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dracoma
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LANDAU

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Insgesamt 221 Bewertungen
Bewertung vom 04.08.2025
Graham, Caroline

Inspector Barnaby und das Rätsel von Badger's Drift


ausgezeichnet

Badger’s Drift ist ein beschaulicher kleiner Ort auf dem Lande mit dem „Inventar“, das der Leser erwartet: romantische Cottages, ein Herrenhaus, schrullige, aber selbstbewusste alte Damen, ein exzentrischer Maler, Jagdgesellschaften, Teekränzchen, natürlich ein Pub und ein Frauenclub, und auf der Polizeistation arbeitet man noch mit Karteikarten und Hängeregistraturen.Die Damen tragen Hüte mit blumigen Dekor und besuchen Ikebana-Kurse – kurz: die Welt ist in Ordnung. In diese Idylle platzt ein Mord, dem weitere folgen werden, und Inspector Barnaby nimmt seine Ermittlungen auf.
Barnaby ist ein ruhiger Ermittler, der seine Frau und seinen Garten liebt, ein humorvoller Familienmensch. Aber er beobachtet sehr genau und achtet auf seine Intuition. Ihm zur Seite steht der Jungspund Troy, der im Gegensatz zu Barnaby oft vorschnell urteilt. Der Gegensatz dieser beiden Figuren führt zu einigen komischen Situationen, in denen der Leser sich über den sprichwörtlichen britischen Humor der Autorin amüsieren kann.
Schicht für Schicht legt Barnaby die dunklen Seiten der Dorfbewohner frei. Mit Barnaby zusammen sucht auch der Leser nach dem Bösewicht, die Spannung nimmt kontinuierlich zu, aber immer wieder werden Barnaby und sein Leser auf eine falsche Fährte gelockt. Schließlich richtet sich der Fokus immer deutlicher auf eine Figur, aber auch da gelingt der Autorin kurz vor Schluss eine unerwartete Volte, die den Leser überrascht.
Fazit: Ein spannender Cosy-Krimi, der vor allem durch seine Ermittlerfigur besticht.
5

Bewertung vom 02.08.2025
Macfarlane, Robert

Sind Flüsse Lebewesen?


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:

Macfarlanes Bücher bieten immer einen gewaltigen Denkanstoß, die gewohnte Welt um einen herum anders zu betrachten. Ich habe „Berge im Kopf“, „Alte Wege“ und „Im Unterland“ von ihm gelesen, und jedes Mal hat sich meine Sichtweise geändert. Das bisher scheinbar Vertraute erhält eine Eigenbedeutung, die über die gewohnte Betrachtung hinausgeht. Natur ist für Macfarlane vom Wesen her mehr als eine Staffage des menschlichen Lebens, und ihre Bedeutung erschöpft sich nicht im Gesehen-Werden. Auch in seinem neuen Buch legt Macfarlane seine Gedanken dar mit dem Ziel, dass der Leser sein Verhältnis zur Natur überdenkt.
Die Ausgangsfrage ist provokant: Ist ein Fluss ein Lebewesen? Und hat er daher seine eigenen Rechte? Tatsächlich erkennen einige Staaten wie z. B. Neuseeland und Ecuador einigen Flüssen in ihrer Verfassung die Qualität eines juristischen Subjekts zu.
Damit ändert sich das Verhältnis des Menschen zum Fluss grundsätzlich. Der Fluss ist nun nicht mehr nur ein Wasserlauf, der unter dem Aspekt der Bewirtschaftung missbraucht werden darf. Jeder Wasserlauf hat „komplexe soziale und metaphysische Bedeutungen“, und jeder Wasserlauf ist ein lebendiges Wesen. Daher sieht Macfarlane eine große Verantwortung des Menschen, für diesen Mitbewohner unserer gemeinsamen Erde Sorge zu tragen.
Macfarlane bereist verschiedene Flüsse auf verschiedenen Kontinenten: den bedrohten Zedernfluss im Nebelwald Ecuadors, dann die bereits toten Flüsse von Chennai in Indien und einen lebenden Fluss in Kanada. Immer spürt er ihrer jeweiligen Besonderheit nach. Dabei schildert er auch die indigenen Auffassungen, die unserem westlichen Nützlichkeitsdenken entgegenstehen. Hier verliert sich der Autor gelegentlich in eigenen esoterischen Sichtweisen, denen ich nicht immer folgen konnte.
Seine Reisebeschreibungen sind spannend zu lesen, v. a. die Beschreibung der überaus abenteuerlichen Fahrt auf dem Mutehekau Shipu, dem ersten als lebendes Wesen anerkannten Fluss Kanadas. Macfarlane erzählt so bildstark und packend von der Fahrt über rasante und gefährliche Stromschnellen, dass man ihm es einerseits natürlich gönnt, die Reise heil überstanden zu haben, aber andererseits das Ende dieser Reisebeschreibung bedauert.
Macfarlanes Erzählweise muss man mögen. Er erzählt nicht immer linear, sondern schweift ab. Jede seiner Abschweifungen aber enthält faszinierende Gedanken aus der Philosophie, den Naturwissenschaften und der Literatur, die den Blick des Lesers erweitern und ihm die Schönheiten der Natur auf tiefere Weise zugänglich machen.

Fazit: Spannend, vielfältig, gedankenreich!
4,5 /5*

Bewertung vom 31.07.2025
Gardam, Jane

Tage auf dem Land


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:
Wie so oft in Jane Gardams Romanen, darf der Leser auch hier keinen spannenden Plot erwarten. Stattdessen bietet die Autorin eine genaue Beobachtung ihrer Figuren, die sie mit klarem Blick und unterkühltem Humor begleitet.
Marigold Green ist 17 Jahre alt, und ihre Sicht der Dinge bestimmt den Roman. Marigold wächst mutterlos auf, und ihr schweigsamer Vater bietet ihr wenig Abwechslung, von abendlichen Schachpartien abgesehen. Da ihr Vater als Erzieher in einem Jungen-Internat lebt, sind auch Marigolds soziale Kontakte auf ein Minimum beschränkt, was sie jedoch nicht stört, da sie es nicht anders kennt. Lebendigkeit und mütterliche Wärme bringt die junge Paula, die Hausmutter, in ihr Leben: eine erfrischend unkomplizierte und zupackende junge Frau, die keinerlei Selbstmitleid bei sich und ihren Schützlingen zulässt und sich liebevoll und resolut um deren Belange kümmert. Eine liebenswerte Figur!
Der Roman wahrt konsequent Marigolds Perspektive, und so gelingen der Autorin ausgesprochen skurrile, aber liebevolle Szenen, wenn sie Marigold z. B. die abendliche Donnerstagsrunde ihres Vaters beschreiben lässt. Nach Marigolds Ansicht treffen sich hier uralte Männer, die immer wieder vom Krieg erzählen und manchmal den Überblick verlieren, welcher Krieg eigentlich gemeint ist.
Marigolds Weltsicht ist die eines jungen Mädchens in der Pubertät, und diese Sicht gibt Jane Gardam gewohnt ziseliert und differenziert wieder. Das Auftauchen der Freundin Grace, die wie eine Lichtgestalt aus frühen Tagen in Marigolds eher graue Welt eintritt, erste Ausflüge in die Welt der Mode, die ersten Verliebtheiten – in Marigold entwickeln sich neue Gefühle und neue Welten öffnen sich.
Aber sie wird auch mit Enttäuschungen und Desillusionierung konfrontiert. Und genau dafür steht der Titel „Tage auf dem Land“. Eine Einladung zu einem Wochenende auf dem Land lässt in Marigold große Hoffnungen aufkommen auf ein zärtlich-erotisches Miteinander und auf Informationen zu ihrer Mutter. Stattdessen erlebt sie ein Haus in einer Vorortsiedlung, eine feucht-fröhliche Party, Isolation und Desinteresse an ihrer Person: eine Desillusionierung in mehrfacher Hinsicht.
Das alles packt die Autorin in einen situativen Rahmen, der sich erst am Ende des Romans als tröstlicher Ausblick auf Marigolds Leben erweist.
Ein subtiler Roman über Pubertät, über erste Sehnsüchte, über Freundschaften und Enttäuschungen.

Bewertung vom 30.07.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk (MP3-Download)


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:
Die Ausgangssituation des kleinen Romans ist eher absurd. Der deutsche Bundeskanzler unterzeichnet ein Gesetz, das die Einfuhr von afrikanischen Jagdtrophäen wie Elfenbein verbietet, woraufhin der Präsident von Botswana kurzerhand 20.000 Elefanten nach Berlin verschickt: ein Geschenk. Ein Geschenk mit Hintersinn. Durch das Gesetz werden in Botswana keine Elefanten mehr abgeschossen, die Population gerät außer Kontrolle, die Elefanten fressen die Ernte, die Bevölkerung hungert.
In Berlin kommt es durch das unerwartete Geschenk zu einer Krise, mit der sich das neu gegründete Ministerium für Elefantenangelegenheiten befassen muss. Verkehrsprobleme, Unterbringung, Ernährung, Verteilung der Herden auf die Bundesländer, Verwertung des Dungs, die explosive Vermehrung invasiver Pflanzenarten durch die Losung der Tiere und vieles mehr. Der Unmut der Bevölkerung wächst zusehends, was wiederum zu einem Anwachsen der politischen Rechten führt. Der Druck auf das Elefantenministerium und damit auch auf den Bundeskanzler wächst, da hilft auch die wirtschaftliche Verwertung des Elefantendungs nicht. Im Gegenteil.
Um was geht es? Die Autorin schlägt verschiedene Themen an, die sie miteinander verbindet. Zuallererst geht es um postkoloniale Probleme, die de Autorin offensichtlich am Herzen liegen. „Ihr Europäer wollt uns vorschreiben, wie wir zu leben haben“, sagt der Präsident von Botswana, wenn er die Auswirkungen eines europäischen Gesetzes auf eine ehemalige Kolonie beschreibt.
Daneben geht es aber auch um den machtpolitischen Umgang mit der neuen krisenhaften Situation. Der Bundeskanzler entwickelt zwar kurzfristig die Vision einer „grünen“ Alternative zur jetzigen Politik des ungehinderten wirtschaftlichen Wachstums, aber er bezweifelt den Rückhalt in der Bevölkerung und entscheidet sich für sein eigenes politisches Überleben.
Mit den Elefanten gelingt der Autorin ein sehr vielschichtiges Bild, das jeder Leser unterschiedlich auflösen kann. Mit dem sprichwörtlichen Zitat „Wir schaffen das“ wird jedem Leser wie mit dem Holzhammer klar gemacht, dass die Probleme rund um die Migration gemeint sind. Ebenso geht es um die Verantwortung der europäischen Staaten im postkolonialen, globalen Sinn.
Schoeters setzt bewusst komische Situationen ein, um ihre satirische Absicht zu unterstreichen. Sie bekommt aber immer wieder, wenn auch gelegentlich recht knapp, die Kurve und driftet niemals in einen platten Humor oder Slapstick ab. Ihre Sprache ist so einfach und transparent, was durch die klare Stimme des Sprechers perfekt verstärkt wird. Damit fällt es dem Leser leicht, die Denkanstöße der Autorin aufzunehmen und ihre Gedanken fortzuführen. Sie bietet keine Urteile an, die überlässt sie dem Leser, was mir das Buch sympathisch macht.

Bewertung vom 17.07.2025
Pötzsch, Oliver

Der Totengräber und die Pratermorde / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.4 (MP3-Download)


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:
Oliver Pötzsch lässt das historische Wien um die Jahrhundertwende wieder auferstehen. Ein großes gesellschaftliches Ereignis steht an: der traditionelle Blumenkorso im Prater, an dem Kaiser und Kaiserin samt Hochadel und sogar der deutsche Kaiser teilnehmen. Da geschieht im Ronacher-Theater ein Mord auf offener Bühne: ein berühmter Zauberkünstler zersägt seine Assistentin. Weitere Morde im Prater sorgen für Unruhe. Die Polizei hat aber wegen des Blumenkorsos kaum Kapazitäten frei, sodass Leopold v. Herzfeld mit nur wenigen Kollegen die Ermittlungen aufnimmt.
Der Autor entfaltet nun auf dieser Basis eine opulente Geschichte, bunt und schillernd wie der Prater und die Artisten, auf die Herzfeld bei seinen Ermittlungen trifft. Alles ist vertreten: vom ehrwürdigen Zirkusdirektor angefangen bis hin zu zwielichtigen und teilweise unheimlichen Gestalten der Halbwelt, die im Dunkeln herumstrolchen. Oliver Pötzsch erzählt seine verwickelte Geschichte mit einer überbordenden Fabulierlust und mit großer Freude am Detail. Dafür nimmt er gelegentliche Unglaubwürdigkeiten gerne in Kauf. Der Ermittler tappt lange im Dunkeln, während der Leser bereits ein wenig mehr weiß, was aber noch lange nicht heißt, dass der Leser auf der richtigen Spur ist. Der Autor spielt nicht nur mit dem riesigen Figurenensemble, sondern auch mit den Erwartungen des Lesers.
Der Roman ist der 4. Band einer Serie, aber er lässt sich problemlos isoliert lesen. Ich hatte keinerlei Verständnisschwierigkeiten.
Der Sprecher Hans-Jürgen Stockerl macht das Hören zu einem großen Vergnügen. Er beherrscht souverän verschiedene Dialekte und Sprachfärbungen und macht seinen Vortrag damit authentisch und ungemein lebendig.

Bewertung vom 15.07.2025
Haffner, Sebastian

Abschied (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

1932. Ein junger Mann, Rechtsreferendar in Rheinsberg, besucht seine Freundin Teddy, die in Paris studiert. Der junge Mann trägt den Namen des Autors, bevor der sich im Exil in Sebastian Haffner umbenannte. Mit diesem Namen verbindet man eher seriöse historische Reflexionen als einen Roman, aber auch dieser Roman ist keine Fiktion, sondern eine Erinnerung an Jugendtage.
Der Roman beschreibt den letzten Tag Haffners, damals noch Raimund Pretzel, mit seiner Freundin in Paris, und damit ist der Plot schon erzählt. Es ist weniger die konkrete Handlung, die den Roman lesenswert macht, sondern die Stimmung, die aus ihm spricht. Raimund ist verliebt, unsterblich verliebt, und diese Liebe spricht aus jeder Zeile. Er leidet unter einem vermuteten Missverständnis, er wird eifersüchtig auf die Freunde, die Teddy umschwirren, und er beschwört schwärmerisch und fast atemlos seine Liebe. Haffner erzählt von ethnischer Vielfalt und Weltoffenheit, Toleranz und das verbindende Interesse dieser jungen lebensfrohen Menschen für zeitgenössische Kunst und Literatur.
Zugleich merkt man als Leser aber die große Wehmut, die immer wieder durchleuchtet. Die kommenden Ereignisse in Deutschland werfen ihre kleinen Schatten voraus. Raimund weiß, dass er seine Freundin nicht mehr wiedersehen wird. Sie wird nicht mehr nach Berlin zurückkehren können, und auch ohne Volker Weidermanns begeistertes Nachwort erkennt man, dass sie Jüdin ist und ihre Heimat für sie unerreichbar geworden ist. Hellsichtig erkennt Raimund zudem den drohenden Krieg, auch wenn er eher spielerisch von einigen Figuren in einem Nebensatz thematisiert wird. Den ganzen Text durchzieht daher einerseits die pralle Lebensfreude dieser jungen Menschen, aber andererseits das Bewusstsein, dass diese weltzugewandte liberale Lebensform bald ihr Ende finden wird. Und so erhält der Titel „Abschied“ einen doppelten Sinn, der in seiner Melancholie über das Persönliche hinausgeht.

Bewertung vom 01.07.2025
Atkinson, Kate

Nacht über Soho (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Die Königin der Nacht
Kate Atkinson versetzt uns in das Nachkriegslondon der 20er Jahre, die Roaring Twenties. Auf der einen Seite herrschen Überfluss und dekadente Lebensfreude, wie sie uns anhand einer bizarren Party der ebenso bizarren Bright Young Things erzählt wird. Auf der anderen Seite sehen wir bittere Armut und verzweifelte Anstrengungen, der Verelendung zu entfliehen. Der Leser trifft auf eine Fülle von Personen, deren Wege und vor allem deren Interessen sich kreuzen. Im Zentrum steht Nellie Coker, die Königin der Nacht, die mit ihren diversen Clubs das Londoner Nachtleben beherrscht und ihre Position mit allen Mitteln behaupten will. In ihren Clubs tanzen junge Mädchen aus der Provinz, die in London ihr Glück suchen, aber einige von ihnen werden tot aus der Themse gezogen. Hier tritt nun Inspector Frobisher auf, der diese Mord- und Vermisstenfälle bearbeitet und damit in das Fadenkreuz Nellies gerät – und mit seiner Kampagne gegen korrupte Polizisten bedroht er zusätzlich ihr Imperium. Um sie herum gruppiert die Autorin einen Figurenreigen, wie er bunter kaum sein könnte: Gangster aller Couleur, Mädchenhändler, Taschendiebinnen, rivalisierende Gangs, Möchte-Gern-Künstler, Ballettmädchen, Zuhältern und so fort – sie alle sind miteinander verknüpft durch Intrigen, Korruption und Machtkämpfe. So entsteht ein atmosphärisch dichtes Bild der Zeit. Trotz der Figurenfülle behält man als Leser den Überblick, weil die Autorin jeder Figur mit nur wenigen Strichen ihre unverwechselbare Eigenart verleiht. Durch diese opulente Figurengestaltung habe ich den Roman weniger als Krimi – dazu fehlt ihm auch etwas Spannung -, sondern eher als Zeitroman gelesen.
Für ein besonderes Lesevergnügen sorgt die Sprache der Autorin. Es ist nicht nur ihre scharfkantige Art, den Figuren Individualität zu verleihen, sondern es ist vor allem der ironische, unterkühlte Humor, der mit seinen Anspielungen und unverhofften Wendungen für Lesefreude sorgt.
4,5/5*

Bewertung vom 17.06.2025
Maraini, Dacia

Ein halber Löffel Reis


ausgezeichnet

Mit 89 Jahren blickt Dacia Maraini zurück auf die Zeit ihrer Kindheit, die sie mit ihrer Familie in einem japanischen KZ verbringen musste. Dacia Maraini wuchs zusammen mit zwei jüngeren Schwestern in Japan auf. Ihr Vater Fosco war Anthropologe und unterrichtete an der Universität Kioto, und ihre Mutter Topazia stammte aus einer adeligen sizilianischen Familie, eine stolze Frau, ein kritischer Geist wie ihr Vater, liberal und zutiefst demokratisch eingestellt. Die Familie ist tief eingebunden in die japanische Kultur, Dacia selber empfindet sich als Japanerin.
Die Familie gerät durch den sog. Dreimächtepakt zwischen Japan und den faschistischen Ländern Italien und Deutschland in die Mühlen der internationalen Politik. Die japanischen Behörden fordern ein Bekenntnis zum Regime Mussolinis, das die Eltern verweigern, sodass sie als Vaterlandsverräter in einem KZ interniert werden.
Die Familie und 13 andere Internierte durchlaufen eine harte Zeit. Die japanischen Bewacher werden als grausam erlebt. Da Kinder nicht vorgesehen sind, muss jeder Erwachsene von seiner kargen Ration „Einen halben Löffel Reis“ für die drei Kinder abgeben. Das Leben ist gekennzeichnet durch bitteren Hunger, Kälte, Schlafmangel, Mangelkrankheiten wie Beriberi und Skorbut, Durchfälle und die ständig präsente Bedrohung mit dem Tod. Die anfänglich noch vorhandene Solidarisierung untereinander verschwindet mit dem zunehmend unerträglicher werdenden Leben und macht einem verzweifelten Egoismus Platz.
Die Autorin unterbricht ihre Beobachtungen immer wieder mit Ausführungen zum System der Konzentrationslager, zur Musik, zur japanischen Kultur, zur Philosophie u. a. Ihre Ausführungen zu Nazi-Deutschland und zu den Leugnern sind für den deutschen Leser eher überflüssig, aber sie zeigen den weiten Blick der Autorin und ihr Engagement.

Mich hat die Art und Weise, wie Dacia Maraini diese harte Zeit beschreibt, sehr beeindruckt. Sie drängt ihren Leser nicht in die Rolle des Voyeurs, der die Misshandlungen miterleben muss. Sie klagt nicht an, fordert keine Entschuldigung und lamentiert nicht, sondern sie blickt einfach nur zurück und berichtet. Ihr Ton ist versöhnlich, und ihre große Liebe zu Japan, dem Land ihrer Kindheit, ist immer zu spüren. Daneben ist es die tiefe Liebe zu ihrer Familie und innerhalb ihrer Familie, die sie durch diese Zeit getragen hat. Und noch eines macht die Lektüre dieses Buches so lohnend: ihr Credo zu Europa als Staatengebilde.

4,5

Bewertung vom 14.06.2025
Behm, Martina

Hier draußen (MP3-Download)


ausgezeichnet

„Leben in einem geplatzten Traum“
Eine junge Familie zieht aufs Land, voll mit naiven Vorstellungen über das glückliche, weil entschleunigte Leben auf dem Lande. Ein Wildunfall bringt Bewegung in die Geschichte. Ingo, der Familienvater, hat nämlich eine weiße Hirschkuh auf den Kühler genommen. Weiße Hirschkühe sind selten und daher mit allerhand mythisch-religiösen Vorstellungen behaftet. Hier ist es der Aberglaube, dass der Tod einer weißen Hirschkuh den Tod des Verursachers zwingend nach sich zieht.
Das sind die Grundlagen, auf denen der Roman aufbaut und von denen aus nun der Leser in das Dorfleben eintaucht. Die Autorin stellt uns einige der Bewohner vor, deren Beziehungen untereinander sie genau beobachtet. Dabei wird die Idee eines idyllischen Landlebens demontiert. Tradierte Rollenbilder kommen zum Vorschein, die mit zeitgenössischen Lebensentwürfen zusammenprallen; private Enttäuschungen, Probleme bei der Hofübergabe, Überarbeitung, Verschuldung durch Modernisierung, der Zwang zur Neu-Ausrichtung des Betriebes, Zuzug aus der Stadt – all das führt uns die Autorin in dem Mikrokosmos des Dorfes vor.
Auf der anderen Seite baut die Autorin wiederum eine Idylle auf, wenn sie vom starken Gemeinschaftsgefühl und der gegenseitigen Verantwortlichkeit und Hilfeleistung erzählt. Die Gemeinschaft zeigt sich unter anderem in einer Fülle von Festen, die das Dorf überziehen. Das Dorf hangelt sich von Fest zu Fest, und man wundert sich, dass ein so kleines Dorf mit nur 200 Seelen dafür hinreichend Publikum bietet: Altenweihnacht, Kindervogelschießen, Feuerwehrfest, Sommerball, Skat- und Pokerabende, runde Geburtstage, Hochzeiten, und immer backen die Frauen Kuchen und machen Salate, und es wird fleißig Schnaps bis zum Umfallen getrunken.
Die Handlung plätschert freundlich dahin. Der Leser schaut mal bei Ingo und Lara vorbei, die in ihrem zu großen und zu teuren Haus frieren und sich zunehmend entfremden, dann schaut er in die Wohnküche des jähzornigen Enno und seiner Tove, dann besucht er die Reste einer Aussteiger-WG, dann begleitet er Uwe auf seinem Waldgang, um dann wieder einen langen Blick in die Wohnküche Ennos und Toves zu werfen, wobei dieselben Probleme vor dem Leser erneut ausgebreitet werden. Die Wiederholungen und vor allem die häufigen Paraphrasierungen machen die Probleme nicht deutlicher, sie machen die Handlung nur langatmiger. Der Aberglaube, immerhin der Ausgangspunkt der Handlung, taucht ab und an in Gesprächen auf, aber er entwickelt sich nicht zu einer dynamischen Handlungskette. Sicher: es geschehen einige Unglücksfälle, aber es handelt sich um Ereignisse, wie sie das dörflich-bäuerliche Leben eben so mit sich bringt.
Martina Behm kann gut erzählen, unbestrittten. Sie hat einen guten Blick für ihre Charaktere, auch wenn sie gelegentlich scharf am Klischee vorbeischrammt.
Julia Nachtmann, die Sprecherin, liest das Buch hervorragend ein. Eine klare Stimme, sehr schöne unaufdringliche Akzentuierungen – ihr Vorlesen hat einen zusätzlichen Stern verdient!

Bewertung vom 08.06.2025
Rothmann, Ralf

Museum der Einsamkeit


sehr gut

Im „Museum der Einsamkeit“ findet der Leser neun „Ausstellungsstücke“, die dem Leser unterschiedliche Menschen zeigen: Alte, Junge, Männer, Frauen, Berufstätige, Lehrlinge, Rentner, Gesunde, Kranke, Alleinlebende und Paare. Alle Portraits – um im Bild des Museums zu bleiben - sind durch das Thema der Einsamkeit miteinander verbunden.
Es sind alltägliche Menschen, denen der Leser begegnet, und es sind meistens auch alltägliche Situationen, in denen sich aber für den Protagonisten sein Leben entscheidend ändert. Alle Geschichten hallen im Leser nach. Das gilt auch für die Geschichten, die mich nicht zufrieden zurückgelassen haben. Da ist die Geschichte des einsamen und pflegebedürftigen Rentners, der mit seiner albanischen Pflegerin zusammenlebt, Eines Tages tauchen die Söhne seiner Geliebten auf und erfüllen mit Goldkettchen, teuren Autos, Erpressung und ihrem Macho-Gehabe alle mafiös-kriminellen Klischees. Ähnlich verhält es sich in der letzten Geschichte, in der der Lagerleiter des Durchgangslagers Westerbork seine Grausamkeiten und die seiner Geliebten in altbekannter Schönfärberei weinerlich verteidigt. Die Geschichte lässt Subtilität und Hintersinn vermissen, es gibt nichts zu entdecken. Außer vielleicht die Figur der Etty, die sich an die historische Etty Hillesum anlehnt, die von Westerbork aus nach Auschwitz deportiert wurde.
Andere Geschichten dagegen sind inhaltlich anrührend. Ob das der Pfarrer ist, der seiner sterbenden Tochter keine Hilfe ist, sondern sich selber mit Witzen und platten Sprüchen belügt, oder der Junge, der seinen ungeliebten und behinderten Bruder beaufsichtigen muss und sich aufopfernd eine Nacht um die Ohren schlägt. Oder der alternde Ben, der eine Jugendsünde bereinigen will und damit erst neues Unglück heraufbeschwört. Sehr schön die titelgebende Geschichte „Abschied von Baden-Baden“: Mutter und Tochter, die sich gegenseitig quälen und beherrschen wollen. Die Mutter verkauft ihr Haus, das „Museum der Einsamkeit“, wie es die Tochter scharfzüngig nennt. Sie will in eine Seniorenresidenz am Meer ziehen und der Einsamkeit entfliehen, aber sie kommt vom Regen in die Traufe.
Das alles erzählt Rothmann in einer gewohnt unprätentiösen Sprache, immer treffend und kurz.
Ein Museum soll nicht nur zeigen, sondern auch verstehen lassen. Das musss nun der Leser selber entscheiden, ob Rothmanns „Museum“ ihm hilft, die Realität der Einsamkeit besser zu verstehen.
Fazit: Eine Sammlung von neun Geschichten, die dem Leser nachgehen und ihn nachdenklich zurücklassen. Trotz der genannten Einschränkungen: absolute Lese-Empfehlung!