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Flausenherz

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Insgesamt 4 Bewertungen
Bewertung vom 31.01.2023
Gleißendes Licht
Sinan, Marc

Gleißendes Licht


ausgezeichnet

Intergenerationales Trauma in armenischem Kontext

Marc Sinans Debütroman beginnt monumental mit vierzehn Gewehrschüssen im Frühling 1915. Hüseyin Umut ist noch ein Jugendlicher, als er im Ersten Weltkrieg die Grausamkeiten gegen die armenische Bevölkerung mitbekommt. Weil er schon früh ein Talent für Logistik und Handel hat, muss er jedoch nicht kämpfen, sondern ist für die Versorgung der Truppen zuständig. Später sollen ihn diese Fähigkeiten zum großen Haselnussmagnaten am Schwarzen Meer aufstreben lassen, verheiratet mit der schönsten Frau der Gegend: Vahide, die helle Haut hat und eine ganz eigene, traumatische Vergangenheit mit sich bringt.

Zwei Generationen später wächst Kaan, Sohn von Nur und Enkel von Hüseyin und Vahide in einem Vorort von München auf. Seine Mutter spricht fast akzentfrei und tut alles, um Kaan ein erfolgreiches Leben zu ermöglichen. Tatsächlich wird Kaan ein Gitarrenvirtuose mit vielversprechender Zukunft, allerdings macht er anderen und sich selbst mit fanatischem Ehrgeiz und Überheblichkeit das Leben schwer. Ein Gewicht lastet ihm auf der Brust, seit er denken kann und durch Erinnerungen, Träume und Visionen dringt er immer weiter zum Kern des Familientraumas vor, das er zu schultern hat.

Marc Sinan zeigt eindrücklich auf, wie sich Geschehnisse der Vergangenheit über Generationen in die Seele der Menschen und der Natur einprägen. Er springt dabei schon nach jeweils wenigen Seiten in andere Zeiten und Perspektiven, bricht Chronologien auf und stückelt die Versatzstücke wieder zusammen.

"Die Zeit faltet sich, sie ist nur eine menschliche Fiktion. Sie existiert nur für uns, weil wir um sie wissen und sie anbeten. Aber die Welt findet zur gleichen Zeit und am selben Ort statt. Sie ist eins. Deshalb ist alles, was wir tun, bedeutungslos, oder es bedeutet alles, wirklich alles, wenn wir nur die Macht erringen, sie zu erzählen, wird Vahide später, viel später sagen, als sie längst Kaans Anneanne ist.” (S.181)

Mit ganz eigenen, eindrücklichen Bildern und feinfühligen Worten tastet sich der Autor voran und verwebt Teile seines eigenen Lebens fiktionalisiert in die Geschichte ein. Das Thema des intergenerationalen Traumas ist nicht neu und doch schafft Sinan anhand des Schicksals des armenischen Volkes die Spirale von Tätern und Opfern auf besondere Art und Weise zu beleuchten und dringliche Fragen zu stellen. Mit einer Prise Irrwitz stellt sich sein Protagonist Kaan der Aufgabe, aus dem Kreislauf auszubrechen, wobei uns der Autor die Realität durchgehend entzieht und spielerisch mehrere Versionen der Geschichte anbietet.

Marc Sinan ist selbst Komponist und Gitarrist. In seinen musikalischen Werken spielt der armenische Komponist Komitas Vardapet eine zentrale Rolle, dem auch im Roman Bedeutung zukommt. Stimmungsvoll ist auch das literarische Debüt komponiert, in dem sich verschiedene Motive nach und nach vereinen und zu einem großen Finale steigern. Ein grandioses Buch, das mich eingenommen hat in all seinen Variationen, unterstrichen durch sprachliche Eleganz und bildliche Leuchtkraft.

Bewertung vom 27.01.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Türkisch-deutsche Familiengeschichte
Schon mit den ersten paar Seiten des Romans "Dschinns" hatte mich die Autorin Fatma Aydemir in den Bann gezogen: Hüseyin kam als sogenannter "Gastarbeiter" nach Deutschland und erfüllt sich nach jahrzehntelanger harter, einfacher Arbeit den Traum einer Wohnung in Istanbul. Eine Woche vor Beginn seiner Rentenzeit stirbt er jedoch an einem Herzinfarkt in der neuen Wohnung, während sich seine Frau und die vier teilweise bereits erwachsenen Kinder noch in Deutschland befinden. Hüseyins Leben wird von einem namenlosen Erzähler in der Du-Form rekapituliert; die Ansprache eines unbekannten Wesens an den Versterbenden.
In der Folge kommen alle vier übrigen Familienmitglieder zu Wort. Die Autorin verknüpft dabei geschickt den Gegenwartsstrang, der sich um die Beerdigung des Vaters in Istanbul dreht, mit Rückblenden der einzelnen ProtagonistInnen und legt dabei die Familiengeschichte Stück für Stück wie eine Zwiebel bis zum schmerzhaften Kern frei. Jeder und jede kämpft auf eigene Art und Weise damit, den Platz im Leben und in der Gesellschaft zu finden und insbesondere die eigenen Wünsche und Bedürfnisse gegen starre, konventionelle Denkweisen hochzuhalten. Ob nun bezogen auf Homosexualität, Feminismus oder die von den Eltern verschwiegene kurdische Herkunft, immer geht es um Selbstermächtigung, Selbstbestimmtheit und die Leerstellen innerhalb der Familie, die von den Eltern sorgsam gehütet werden.

Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre?
(S. 189f)

Fatma Aydemir hat mir diese Familie türkischer Einwanderer der ersten und zweiten Generation auf realistische Weise unglaublich nahe gebracht mit all ihren inneren Zwiespälten und äußeren Konflikten. Durch die wundervolle Sprache, nuanciert auf jede Erzählperspektive abgestimmt, habe ich alle ProtagonistInnen ins Herz geschlossen, habe mitgelitten und mitgefühlt. Mein erstes Jahreshighlight dieses Jahr - lest dieses Buch!

Bewertung vom 24.09.2021
DAFUQ
Jarmysch, Kira

DAFUQ


gut

Im Kopf einer Oppositionellen

Kira Jarmysch ist Sprecherin des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny und hat mir "DAFUQ" nun ihr erstes Buch veröffentlicht. Die Protagonistin Anja weist unweigerlich Parallelen zu ihrer Schöpferin auf: Sie studierte im Moskauer Institut für Internationale Beziehungen und auch sie nahm an regierungskritischen Demonstrationen teil und wurde dabei festgenommen.
Von den 10 Tagen im Arrest nach einer Demo gegen Korruption handelt "DAFUQ", ein Kapitel für jeweils einen Tag. Jarmysch lässt uns ganz nah ran an den Alltag im Arrest, stellt uns verschiedene Zellengenossinnen vor, die alle ihre eigene Geschichte mitbringen und insgesamt ein aufschlussreiches Bild vermitteln über das heutige Russland und die Missstände in Justiz und Gesellschaft. Homosexualität, Alkoholsucht, Straflager und Prostitution spielen hier eine Rolle, während Anja auch ihr eigenes Leben in Rückblenden reflektiert und seit Tag 1 ihres Aufenthalts von schaurigen Halluzinationen geplagt wird.

Diese kleine Gesellschaftsstudie auf kleinstem Raum - das meiste spielt sich in der Arrestzelle ab - hat mir sehr gut gefallen. Jarmysch bildet sehr gut konträre politische Meinungen und persönliche Konflikte ab, sodass ich das Gefühl hatte, einen guten Einblick in die russische Gesellschaft zu bekommen. Die ein oder andere Thematik hätte ich mir etwas weiter ausgearbeitet gewünscht, so hatte ich den Eindruck, größtenteils an der Oberfläche zu schwimmen. Stattdessen hätten ab einem bestimmten Punkt Einzelheiten über den Gefängnisalltag ausgespart werden können.

Zudem fand ich die insgesamt recht schnörkellose Ausdrucksweise teilweise zu gestelzt und realitätsfern. Hier hatte ich mehr authentische Sprache erwartet in Einklang mit dem Romantitel. Ob dies an der Übersetzung liegt oder an der russischen Diktion, die ins Deutsche übertragen seltsam wirkt, kann ich leider nicht beurteilen. Aber Aussprüche wie "Ach wo", "Eh Mann, wozu so in Schale" oder "Das gereicht mir nicht zum Ruhm" wirken völlig aus der Zeit gefallen und sind eher cringe.

Trotzdem eine interessante Geschichte mit spannenden Einblicken in den Kopf einer russischen Oppositionellen.

Bewertung vom 20.08.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Grauer Beton, rauer Jargon

Glasgow in den 1980er Jahren: Die Arbeiterklasse ist gebeutelt von der Thatcher-Politik, Armut, Gewalt und Trostlosigkeit bestimmen den Alltag in den verwahrlosten Vierteln der Stadt. Agnes Bain will ein aufregendes, vielleicht glamouröses, auf jeden Fall besseres Leben und verlässt ihren bodenständigen, katholischen Ehemann für den aufschneiderischen Blender "Big Shug". Obwohl sich ihre Träume in Enttäuschung auflösen, stellt sich Agnes der grauen Tristesse erhobenen Hauptes und mit einem makellosen Äußeren, während Alkoholsucht, Geldnot und die toxische Beziehung zu Shug immer wieder an ihrer Würde zerren. Sie aus den Fängen des Alkohols zu retten ist Shuggies einziger Wunsch. Shuggie, der Nachzügler der Familie, der früh Verantwortung übernehmen muss, während er selbst wenig Halt und elterliche Führung erlebt. Er opfert sich bedingungslos auf, dabei hat er selbst genug zu kämpfen in einer Welt, in der er sich nie richtig und "normal" fühlt. Zart und einfühlsam hat er einen Sinn für das Schöne und Besondere in einer harten, erbarmungslosen Welt und muss dafür viel wegstecken ohne sich jemandem anvertrauen zu können.

Der Roman hat einen düsteren Grundton, der mich, angereichert mit vielen visuell einprägsamen Details, direkt in die Schauplätze hineinziehen konnte - die brachliegenden Flächen des Kohleabbaus, die raue, unsolidarische Nachbarschaft in Pit Head und die schäbigen Hochhausviertel in Glasgow. Shuggies Liebe für Agnes, aber auch die Kämpfe, die er inmitten seines Heranwachsens immer wieder ausfechten muss, haben mir das Herz zerrissen. Schonungslos führt uns Stuart in die Abgründe einer abgehängten Gesellschaft, die geprägt ist von Gewalt, sexuellem Missbrauch und Abhängigkeit. Dennoch gelingt es ihm, auch feine Lichtstrahlen zu zeichnen, die hoffnungsvoll durch das Grau schimmern.

Der schottische Akzent wurde in der Übersetzung von Sophie Zeitz in schludrigen Berliner Akzent verwandelt, was ich erst gewöhnungsbedürftig, dann aber doch gelungen fand. Im Laufe der Geschichte wird klar, dass eine Abgrenzung zum Hochdeutschen (oder im Original zum Queen's English) sogar unbedingt notwendig ist, da die Tonalität der verschiedenen Personen auch im Buch thematisiert wird. An dieser Stelle wäre das englische Original sicher spannend zu lesen und mit der Übersetzung zu vergleichen.

Tolle Übersetzung und großartiges Buch, das völlig zurecht den Booker Prize 2020 bekommen hat.