all dieser leicht pubertären Dramen schaffen es die beteiligten Personen, weitestgehend flach und uninteressant zu bleiben.

So stehe ich am Ende mit leeren Händen da, habe wenig mitgenommen, außer einem leichten Gefühl von Verärgerung. Diese Mischung aus versuchtem Tiefgang und geradezu alberner Oberflächlichkeit hat für mich überhaupt nicht funktioniert. Es tut mir für Pepik sehr Leid, aber hier erfolgt keine Leseempfehlung.

Bewertung vom 15.08.2025
Garmus, Bonnie

Eine Frage der Chemie (MP3-Download)


sehr gut

Wir befinden uns in den 1960er Jahren. Elizabeth Zott ist Chemikerin, eine äußerst intelligente und sehr begabte. Aber leider auch eine weibliche, und das passt natürlich überhaupt nicht in das Frauenbild ihrer Zeit. Der einzige ihrer Kollegen, der sie ernst nimmt, ist Calvin Evans, potenzieller Nobelpreiskandidat und Außenseiter. Aus dem Respekt füreinander wird schnell Liebe, die beiden werden ein Paar, bleiben aber zum allgemeinen Entsetzen unverheiratet. Doch dann passiert ein Unglück und Elizabeth bleibt als alleinerziehende Mutter und ohne Job zurück. In ihrer ungünstigen Lage sieht sie sich gezwungen, die Moderation einer Kochshow im Fernsehen zu übernehmen. Elizabeth nutzt diese neue Position, um ihre Zuschauerinnen in die Chemie einzuführen und ihnen gleichzeitig zu zeigen, dass ihnen, wenn sie wollen, auch andere Wege offenstehen, als sich um Haushalt und Kinder zu kümmern. Dieser unkonventionelle Ansatz gefällt allerdings längst nicht jedem …

Der Hauptcharme von “Eine Frage der Chemie” von Bonnie Garmisch liegt auf jeden Fall vor allem bei der Hauptperson. Elizabeth Zott ist einfach erfrischend in ihrer trockenen, direkten und unbeeindruckten Art. Auch die anderen Personen sind gut gezeichnet und charakterisiert (wenn vielleicht auch ein wenig zu stereotypisch). Aber jetzt, nachdem es schon ein wenig her ist, dass ich dieses Hörbuch gehört habe, stelle ich fest, dass neben Elizabeth alle anderen Akteure dieser Geschichte ziemlich verblasst sind. Ihr auf ihrem Weg zu folgen ist von Anfang bis Ende … ich würde sagen, ein Vergnügen, wenn das aufgrund der sporadischen Tragik des Geschehens nicht ein wenig unangemessen wäre.

Weshalb ich trotzdem nicht die vollen fünf, sondern nur vier Sterne vergeben habe, hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass mir im Nachhinein die Kalibrierung des Ganzen etwas in Schieflage geraten zu sein scheint. Ich würde jetzt behaupten, ich hätte einen zwar guten Roman, aber dann doch einen, der schon in Richtung heitere Unterhaltungsliteratur tendiert, gelesen. Das ist kein sonderlich passender oder korrekter Nachklang, wenn man ein Buch gelesen hat, in dem sexuelle Belästigung, Frauenfeindlichkeit, häusliche Gewalt, Tod, Trauer, Suizid und mehr thematisiert werden. Ich kann nicht genau sagen, woran es gelegen hat, aber ich fand den Ton für die schwierigen, aber wichtigen Themen nicht genügend getroffen.

Ein weiterer Grund ist, dass mir der Roman insgesamt doch zu gefällig war. Er hinterließ bei mir das Gefühl, dass er sehr konkret dafür geschrieben wurde, der breiten Masse zu gefallen. Das schließt natürlich nicht aus, dass Garmischs Herz voll und ganz in ihrem Werk steckt, und ist darüber hinaus nur reine Spekulation, aber mir kam das Triggern meiner Gefühlspalette schon fast manipuliert vor.

Luise Helm als Sprecherin fand ich eine recht gute Besetzung. Sie hat mich nicht umgehauen, aber das Hörerlebnis überzeugend getragen. Und ich bin bei Sprechern oft sehr mäkelig, bei weiblichen besonders häufig.

Alles in allem ist “Eine Frage der Chemie” ein interessanter Roman, der Spaß macht, gut unterhält, dabei aber auch tiefere Themen behandelt, die auch heute nicht an Aktualität verloren haben. Und das ist natürlich eine Leseempfehlung wert.

Bewertung vom 11.08.2025
Bryla, Kaska

Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich


gut

Die namenlose Ich-Erzählerin/Autorin wohnt, zumindest vorübergehend, in einem Wohnwagen in einer Art Kommune. Gut geht es ihr nicht, sie hatte Corona und kommt nicht so richtig wieder auf die Beine. Wenn sie sich aufraffen kann, arbeitet sie an den aufgezeichneten Gesprächen mit ihrem polnischen Vater, mit dem sie seit dessen Tod innere Dialoge führt. Sie hat ihm versprochen, ein Buch über seine Zeit im Widerstand und seine Inhaftierung im Gulag zu schreiben. Darüber hinaus ist sie recht einsam, denn die anderen 35 Kolonie-Bewohner trauen sich nicht zu nah an sie ran, zu groß ist die Angst vor einer Ansteckung. Ein wenig kommt sie aus ihrer Einsamkeit heraus, als sie die Pflege einer jungen Krähe übernimmt und es dauert nicht lange, bis das Tier der Mittelpunkt ihres Lebens wird.

Ich habe sehr lange nicht viel mit “mein vater, der gulag, die krähe und ich” von Kaśka Bryla anfangen können, habe weder zu den Personen Zugang gefunden, noch verstanden, was Bryla eigentlich erzählen möchte. Zum einen lag das sicher auch an Brylas Stil. Sie geht mehr als sparsam mit Punkten um, was dem Text einen Atemlosigkeit verleiht, die so gar nicht zur Erschöpfung der Ich-Erzählerin passen will und für eine erste Schieflage sorgt.

Zum anderen habe ich aber auch den Umgang mit ihren Sujets nicht begriffen. Da haben wir die schrecklichen Erlebnisse des Vaters im Gulag, die Umstände in den Anfangszeiten der Pandemie, die Homosexualität der Ich-Erzählerin und natürlich die Aufzucht des Rabens mit allen Gefahren einer Vermenschlichung. Viel Stoff, aber meinem Empfinden nach ist sie keines dieser Themen wirklich angegangen, alles läuft nebenher, ohne viel Tiefe und ohne jeden Mehrgewinn.

Deswegen habe ich versucht, die Bedeutung des Ganzen in eventuellen Parallelen zu suchen. Was haben ein Krähenjunges und der Gulag gemein? Was verbindet Homosexualiät und Long-Covid … wirklich fündig wurde ich allerdings nicht.

Bis, ja, bis im letzten Drittel des Buches Bryla selbst einen Hinweis gibt. Ich kann nicht sagen, dass ich ihren Vergleich wirklich überzeugend fand, und ob es ein gutes Zeichen ist, wenn eine Autorin mit dem Zaunpfahl winken muss, bevor man was begreift, aber ab da konnte ich mich ein wenig mit dem Roman aussöhnen und einen Hauch von Interesse entwickeln, der über meine Zuneigung zu Krähen im Allgemeinen hinaus ging.

Man möge mich nicht falsch verstehen, ich sage nicht, dass Bryla eine schlechte Autorin ist. Sie kann schreiben, sie hat schöne Ideen. Nur haben in diesem speziellen Fall das Buch und ich nicht zusammengepasst. Dabei könnte ich mir sogar vorstellen, vielleicht einen anderen ihrer Romane durchaus zu mögen (auch wenn mir durchgehendes Gendern wirklich auf die Nerven geht). Aber in diesem Fall kann es von mir nur eine schwache Leseempfehlung geben.

Bewertung vom 09.08.2025
Mehmood, Tariq

Sing to the Western Wind


sehr gut

“Sing to the western wind
The song it understands…”

70-year-old Saleem Khan wanders the streets of Manchester, a suicide bomb strapped to his body. As he walks towards his death, he reflects on his life. His childhood and youth in Pakistan, where he became a teacher. His emigration to England, where he turned into “just another Paki”, doing underpaid nightshifts. His return to Pakistan, his loves, his losses, all he has seen, all he has done. And all he did not do. Everything that led up to this moment, where he not only wants to end his life, but also take others down with him.

“Sing to the Western Wind” by Tariq Mehmood is not an easy read. To some extent, because of its partly brutal and horrifying plot, of course, but also due to Mehmood's style of writing. Since English isn’t my mother tongue, it is hard for me to judge, but his use of the English language seems to me like what is often referred to as “better than a native speaker”, meaning the use of uncommon words and structures. This might be the reason why I didn't get into a reading flow, but felt more like driving on a very bumpy road. Additionally, I found the dialogues to be somewhat strange and awkward at times. Maybe Mehmood kept very close to a literal translation from Pothowari (if I am not mistaken, and that’s what the people in this part of Pakistan speak … Side note: a glossary would have been nice), or he was just stressing how much they had their wires crossed. Still, at times I had the impression that somebody forgot to check for coherence.

Another thing I noticed is that I didn’t like any of the characters. Not a single one! Well, maybe apart from cousin Habib. I also missed a deeper insight. I had the impression that we didn’t get much from the inner perspectives, something I would have thought vital for the subject at hand. But I really appreciated that Saleem Khan was portrayed as an atheist, and his decision wasn’t just explained away with religious fanaticism. The reader has to ask himself what it would do to him if he had to face the same circumstances. And yet, we only get explanations worth discussing, no excuses, no acquittal.


All in all, “Sing to the Western Wind” wasn’t a novel I couldn’t put down. Quite the opposite, at times I had to persuade myself to keep on reading. But with a bit of distance, I notice now that I value it much more in retrospect than I thought I would. All the issues I had with it fit perfectly. Those feelings of dissatisfaction and crudeness are completely in tune with the incidents. This is a novel that will stay with you for a long time. A story that gives no easy answers, but broadens the mind. A book that should be read.

Bewertung vom 05.08.2025
Hülk, Walburga

Victor Hugo


sehr gut

Victor Hugo, einer der großen Meister der französischen Literatur, soll angeblich heutzutage nicht mehr so viel gelesen werden. Dafür dürfte er vielen trotzdem bekannt sein, und sei es nur durch die sehr großzügig interpretierte Disney-Version des “Glöckners von Notre Dame” oder eine der vielen Adaptionen von “Les Misérables”. Ich selbst habe auch nur diese beiden Romane von ihm gelesen. Dass er, besonders in seiner ersten Zeit, vor allem für seine Theaterstücke bekannt war, von denen einige die Vorlagen für Verdi-Opern geliefert haben, war mir genauso neu, wie dass er auch zeichnen konnte. Über den Privatmenschen Hugo, der viele schwere Schicksalsschläge einstecken musste, wusste ich genauso wenig, wie über den politisch engagierten Aktivisten, der auf Grund seiner Einmischungen viele Jahre im Exil verbracht hat. Grund genug, die Nominierung von Walburga Hülks Buch “Victor Hugo - Jahrhundertmensch” für den Deutschen Sachbuchpreis als Anlass zu nehmen, diese Wissenslücke endlich zu schließen.

Am Anfang hatte ich Probleme, richtig in das Buch hineinzukommen. Hülk nimmt sich viel Zeit, die politische Situation Frankreichs vor und um Hugos Geburt zu skizzieren. Erst hatte ich dafür wenig Verständnis, habe nicht verstanden, warum sie nicht endlich mit Hugos Lebensgeschichte anfängt. Aber schnell wurde mir klar: ein Victor Hugo ohne Politik existiert nicht. Hugo ist mit der Geschichte seiner Zeit verwoben, wie nur wenige Autoren, hat sich engagiert, seine Epoche vielleicht auch geprägt. Hülk hat das verstanden, und womöglich ist es auch das, was ihr Buch von anderen Hugo-Biografien abhebt.

Besonders gut gefallen hat mir die Stimmung, die Hülk schafft. Ich habe mich richtig in die Zeit Hugos zurückversetzt gefühlt, konnte sozusagen die Kutschenräder über das Kopfsteinpflaster rumpeln und die Feder über die Seiten kratzen hören. Diese atmosphärische Dichte hat das Leseerlebnis genau zu eben diesem gemacht, einem Erlebnis. Unterstützt auch von der perfekten Auswahl der Bilder, durch die wir sowohl mit historischen Persönlichkeiten, Hugos Familie, aber auch seinen Häusern und eigenen Zeichnungen vertraut gemacht werden.

Was ein Sachbuch natürlich auch immer besonders auszeichnet, ist sein Stil. Und hier findet Hülk eine sehr gute Mitte zwischen den Polen von Infotainment und trockener Wissenschaft. Ja, man merkt ihr die Akademikerin an, und für mich hätte es durchaus auch noch ein wenig lockerer geschrieben sein können. Aber ihre Schreibweise ist auf jeden Fall so leicht zugänglich, dass es bis zum Ende interessant bleibt und keine Längen oder Durststrecken auftreten. Gleichzeitig werden aber auch genug weitere Informationen geboten, Quellenangaben und Verweise, die Lesern, die sich tiefer mit Hugo auseinandersetzen wollen, genug Material dazu liefern.

Alles in allem fand ich Hülks Buch sehr bereichernd. Sie hat mir den Autor Hugo in aller seiner Vielfältig- und Widersprüchlichkeit um einiges näher gebracht. Und ein Buch geschrieben, dass man immer wieder in die Hand nehmen kann, um neue Details zu entdecken oder altes Wissen zu vertiefen. Eine Leseempfehlung für alle, die sich Victor Hugo selbst oder aber auch der französischen Literatur und Geschichte annähern möchten.

Bewertung vom 03.08.2025
Slocombe, Penelope

Sunbirds


ausgezeichnet

Seit sieben Jahren sucht Anna nach ihrem Sohn Torran, der auf einer Reise durch Indien spurlos verschwunden ist. Seit drei Jahren war sie schon nicht mehr in ihrer Heimat Schottland, wo ihr Mann Richard auf sie wartet. Er ist sich sicher, dass Torran nicht mehr lebt und hat die Hoffnung, seinen Sohn je wieder in die Arme schließen zu können, längst aufgegeben.
Doch dann stößt Richards Nichte Esther auf neue Spuren und fliegt zu Anna, um sie bei der Suche nach Torran zu unterstützen. Gemeinsam machen sich die beiden Frauen, zwischen denen noch einige ungeklärte Angelegenheiten schwelen, auf den Weg in den Himalaja. Eine Reise, die unerwartete Perspektiven öffnen wird.

„Sunbirds“ von Penelope Slocombe hat mich tief beeindruckt. Hier hat eine Autorin schon in ihrem Debüt eine ganz eigene Stimme gefunden, die so komplex und vielschichtig ist, wie ihr Plot und ihre Charaktere. Undramatisch, fast schon subtil im Ton, entfaltet sie vor ihren Lesern eine Geschichte, die durchgehend durchtränkt ist von Möglichkeiten. Eine Vielfältigkeit, die sich auch in den Persönlichkeiten und den Entwicklungen ihrer Figuren spiegelt. Undramatisch und subtil, aber trotzdem mit einer Intensität, die einen die Tiefe des Schmerzes am eigenen Körper fühlen lässt. Eines Schmerzes, der bei allen Beteiligten viele alte Wunden aufreißt.

Was mich weiter fasziniert hat, ist, wie die Atmosphäre dieses Romans, obwohl so spürbar, doch für mich auch immer in der Schwebe blieb, sich nicht richtig greifen ließ. Und wie großartig dieses Gefühl passt, wie gerade diese Haltlosigkeit die Geschehnisse spiegelt. Dass Slocombe aus verschiedenen Perspektiven erzählt und auch immer wieder in die Vergangenheit zurückblickt, verstärkt dieses Gefühl noch und gibt gleichzeitig dem Leser eine Chance, sich seine Puzzleteile zusammenzusuchen und langsam ein Bild zu formen.

Ebenfalls gut gefallen hat mir, einmal ein anderes Bild von Indien vermittelt zu bekommen, als es in den meisten Büchern, die ich bisher gelesen habe, gezeichnet wird. Bewohnern des Landes oder dem indischen Alltag begegnen wir hier kaum. Wir erleben vielmehr ein Land, das von Touristen und Menschen auf der Suche nach sich selbst überrannt wird, eine Art Parallelwelt, die mich ein wenig ernüchtert.

Auf die vielen interessanten Fragen, die der Roman aufwirft, würde ich gerne näher eingehen, werde es aber nicht tun, weil ich das Gefühl habe, dann zu viel zu verraten. Fakt ist, dass es davon viele in diesem Roman gibt und der einem viel Raum lässt, seine eigenen Antworten zu suchen.

Ein sehr gelungenes Debüt, das in einem nachhallt. Ein Roman, der Vorfreude auf weitere Werke dieser Autorin weckt, und den man sich nicht entgehen lassen sollte. Große Leseempfehlung!