Benutzer
Benutzername: 
dracoma
Wohnort: 
LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 227 Bewertungen
Bewertung vom 17.09.2025
Schätte, Lena

Das Schwarz an den Händen meines Vaters (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Lena Schätte erzählt eine eindringliche Geschichte. In Erinnerungs-Bruchstücken blickt die Protagonistin, von ihrem Vater zärtlich „Motte“ genannt, zurück auf ihr Elternhaus und ihre eigene Geschichte. Das „Schwarz an den Händen“ ihres Vaters steht nicht nur für den Arbeitsruß des Fabrikarbeiters, sondern ist auch ein Bild für die Schuld des Vaters und seine Defizite.
„Schwarz“ ist das Erbe, das der Vater von den vorhergehenden Generationen übernommen hat und weitergibt an seine Tochter. Der Vater der Protagonistin trinkt und spielt, baut Unfälle, verliert seine Arbeitsstelle, ist unberechenbar, prügelt sich und schläft seinen Rausch am Wegesrand oder im Garten aus. Warum trinkt er? Die Mutter sagt: um das Leben zu ertragen. Die Mutter versucht mit Aushilfs- und Putzarbeiten, die Kinder durchzubringen. Dabei gerät sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, und während ihrer Erschöpfungsphasen übernehmen die Kinder die täglichen Routine-Aufgaben der Familie. Die Familie sinkt immer weiter ab, die Kinder werden zunehmend heimatloser. Die Sucht des Vaters bestimmt das Familienleben. Und da Motte es nicht anders kennt, trinkt sie schließlich selber, so wie ihr Freund auch. Und das Rad dreht sich weiter: Randale, Unfälle, Polizei, Gericht, Gefängnis.
Nach außen aber wird der Schein gewahrt, selbst das Kind hält in der Schule die Fassade einer heilen Familie aufrecht.
Es sind aber nicht nur diese „schwarzen“ Erinnerungen, von denen Motte erzählt, sondern auch liebevolle Erinnerungen an den Zusammenhalt der Familie und von der zärtlichen Bindung des Vaters an seine Kinder. Die Liebe des Vaters und umgekehrt die Liebe der Familie zum Vater leuchtet immer wieder im Text auf, und mit diesem Gegensatz entfaltet die Geschichte eine ganz besondere Eindringlichkeit.
Lena Schättes sparsame, nüchterne Sprache trägt zu dieser Eindringlichkeit wesentlich bei. In dem kurzen Roman findet sich kein überflüssiges Wort. Ein harter Inhalt wird hier mit fast poetischen, kurzen Sätzen erzählt, ohne Dekor, und inhaltlich ohne Anklage und Schuldzuweisungen.

Bewertung vom 16.09.2025
Ruban, Paul

Der Duft des Wals (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Ehepaar will seine Ehe retten und fliegt mit seiner Tochter in ein Luxusresort nach Mexiko. Die äußeren Voraussetzungen stimmen also: Sonne, Meer, Pool, All inclusive. Doch schon am nächsten Morgen zeigt sich die Kehrseite des vermeintlichen Paradieses: ein gestrandeter und explodierter Wal, der das gesamte Resort in einen bestialischen Gestank einhüllt.
Was tun? Der Roman wechselt in jedem Kapitel die Erzählperspektive und lässt in kurzen Episoden nicht nur das Ehepaar und seine Tochter, sondern auch eine ältere Flugbegleiterin und einen Hotelangestellten zu Wort kommen. Damit erhält der Leser Einblicke in das Innere der Figuren. Er sieht, wie die Mutter und auch der Vater ihre getrennten Vergnügen suchen, wie die Tochter das Verhalten ihrer Eltern beobachtet, wie die Flugbegleiterin von den Dämonen ihrer Vergangenheit verfolgt wird und wie der alte Hoteldiener unter seinem beruflichen Abstieg und einer unerfüllten Liebe leidet. Immer deutlicher wird, dass der Gestank des Wals nur ein Symptom ist. Es ist weniger der tote Wal, der die Luft verpestet und das Atmen erschwert, sondern es sind die Menschen selber, die so stinken – mit ihrem Eigennutz, mit ihrer Habgier und ihrer Lieblosigkeit. Und mit ihren Umweltsünden. Die Kehrseite des Paradieses zeigt sich nämlich auch im abgestorbenen Korallenriff und dem Strand, der nur durch frühmorgendliche Müllsammler so traumhaft ist, wie er den Touristen präsentiert wird.
Mit diesem Gegensatz spielt der Roman. Der Luxus ist nur ein Blendwerk, eine Täuschung, eine vorgespiegelte Scheinwelt, in die nun die ungeschminkte Realität in Form des Verwesungsgeruchs eindringt. Der tote Wal wird damit zu einem Symbol des Verfalls, der rundherum zu beobachten ist: die zerstörte Natur, übersteigerter Konsum, die Verschmutzung der Meere, die Perspektivenlosigkeit der billigen heimischen Arbeitskräfte und vor allem die Beziehungen der Menschen zueinander
Dieses Thema stellt der Autor ausgesprochen skurril vor, stellenweise absurd und dadurch auch wieder komisch. Er verzichtet weitgehend auf psychologischen Tiefgang, aber trotzdem haben seine Figuren hinreichend deutliche Konturen, so wie der gesamte Text durch seine Stringenz und Konzentration besticht.
Insgesamt eine durchaus witzige Lektüre mit ernstem Inhalt

Bewertung vom 07.09.2025
Mackay, Shena

Der brennende Obstgarten (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

London, Sommerferien, und die Lehrerin April Harlency, geschieden und einsam, sitzt in ihrer kleinen Wohnung in einem heruntergekommenen Haus und einem ebenso ungepflegten Garten. Sie denkt zurück an einen Sommer ihrer Kindheit und beschließt, den Ort dieses Sommers wieder aufzusuchen: sie fährt nach Stonebridge in Kent. Stück für Stück verliert sie sich in Kindheitserinnerungen, die die Autorin mit der Gegenwart vermengt, und der Leser geht mit April zurück ins Jahr 1953. Eine Zeit, in der im idyllischen Stonebridge Schilder in den Fenstern hingen wie: „Zimmer zu vermieten. Keine Schwarzen. Keine Iren. Keine Haustiere.“
Die ländliche Idylle hat also ihre Schattenseiten. April genießt zunächst die Sonnenseiten, und dazu gehört die Freundschaft mit der eigenwilligen und aufsässigen Ruby. Die Mädchen finden in einem verlassenen Obstgarten einen alten Eisenbahnwaggon, der nun ihr geheimes Nest und ihr Treffpunkt wird. Sehr schnell erkennt April aber die Schattenseiten. Ruby ist vernachlässigt, schlecht ernährt, schlecht angezogen und wird misshandelt. Und auch für April verliert sich der Zauber des Paradieses: sie steht den Übergriffen eines älteren und beliebten Dorfbewohners hilflos gegenüber.
Dieses Nebeneinander von Idylle und Gewalt, von Paradies und tatsächlicher Realität erzählt die Autorin in einer wunderschönen, immer ruhigen Sprache. Es gelingt ihr bewundernswert, immer die Perspektive der 8jährigen April zu wahren, die vieles noch nicht versteht und daher nur in Andeutungen wiedergeben kann. Dadurch hat das Buch auch seine humorvollen, komischen Seiten, aber der Autorin gelingt es mit ihrer einfühlsamen Sprache, immer die Bedrohung der Idylle und der Kindheit vor Augen zu halten. Die Fragilität und Verwundbarkeit der Kindheit wird vor der Folie der sozialen Gegebenheiten der Nachkriegszeit umso deutlicher.
Über allem liegt der melancholische Ton der Erinnerung und die Trauer um Verlust und nicht genutzte Möglichkeiten.
Ein leiser, sprachlich wunderschöner, berührender Roman.

Bewertung vom 03.09.2025
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres (eBook, ePUB)


gut

An der Küste der schottischen Insel Skerry wird ein Kind angespült, und in mir tauchte sofort das schreckliche Bild des 2jährigen kurdischen Flüchtlingskindes auf, das vor Jahren an der türkischen Küste angespült wurde. Das kurdische Kind war tot, das Kind des Romans aber lebt. Ein Fischer findet es, und der Pfarrer bittet Dorothy, sich des Kindes anzunehmen. Dorothy war vor Jahren als Lehrerin in das Dorf gekommen, wo sie aber immer eine Außenseiterin blieb. Das Findelkind ähnelt ihrem im Meer vermissten Sohn Moses, dessen Leiche nie gefunden wurde. Um seinen Tod ranken sich daher bald vielerlei Gerüchte und Schuldzuweisungen, aber auch mythische Vorstellungen von den sog. Wellenkindern der Anderwelt, die Menschenkinder zum Spielen ins Meer locken. Schmerzliche Erinnerungen werden in Dorothy wach, und schließlich ist sie der Auffassung, dass das Meer ihr ihren Sohn als Geschenk zurückgegeben habe: das Meer nimmt und das Meer gibt. Die Geschichte spitzt sich zu, als die wahren Eltern des schiffbrüchigen Kindes gefunden werden.
Der Roman wechselt zwischen zwei Zeitebenen, die deutlich gekennzeichnet sind. Innerhalb dieser Zeitebenen wechseln die Erzählinstanzen, sodass hier kleinräumige Miniaturen entstehen, die zusammen eine dichte Erzählung ergeben. Die Vielschichtigkeit des Erzählens führt jedoch auch zu Wiederholungen, zu unnötigen Redundanzen und auch zu Längen, die bei einer strafferen Handlungsstruktur hätten vermieden werden können. Sehr schön gelingen dagegen die Schilderungen des Lebens in einem eher ärmlichen schottischen Fischerdorf: der Gemischtwarenladen als Umschlagplatz für Klatsch und Tratsch, der wöchentliche karitative Strickclub, die trinkwütigen und prügelnden Familienväter, die allgegenwärtige Armut und das harte Leben der Fischer. Die Autorin bemüht sich sichtlich, die Aktionen der Hauptfiguren psychologisch zu motivieren, was ihr weitgehend glaubwürdig gelingt. Leider bleiben dabei die Nebenfiguren auf der Strecke, denen eine schärfere Konturierung gut getan hätte.
Julia Kelly erzählt eine sehr emotionale Geschichte, in der eine Fülle von menschlichen Abgründen mitspielt. Es geht um Ausgrenzung, um Liebe und Eifersucht, um Missgunst, unerfüllte Hoffnungen, um Vorurteile, Missverständnisse und vor allem: um fehlende bzw. gestörte Kommunikation. Es geht aber auch um Großherzigkeit, um Verzeihung und Empathie. Die Handlung hätte aufgrund des emotionalen Plots durchaus ins Triviale abrutschen können, aber dieses Abrutschen kann die Autorin immer verhindern. Am Ende lösen sich alle Verwicklungen auf, auch alle dramatischen Missverständnisse. Das mag sicher Lesern gefallen, die ein Happy End wünschen. Mir persönlich hätte ein weniger glücklicheres, vielleicht offeneres Ende besser gefallen, aber wie gesagt: Geschmackssache.
Wer für seinen Urlaub einen gefühlvollen, aber nicht kitschigen Roman mit einem Happy-End sucht, ist mit diesem Roman gut beraten.

3,5/5*

Bewertung vom 03.09.2025
Wood, Benjamin

Der Krabbenfischer (MP3-Download)


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:
„Ist man nicht tot, wenn man nicht träumt?“

Thomas Flett, gerade 20 Jahre alt, lebt zusammen mit seiner Mutter in einem abgelegenen irischen Fischerdorf. Er ist Krabbenfischer wie sein Großvater und verantwortlich für den Unterhalt der Familie. Seine tägliche Arbeit ist hart und auch gefährlich durch den Treibsand im Watt, der schon viele Menschen und Pferde das Leben gekostet hat. Thomas fischt noch traditionell mit Pferd und Schleppnetzen, weil ihm das Geld für einen motorisierten Trawler fehlt. Der Autor nimmt sich viel Zeit für die die Beschreibung der täglichen Arbeit und des fast partnerschaftlichen Umfangs mit seinem Pferd. Thomas‘ Leben wird bestimmt durch die Gezeiten, und daher nimmt die Beschreibung der Natur einen großen Raum ein. Es sind wunderschöne, ruhige Bilder, die der Autor seinem Leser bietet: Bilder des Meeres, von Ebbe und Flut und vom Nebel, der die Orientierung erschwert und das Meer und die Landschaften ins Unwirkliche hebt. Diese eindringlichen und dichten Bilder sind es, von denen der Roman lebt.
Trotz der Armut und des entbehrungsreichen Lebens hat Thomas seine Träume. Er liebt die Musik und möchte eines Tages auf der Bühne des örtlichen Pubs stehen und seine Lieder singen. Die Begegnung mit dem Filmregisseur Achesome verstärkt seine Träume, und er erkennt, dass hinter seinem Dorf sich ganz andere Welten öffnen und betreten werden können. Der Traum der großen weiten Welt wird platzen, und Thomas wird auf seine eigene kleine Welt zurückgeworfen werden. Er versinkt jedoch nicht in Resignation, sondern richtet seine Sehnsucht wieder auf seinen Lebensraum und das Musizieren im Pub.
Woods erzählt seine Geschichte in einer bestechend schönen Sprache: ohne jedes Pathos, ohne Effekthascherei, immer leise, immer klar und uneitel – und damit so passend für seine Hauptperson! Sprache und Protagonist passen harmonisch und perfekt zusammen. Wie schön, dass sich der Erzähler mit seiner Stimmführung dem ruhigen Erzählton anpasst!
Fazit: Eine leise und ruhig erzählte Geschichte von Sehnsüchten und Resignation, von Selbstbescheidung und von Träumen.

4,5/5*

Bewertung vom 15.08.2025
Hope, Anna

Wo wir uns treffen (eBook, ePUB)


gut

Das Cover zeigt einen bestechend schönen englischen Landsitz, und schon weiß man als Leser, dass es in diesem Roman um eine Familiengeschichte geht, um Reichtum, um Traditionen, Geschichte und auch um Standesbewusstsein.
Auf diesem Landsitz treffen sich die drei Kinder des verstorbenen Patriarchen. Ihr Treffen dient nicht nur der Totenfeier, sondern in erster Linie der Aufarbeitung ihrer konfliktreichen Vergangenheit. Zwei der Geschwister werden dabei zu Gegenspielern: Frannie und Milo. Frannie ist Alleinerbin des Anwesens und der riesigen Ländereien. Sie denkt ökologisch und will das Land renaturieren, um auch den folgenden Generationen ein Leben in einer weitgehend intakten Natur zu ermöglichen. Ihr Bruder Milo dagegen denkt wirtschaftlich: er will neben dem Herrenhaus eine Art Klinik bauen, in der mit psychedelischen Rauschzuständen ein elitäres Klientel behandelt werden soll. Ein „Freizeitpark für solvente Fünfzigplusler“.
Die Konflikte der Geschwister bleiben jedoch blass und oberflächlich. Vermutlich sollten sie durch das Aufdecken eines alten Geheimnisses und einer alten Schuld befeuert werden? Das gelingt jedoch nicht. Die Konflikte werden nicht in der Tiefe ausgelotet, und das alte Geheimnis bringt auch keine neuen Tatsachen ans Licht, sondern besteht lediglich aus bekannten Fakten aus der kolonialen Vergangenheit des Landes. Die Fakten sind bekannt und zudem sehr gut dokumentiert, allerdings stellt sich der britische Großgrundbesitz diesen Fakten mit unterschiedlicher Intensität. Es gelingt der Autorin nicht, diese historischen Tatsachen mit den Geschwister- und sonstigen Konflikten zu einem spannenden und emotional packenden Familienroman zu verflechten.
Dazu tragen auch die oft klischeehaften und rührseligen Szenen bei, die keine Konfliktlösungen bringen. Die Emotionalisierung des Lesers ist der Autorin sichtlich ein besonderes Anliegen, aber sie gibt sich mit Rührseligkeit zufrieden und schafft damit keine emotionale Tiefe, die der Plot jedoch hergegeben hätte. Immer wieder rutscht sie in Trivialität und Kitsch ab, wenn sie z. B. die Braut „die uralte Kirche“ betreten lässt, um „mit ihrem Schicksal vermählt zu werden“, um dann in den „Fluss der Zeit zu tauchen und sich damit zu salben“. Umso erstaunlicher ist es, dass in diesem Roman das Wort „Sch...“ in fast jedermanns Mund ist.
Fazit: Wer einen gefühlvollen Familienroman lesen will und sich von den obigen Mängeln nicht abschrecken lässt, der ist mit diesem Roman gut beraten.

Bewertung vom 04.08.2025
Graham, Caroline

Inspector Barnaby und das Rätsel von Badger's Drift


ausgezeichnet

Badger’s Drift ist ein beschaulicher kleiner Ort auf dem Lande mit dem „Inventar“, das der Leser erwartet: romantische Cottages, ein Herrenhaus, schrullige, aber selbstbewusste alte Damen, ein exzentrischer Maler, Jagdgesellschaften, Teekränzchen, natürlich ein Pub und ein Frauenclub, und auf der Polizeistation arbeitet man noch mit Karteikarten und Hängeregistraturen.Die Damen tragen Hüte mit blumigen Dekor und besuchen Ikebana-Kurse – kurz: die Welt ist in Ordnung. In diese Idylle platzt ein Mord, dem weitere folgen werden, und Inspector Barnaby nimmt seine Ermittlungen auf.
Barnaby ist ein ruhiger Ermittler, der seine Frau und seinen Garten liebt, ein humorvoller Familienmensch. Aber er beobachtet sehr genau und achtet auf seine Intuition. Ihm zur Seite steht der Jungspund Troy, der im Gegensatz zu Barnaby oft vorschnell urteilt. Der Gegensatz dieser beiden Figuren führt zu einigen komischen Situationen, in denen der Leser sich über den sprichwörtlichen britischen Humor der Autorin amüsieren kann.
Schicht für Schicht legt Barnaby die dunklen Seiten der Dorfbewohner frei. Mit Barnaby zusammen sucht auch der Leser nach dem Bösewicht, die Spannung nimmt kontinuierlich zu, aber immer wieder werden Barnaby und sein Leser auf eine falsche Fährte gelockt. Schließlich richtet sich der Fokus immer deutlicher auf eine Figur, aber auch da gelingt der Autorin kurz vor Schluss eine unerwartete Volte, die den Leser überrascht.
Fazit: Ein spannender Cosy-Krimi, der vor allem durch seine Ermittlerfigur besticht.
5

Bewertung vom 02.08.2025
Macfarlane, Robert

Sind Flüsse Lebewesen?


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:

Macfarlanes Bücher bieten immer einen gewaltigen Denkanstoß, die gewohnte Welt um einen herum anders zu betrachten. Ich habe „Berge im Kopf“, „Alte Wege“ und „Im Unterland“ von ihm gelesen, und jedes Mal hat sich meine Sichtweise geändert. Das bisher scheinbar Vertraute erhält eine Eigenbedeutung, die über die gewohnte Betrachtung hinausgeht. Natur ist für Macfarlane vom Wesen her mehr als eine Staffage des menschlichen Lebens, und ihre Bedeutung erschöpft sich nicht im Gesehen-Werden. Auch in seinem neuen Buch legt Macfarlane seine Gedanken dar mit dem Ziel, dass der Leser sein Verhältnis zur Natur überdenkt.
Die Ausgangsfrage ist provokant: Ist ein Fluss ein Lebewesen? Und hat er daher seine eigenen Rechte? Tatsächlich erkennen einige Staaten wie z. B. Neuseeland und Ecuador einigen Flüssen in ihrer Verfassung die Qualität eines juristischen Subjekts zu.
Damit ändert sich das Verhältnis des Menschen zum Fluss grundsätzlich. Der Fluss ist nun nicht mehr nur ein Wasserlauf, der unter dem Aspekt der Bewirtschaftung missbraucht werden darf. Jeder Wasserlauf hat „komplexe soziale und metaphysische Bedeutungen“, und jeder Wasserlauf ist ein lebendiges Wesen. Daher sieht Macfarlane eine große Verantwortung des Menschen, für diesen Mitbewohner unserer gemeinsamen Erde Sorge zu tragen.
Macfarlane bereist verschiedene Flüsse auf verschiedenen Kontinenten: den bedrohten Zedernfluss im Nebelwald Ecuadors, dann die bereits toten Flüsse von Chennai in Indien und einen lebenden Fluss in Kanada. Immer spürt er ihrer jeweiligen Besonderheit nach. Dabei schildert er auch die indigenen Auffassungen, die unserem westlichen Nützlichkeitsdenken entgegenstehen. Hier verliert sich der Autor gelegentlich in eigenen esoterischen Sichtweisen, denen ich nicht immer folgen konnte.
Seine Reisebeschreibungen sind spannend zu lesen, v. a. die Beschreibung der überaus abenteuerlichen Fahrt auf dem Mutehekau Shipu, dem ersten als lebendes Wesen anerkannten Fluss Kanadas. Macfarlane erzählt so bildstark und packend von der Fahrt über rasante und gefährliche Stromschnellen, dass man ihm es einerseits natürlich gönnt, die Reise heil überstanden zu haben, aber andererseits das Ende dieser Reisebeschreibung bedauert.
Macfarlanes Erzählweise muss man mögen. Er erzählt nicht immer linear, sondern schweift ab. Jede seiner Abschweifungen aber enthält faszinierende Gedanken aus der Philosophie, den Naturwissenschaften und der Literatur, die den Blick des Lesers erweitern und ihm die Schönheiten der Natur auf tiefere Weise zugänglich machen.

Fazit: Spannend, vielfältig, gedankenreich!
4,5 /5*

Bewertung vom 31.07.2025
Gardam, Jane

Tage auf dem Land


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:
Wie so oft in Jane Gardams Romanen, darf der Leser auch hier keinen spannenden Plot erwarten. Stattdessen bietet die Autorin eine genaue Beobachtung ihrer Figuren, die sie mit klarem Blick und unterkühltem Humor begleitet.
Marigold Green ist 17 Jahre alt, und ihre Sicht der Dinge bestimmt den Roman. Marigold wächst mutterlos auf, und ihr schweigsamer Vater bietet ihr wenig Abwechslung, von abendlichen Schachpartien abgesehen. Da ihr Vater als Erzieher in einem Jungen-Internat lebt, sind auch Marigolds soziale Kontakte auf ein Minimum beschränkt, was sie jedoch nicht stört, da sie es nicht anders kennt. Lebendigkeit und mütterliche Wärme bringt die junge Paula, die Hausmutter, in ihr Leben: eine erfrischend unkomplizierte und zupackende junge Frau, die keinerlei Selbstmitleid bei sich und ihren Schützlingen zulässt und sich liebevoll und resolut um deren Belange kümmert. Eine liebenswerte Figur!
Der Roman wahrt konsequent Marigolds Perspektive, und so gelingen der Autorin ausgesprochen skurrile, aber liebevolle Szenen, wenn sie Marigold z. B. die abendliche Donnerstagsrunde ihres Vaters beschreiben lässt. Nach Marigolds Ansicht treffen sich hier uralte Männer, die immer wieder vom Krieg erzählen und manchmal den Überblick verlieren, welcher Krieg eigentlich gemeint ist.
Marigolds Weltsicht ist die eines jungen Mädchens in der Pubertät, und diese Sicht gibt Jane Gardam gewohnt ziseliert und differenziert wieder. Das Auftauchen der Freundin Grace, die wie eine Lichtgestalt aus frühen Tagen in Marigolds eher graue Welt eintritt, erste Ausflüge in die Welt der Mode, die ersten Verliebtheiten – in Marigold entwickeln sich neue Gefühle und neue Welten öffnen sich.
Aber sie wird auch mit Enttäuschungen und Desillusionierung konfrontiert. Und genau dafür steht der Titel „Tage auf dem Land“. Eine Einladung zu einem Wochenende auf dem Land lässt in Marigold große Hoffnungen aufkommen auf ein zärtlich-erotisches Miteinander und auf Informationen zu ihrer Mutter. Stattdessen erlebt sie ein Haus in einer Vorortsiedlung, eine feucht-fröhliche Party, Isolation und Desinteresse an ihrer Person: eine Desillusionierung in mehrfacher Hinsicht.
Das alles packt die Autorin in einen situativen Rahmen, der sich erst am Ende des Romans als tröstlicher Ausblick auf Marigolds Leben erweist.
Ein subtiler Roman über Pubertät, über erste Sehnsüchte, über Freundschaften und Enttäuschungen.

Bewertung vom 30.07.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk (MP3-Download)


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:
Die Ausgangssituation des kleinen Romans ist eher absurd. Der deutsche Bundeskanzler unterzeichnet ein Gesetz, das die Einfuhr von afrikanischen Jagdtrophäen wie Elfenbein verbietet, woraufhin der Präsident von Botswana kurzerhand 20.000 Elefanten nach Berlin verschickt: ein Geschenk. Ein Geschenk mit Hintersinn. Durch das Gesetz werden in Botswana keine Elefanten mehr abgeschossen, die Population gerät außer Kontrolle, die Elefanten fressen die Ernte, die Bevölkerung hungert.
In Berlin kommt es durch das unerwartete Geschenk zu einer Krise, mit der sich das neu gegründete Ministerium für Elefantenangelegenheiten befassen muss. Verkehrsprobleme, Unterbringung, Ernährung, Verteilung der Herden auf die Bundesländer, Verwertung des Dungs, die explosive Vermehrung invasiver Pflanzenarten durch die Losung der Tiere und vieles mehr. Der Unmut der Bevölkerung wächst zusehends, was wiederum zu einem Anwachsen der politischen Rechten führt. Der Druck auf das Elefantenministerium und damit auch auf den Bundeskanzler wächst, da hilft auch die wirtschaftliche Verwertung des Elefantendungs nicht. Im Gegenteil.
Um was geht es? Die Autorin schlägt verschiedene Themen an, die sie miteinander verbindet. Zuallererst geht es um postkoloniale Probleme, die de Autorin offensichtlich am Herzen liegen. „Ihr Europäer wollt uns vorschreiben, wie wir zu leben haben“, sagt der Präsident von Botswana, wenn er die Auswirkungen eines europäischen Gesetzes auf eine ehemalige Kolonie beschreibt.
Daneben geht es aber auch um den machtpolitischen Umgang mit der neuen krisenhaften Situation. Der Bundeskanzler entwickelt zwar kurzfristig die Vision einer „grünen“ Alternative zur jetzigen Politik des ungehinderten wirtschaftlichen Wachstums, aber er bezweifelt den Rückhalt in der Bevölkerung und entscheidet sich für sein eigenes politisches Überleben.
Mit den Elefanten gelingt der Autorin ein sehr vielschichtiges Bild, das jeder Leser unterschiedlich auflösen kann. Mit dem sprichwörtlichen Zitat „Wir schaffen das“ wird jedem Leser wie mit dem Holzhammer klar gemacht, dass die Probleme rund um die Migration gemeint sind. Ebenso geht es um die Verantwortung der europäischen Staaten im postkolonialen, globalen Sinn.
Schoeters setzt bewusst komische Situationen ein, um ihre satirische Absicht zu unterstreichen. Sie bekommt aber immer wieder, wenn auch gelegentlich recht knapp, die Kurve und driftet niemals in einen platten Humor oder Slapstick ab. Ihre Sprache ist so einfach und transparent, was durch die klare Stimme des Sprechers perfekt verstärkt wird. Damit fällt es dem Leser leicht, die Denkanstöße der Autorin aufzunehmen und ihre Gedanken fortzuführen. Sie bietet keine Urteile an, die überlässt sie dem Leser, was mir das Buch sympathisch macht.