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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 246 Bewertungen
Bewertung vom 11.08.2025
Serre, Anne

Einer reist mit


ausgezeichnet

Allerhöchster Literaturgenuss – über die Kunst die Gedanken schweifen zu lassen

Einer reist mit – wer oder was das wohl sein mag? Denn: Wer eine Reise macht, hat bekanntlich etwas zu erzählen. So auch die Ich-Erzählerin in diesem autofiktional angehauchten Roman.
Die Autorin folgt der Einladung einer Schriftstellerin zum Literaturfestival nach Montauban in den Pyrenäen. Eigentlich mag sie ja solche Zusammenkünfte, freut sich auf die Treffen und Gespräche unter Gleichgesinnten. Auf der anderen Seite aber fallen ihr kurzfristig hundert und mehr plausible und weniger glaubhafte Gründe ein, solche Reisen in letzter Sekunde abzusagen. Auch in diesem Fall, aber sie setzt sich dennoch in den TGV mit der fixen Absicht, ihren Vortrag, der sich um ihren letzten Roman drehen soll, vorzubereiten. Aber ach – all diese Ablenkungen, und Gedanken. Und eine befreundete Autorin ist am selben Bahnsteig. Sie wird doch nicht neben ihr sitzen und fünf Stunden Small-Talk betreiben müssen? Zu beider Glück nicht, man trifft sich sporadisch, verzettelt sich dennoch ein wenig.
Der Müßiggang der Bahnfahrt nimmt seinen Lauf, die Gedanken kreisen von einer Autor*in zur nächsten mit den verschiedensten Anekdoten,driften in der Weltliteratur auf hohem Niveau herum, und bleiben immer öfter am Spanier Enrique Vila-Matas hängen.
Die Zugfahrt ist beendet, das Hotel wird erreicht, der Abend gestaltet, die Gedanken kreisen nach wie vor, manchmal auf unterhaltende Weise, wie die Wespen im Kopf nun mal so sind und vom Hundertsten ins Tausendste wandern, die eigenen Familiengeschichten verheddern, nur um sie wieder auszuwickeln, andere Gedankensplitter drängen sich wieder in die Literatur, dann endlich die ersehnte Nachtruhe im Zimmer, doch leider, nein, Gäste. Wohl vom Festival kommend, zwei Uhr nachts, machen Lärm, belagern die Bar, wollen Party machen. Aus dem ersten Ärger heraus für den verpassen Schlaf nimmt sie dann doch noch am improvisierten berauschendem Fest teil, es wird ein Hit, und schließlich taucht letztendlich auch noch die vielgerühmte Anna Magnani auf (gest. 1973). Und mitten drin und immer präsent: Enrique Vila-Matas.
Um als Leser selbst mal zu Atem zu kommen, setzt der Roman mit einer eingefügten Kurzgeschichte fort, die uns dieser Autor (Enrique Vila-Matas ) als Ich-Erzähler näherbringt. Wunderbar unterhaltsam und sprachlich brillant.
Und somit verschwimmen alle Grenzen, man fischt im Trüben, Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen, wie es die Literatur nun mal an sich hat. Man kann nur staunen, raten und interpretieren, welche wirren, teils bizarren und dennoch immer herrlich zu lesenden Gedankengänge Anne Serre dazu inspiriert haben, dieses Buch zu verfassen. Es ist Literatur in seiner höchsten Form. Literatur, die erzählt, die berichtet und vermutet, die näherbringt und raten lässt, sprich, den Geist im selben Moment zu unterhalten und zu verwirren vermag. Ganz große Kunst!

Daher gibt es auch eine ganz große Leseempfehlung

Bewertung vom 04.08.2025
Conrad, Elfi

Schneeflocken wie Feuer


ausgezeichnet

Locker zu lesende Lebensgeschichte, gespickt mit Gesellschaftskritik, vor allem aus Sicht der Frau! Wunderbar!

Dora, fast achtzigjährig, fährt zu einem Klassentreffen – und erinnert sich an ihre Jugend 1962, als sie 17 war. Dabei schwenkt sie in ihren Ausführungen immer wieder in die Zukunft zu ihrem späteren Leben.
1944 geboren, die Eltern im Harz gestrandet, wächst sie unter prekären Bedingungen auf. Der Vater ist streng, bestraft jedes noch so kleine Vergehen mit körperlicher Gewalt. Ihre Mutter kann sich nicht wehren, denn wo soll sie denn im Falle einer Scheidung auch hin. Also nimmt sie ihr Schicksal als gegeben, und wird chronisch krank. Dora kümmert sich aufopfernd um ihre Mutter und ihre jüngere Schwester. Sie massiert ihrer Mutter jeden Tag den schmerzenden Rücken. Es ist eine kurze Zeit der Zweisamkeit, in der Doras Mutter viele Dinge erzählt; vom Unglücklich-sein, von einem Leben, das sie so nie wollte.
Trotz dieser familiären Belastung geht Dora aufs Gymnasium. Die schulischen Leistungen lassen oftmals zu wünschen übrig, außer in Musik – hier blüht Dora auf. Sie selbst ist gefangen in einer Gesellschaft, deren Standards andere bestimmen – Rollensystem von Vater, Mutter und der Kinder, in denen sich Dora nicht wiederfindet, aber dennoch eingepresst ist. Sie begehrt kaum auf, die erwachende Sexualität mag vorerst etwas unverständliches Sein, etwas, das es zu erfahren gibt, oder einfach hinzunehmen ist, dass es, wie überall erzählt, nur darauf ankommt, es den Jungs und Männern gefällig zu machen. Was die Frau dabei empfindet sei nicht von belang. Sie kann aber auch eine Waffe sein.
Dora gliedert sich gezwungenermaßen in die konventionelle Zwänge ein, hinterfragt diese (z.B.: warum muss die Frau bei Ehelichung den Namen des Mannes annehmen?). Bei ihren Versuchen, aus Systemen auszubrechen, nimmt sie dabei so einiges in Kauf. Auch das Schicksal ihres Musiklehrers …
Der Roman ist aber so viel mehr als nur die Lebensgeschichte einer jungen Frau. Das komplette politische System der damaligen Zeit spiegelt sich wider, wird abgebildet in all seinen Schwächen und dem Irrsinn der männerdominierten Welt (sozial- wie geopolitisch.
Es ist ein Fingerzeig, wie sehr das machtlüsterne Patriarchat seine eigenen Befindlichkeiten in den Vordergrund hebt auf Kosten der Schwachen und vor allem auch der Frauen, denn die hätten sich ja nur in ihrer Rolle als Gebärmaschinen und hinter dem Herd einfinden müssen.
Der Erzählstil ist sehr angenehm und flüssig. Elfi Conrad versteht es wunderbar, eine Geschichte zu erzählen, und dabei nicht an Gesellschaftskritik zu sparen. Diese fügt sich beinahe spielerisch in den Text rund um Doras Erlebnisse ein, und stellen sich als das dar, was sie waren (und immer noch sind): Eine Gegebenheit, indoktriniert von Menschen (Männern) die der Gesellschaft einfach ihre antiquierten Stempel aufdrücken (ohne Rücksicht auf die Breite der Gesellschaft). Und das ist momentan wieder aktueller denn je.

Ganz große Leseempfehlung für diesen wunderbaren, durchaus sehr feministischen Text - ein herrlicher Spiegel und Zeitgeschichte. Der Titel ist mehr als treffend gewählt – wer wissen möchte warum: das Buch kaufen und lesen!

Bewertung vom 26.07.2025
Horlock, Mary

Das Geheimnis von Little Sark


sehr gut

Opulente Inselgeschichte rund um einen True-Crime-Fall, angesiedelt 1933

Die kleine Kanalinsel Sark, wild, zerklüftet, gerade mal mit 500 Bewohnern beseelt, wird in diesem Roman zum Schauplatz von Vermutungen über Verbrechen, Geistergeschichten, etwas Aberglauben und dem menschlichen Zwang, Unbegreifliches aufzulösen. Eines Tages im Jahr 1933 werden die sorgfältig zusammengelegten Kleider einer Frau und eines Mannes an der Steilküste gefunden. Das Rätseln beginnt, die Zeitung auf der Nachbarinsel Guernsey berichtet akribisch, um eventuell Zeugen zu finden und Licht in den Fund zu bringen. Langsam, ganz allmählich erfahren die Leser*innen, wer die Besitzer*innen waren. Als dann später Leichen auftauchen, bleiben noch mehr Fragen offen.
Und was hat die legendäre Weiße Frau, eine Geistererscheinung, damit zu tun, oder sonstige Geschehnisse, die zehn Jahre zuvor auf der Insel passierten – vor allem um die damals Jugendlichen Phyllis und Everard, die just jetzt, zehn Jahre später, wieder auf der Insel sind, als das Paar verschwindet. Und beide gehen auf Spurensuche …
Das Buch hat aber nicht nur kriminalistische Handlungsstränge, die auf einer True-Crime-Story basieren. Die Autorin bringt auch viel gesellschaftspolitische Aspekte mit ein. Das Leben der Menschen zwischen bürgerlicher Schicht und Großgrundbesitzer, sowie auch den wohlhabenden Touristen. Traumatisierte Heimkehrer vom Ersten WK spielen genauso eine Rolle wie pubertäres Gehabe und Hexenverfolgungen.
Auf den beiden Zeitebenen 1933 und 1923 wechseln die Informationen einander ab, versuchen Licht ins Dunkel zu bringen, Beweggründe zu eruieren um schließlich die Brücke zu schlagen.
Mitten drinnen: Phyllis.
Die Charaktere sind gut gezeichnet, wenn auch manchmal alles ein wenig überladen wirkt. Das Crime-Setting gerät dabei sehr in den Hintergrund, Hauptdarstellerin wird die Insel. Die vielen Einzelheiten und Personen machen für mich den Roman zeitweise ein wenig unüberschaubar und leider auch stellenweise etwas langatmig, besonders wenn man wissen möchte, was denn nun tatsächlich geschah.
Inselfeeling topp! Handlung könnte spannender sein, dennoch gerne gelesen.

Bewertung vom 22.07.2025
Ofori, Ivana Akotowaa

Das Jahr der Rückkehr


ausgezeichnet

Eine kleine feine Novelle zur Anmahnung an das Gedenken der Sklaverei

Die Ich-Erzählerin Adwapa reist mit drei Freund*innen von den USA in ihr Heimatland Ghana. Das Jahr 2019 neigt sich zu Ende – und ist der vierhundertste Jahrestag der Verschleppung und Versklavung der Schwarzen Menschen von Afrika. Sie befinden sich im Cape Coast Castle – das ghanaische Sklavenfort, zu Museum und Gedenkstätte umgebaut. Charlene nimmt an der Führung teil, und ist sichtlich schockiert – als hätte sie einen Geist gesehen. Und das ist es, was dann tatsächlich passiert. Geistwesen steigen aus dem Meer. Körperlose Zombies kehren zurück, wandern durch das Land. Das geschieht nicht nur an den afrikanischen Küsten, sondern an mehreren Stellen, vornehmlich in Europa. Die Toten wehren sich – wollen Aufmerksamkeit. Keine Sorge – es ist keine Horrorliteratur. Was alles passiert, besonders mit Adwapas Mutter, deren beider Verhältnis als toxisch bezeichnet werden kann, verrate ich nicht. Aber es tut sich einiges – besonders als die Lage im Frühjahr 2020 weiter zu eskalieren droht, werden weltweit die Grenzen dicht gemacht.
S.60: „Überall auf der Welt greifen Demonstrierende Statuen von Kolonialoffizieren, Rassisten und Sklavenhändlern an. Manche gehen soweit, sie mit Fäkalien zu beschmieren oder in Hafenbecken zu werfen (eine recht poetische Geste, wenn man mal darüber nachdenkt) [Anm.: viele Sklaven sind grausam bei den Überfahrten ertrunken ].“
Es gibt weitgreifende Lockdowns. Nun – geschickt gewählt von der Autorin – zeitliche Parallelen zur jüngsten Geschichte dürften da nicht von ungefähr daher kommen.
Außerdem versteht es Ivana Akotowaa Ofori perfekt, alte Mythen, Legenden und den alten Ahnenkult in die Geschichte einfließen zu lassen.
S. 86: „Ertrunkenen wurden jedoch die Opfergaben verwehrt, die Speisen und Getränke, die man den Toten für ihre Reise zwischen den Reichen mitzugeben pflegte.“
Mit dieser Novelle mahnt die Autorin die Vergangenheit ein. All die Verbrechen, die begangen wurden, und immer noch begangen werden von der selbsternannten Oberschicht der Weißen – kurz Rassismus genannt.
S. 96: „Schwarze Menschen litten – es war ein Leid, das niemand nachempfinden konnte, der die Depression und das überwältigende Gefühl von Ungerechtigkeit, das damit einherging, nicht zu spüren bekommen hatte.“
Der Text rüttelt auf, trotz der eingebauten Phantastik und dem lockeren Sprachstil. Das Buch ist mehr als ein Fingerzeig auf die brutale Geschichte des Sklavenhandels und der Kolonialisierung, die uns mehr und mehr um die Ohren fliegen wird.
Sehr gerne gelesen, wird dieses kleine Büchlein einen besonderen Platz in meinem Regal einnehmen. Kauft und lest es. Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 20.07.2025
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres


ausgezeichnet

Toller, einfühlsamer Gesellschaftsroman an der Küste Schottlands 1900

Die See nimmt, die See gibt. Besonders gilt das für das schottische Fischerdorf Skerry. Es ist das Jahr 1900, die Bewohner des Dorfes mühen sich im täglichen Alltag ab. Die Fischerei ist in den Küstenwässern gefährlich, das Meer unberechenbar. Schon so mancher Fischer kam am Abend nicht mehr nach Hause. Und tragischerweise nahm Jahre zuvor die aufgewühlte Nordsee Dorothys sechsjährigen Sohn Moses. Für sie bricht ihre letzte Welt, ihr letzter Halt zusammen. Ihr Mann ist schon vor Jahren aufs Festland verschwunden, ohne ein einziges Mal seine Familie zu besuchen. Einzig die Unterhaltszahlungen waren der letzte Beweis für die Ehe. Zudem war Dorothy in Skerry immer die Außenseiterin. Als Lehrerin kam sie damals ins Dorf, floh quasi von ihrer besitzergreifenden Mutter. Schnell geriet sie ins Visier von Getuschel, Tratsch und Ausgrenzungen. Denn der alleinstehende Joseph, ein ruhiger, sympathischer Fischer, zeigt sich Dorothy zugewandt. Und auch sie war dem Mann nicht abgeneigt. Wenn da nicht Agnes und ihre Mutter wären – selbst Opfer ihres gewalttätigen Familienoberhaupts – die sich derart in den Gedanken verrannt haben zu haben, dass sich Jospeh selbstverständlich für Agnes entscheiden würde.
Als dann ein beinahe lebloser Kinderkörper an Land gespült, von Joseph entdeckt und umgehend ins Pfarrhaus zur Pflege gebracht wird, gerät die dörfliche „Ordnung“ erst recht durcheinander. Vieles erinnert an damals, an Moses, auch das unbekannte Kind selbst. Dorothys Seelenkampf beginnt aufs Neue … letztendlich darf sie sich sogar um den schiffbrüchigen Jungen, der nicht spricht, kümmern, und die Muttergefühle quellen nur wieder so hervor.
Was wie das Setting eines seichten Liebesromans klingt, ist in Wahrheit eine wunderbare Gesellschaftsstudie über ein von Stürmen gebeuteltes Fischerdorf, mit all den zwischenmenschlichen Facetten, die das Leben zu bieten hat. Trauer, Wut, Alkoholismus, häusliche Gewalt und vieles mehr greift die Autorin auf und webt die vielen Themen sehr gekonnt zu einen fesselnden Roman voll wunderbarer, poetischer Sprache.
Großes Lob hier auch an die Übersetzerin. Die handelnden Personen werden derart plastisch dargestellt, man glaubt nach Beendigung der Lektüre, selbst in diesem Dorf gelebt zu haben.
Zudem lesen wir auch von Aberglauben und Mythen rund um die dörfliche Existenz an der unbarmherzigen Küste. Der Plot spielt in zwei Zeitebenen – einmal 1900, als der Junge gefunden wurde, und dann einmal die Jahre zurück in die Vergangenheit, als Moses verschwand. Und so nach und nach enthüllt uns die Geschichte gut behütete Geheimnisse. Nicht zu vergessen, wie die viktorianische Prüderie auch in diesem abgeschiedenen Landstrich ihren Erfolg feiert.
Ein wunderbarer Roman, den ich sehr ans Herz legen kann – und somit eine absolute Leseempfehlung für diesen Ausflug nach Schottland ins Jahr 1900.

Bewertung vom 17.07.2025
Maraini, Dacia

Tage im August


ausgezeichnet

Der Sommer einer Vierzehnjährigen 1943 – sehr lesenswert und eindrücklich!

Bereits 1962 erschien dieser aufwühlende Klassiker aus der Feder der 1936 geborenen italienischen Autorin Dacia Maraini, der jetzt neu aufgelegt wurde. Sie gilt als Pionierin der feministischen Literatur. Der vorliegende Roman ist wegweisend, teilweise befremdlich im Inhalt – und heute aktueller denn je.
Die Ich-Erzählerin Anna, vierzehn Jahre, und ihr um einige Jahre jüngerer Bruder Giovanni, werden zu Sommerbeginn von ihrem Vater aus dem Nonneninternat in Rom mit dem Motorrad abgeholt. Er bringt sie zu zu seiner neuen Partnerin Nina. Im Haus in Nähe des Strandes wohnen im Obergeschoss sein Arbeitgeber mit dessen Frau und dem achtzehnjährigen Sohn Armando.
Die beiden fühlen sich zunächst unwohl, auch Nina findet sich erst schwer in ihre neue Rolle als Stiefmutter ein, auch wenn es sich nur um eine kurze Zeit im Sommer handelt. Denn kaum beginnt die Schule, werden sie von ihrem Vater wieder im Internat abgeliefert. Er hat seine „Schuldigkeit“ getan. Die Beziehung der Kinder zum Vater ist kühl und distanziert. Auch fragt er sie immer, ob sie ihn lieb haben und sucht damit Bestätigung für sein hilfloses Tun.
Aber die beiden leben sich ein. Giovanni findet im Dorf „Freunde“, mit denen er am Strand meistens abhängt. Das Miteinander der Kinder ist aber sehr rau, beinahe toxisch. Und Anna versucht sich in ihrer aufkeimenden Pubertät zurecht zu finden. Sie beobachtet die Welt, lässt sich treiben. Die Sicht auf „Liebe“ und Sexualität ist befremdlich und verstörend. Die Suche nach ihrer Freiheit pendelt zwischen dem masturbierenden Armando und lüsteren, alten geilen Männern, die glauben, mit Geld alles kaufen zu können.
Es ist das Jahr 1943. Es herrscht der Krieg, Rom wird bombardiert und die Kampfflieger der Alliierten sind oft über dem Meer zu hören.
Kurzum: Anna und Giovanni sind in diesen Wochen am Meer auf sich alleine gestellt. Es kümmert sich niemand so richtig um sie, auch wenn Anna Nina im Haushalt zur Hand geht, bleibt ihre Freizeit ein Loch voller Fragen um das Leben.
Der Krieg hängt wie eine dunkle Wolke über den Ferien. Die Eltern tun ihn mit einer Handbewegung ab, also könnten sie diese Wolke beiseite schieben, um die Sonne wieder durchzulassen. Es wird getrunken, geraucht und Karten gespielt, als wäre alles eitle Wonne. Erst als Armando den Stellungsbefehl bekommt, zerplatzt die Seifenblase einer schöngeredeten Welt.
Es ist kein leichter Roman, oder mal schnell eine Sommerlektüre. Ganz im Gegenteil. Die Tage im August könnten leicht und unbeschwerlich, voller Sonnenschein sein. Aber Regen und Winter holen ein nicht vorhandenes Idyll ein. Die Autorin drückt der Gesellschaft ihren Stempel auf, kritisiert mit feiner Feder zwischen den Zeilen das italienische Kleinbürgertum. Es ist nicht zwingend ein Coming-of-Age Roman, sondern eine sehr gezielte Kritik am Kleingeist und am Faschismus.
Ein Buch, das Eindruck hinterlässt, und auch manchmal die Nackenmuskeln ob des Kopfschüttelns während der Lektüre strapaziert. Keine leichte Kost – aber, oder eigentlich gerade deswegen, sehr lesenswert. Ganz große Leseempfehlung .
Auch das Vorwort der Autorin zu dieser neuen Ausgabe möchte ich als sehr lesenswert hervorheben.

Bewertung vom 13.07.2025
Steiner, Markus

Odyssee nach Westafrika


ausgezeichnet

Viel mehr als ein Reisebericht! Spannend! Fesselnd! Informativ! Leseempfehlung!

Wow! Wenn so unser damaliger Geschichte- und Geographieunterricht verfasst gewesen wäre, er hätte wohl alle Mitschüler*innen begeistert. Der Autor erzählt auf unglaublich fesselnde Weise über die westafrikanischen Länder Marokko, Westsahara (als Teil Marokkos), Mauretanien (äußerst interessant), Senegal und Guinea-Bissau. Es ist weitaus mehr als ein spannendes Reiseabenteuer. Es werden uns tiefe Einblicke in Land und Leute geboten, die momentane Gesellschaftslage, und natürlich auch in die Geschichte und Geopolitik – alles wunderbar in die Erlebnisse eingepackt.
Der Ich-Erzähler und Mara lernten sich in Lissabon kennen und lieben. Es entstand eine innige Beziehung, aber Mara musste fort. Zurück in das Land ihrer Wurzeln – nach Guinea-Bissau, um nach dem Tod ihrer Großeltern deren Austernlokal zu übernehmen. Der Autor beschließt, in Lissabon zurück zu bleiben. Er ist für ein sesshaftes Leben noch nicht bereit. Aber der Ruf des Herzens ist stärker, und so macht er sich auf die Reise zu Mara; - über den Landweg entlang der afrikanischen Westküste.
Seine erste Station ist Tanger in Marokko. Von dort versucht er mit Bussen nach Süden zu gelangen – erste Hürden stehen im Weg. Wer schon mal in dieser Stadt war, wird einiges wiederfinden, sich bald in den Zeilen heimisch fühlen und den Flair der Stadt aufsaugen.
S. 46: „ […] und blicke auf den tiefblauen Atlantik im Westen und das silberglänzende Mittelmeer im Osten, suche im gleißenden Morgenlicht das andere Ufer. Hier endet Afrika, dort beginnt Europa. So nah, denke ich, und beginne zu begreifen, das Träumen, das Verlangen.“
Der Autor trifft auf Einheimische, spricht mit ihnen, erzählt von den Begegnungen. Gekonnt bringt er uns um diese Treffen auf erzählerische Weise die Probleme, Ängste, Nöte, Sorgen aber auch Hoffnungen der Bevölkerung näher (unabhängig vom jeweiligen Ort seiner Reise).
Der Weg führt nach Süden – selten wie geplant, selten ohne Stolpersteine. Und die Zeit drängt. Guinea-Bissau droht auf Grund von Wahlen, in wenigen Tagen die Grenzen zu schließen …
S. 144: „ Die EU […] hat in der Sahara eine unsichtbare Todeszone geschaffen. Die Menschen sollen hier scheitern. Denn weil die EU die Sahara-Regierungen zwang, die Unterbringung und den Transport von Migranten zu verbieten und mit Haft zu bestrafen, nehmen Schmuggler immer gefährliche Routen ...“
Besonders fesselnd fand ich die Erlebnisse und Beschreibungen von Mauretanien, mit den teils äußerst frauenfeindlichen Praktiken der Tuareg. Und dann natürlich das Eintauchen in die Tropenwelt des Reiseziels Guinea-Bissau.
Spannend! Fesselnd! Informativ! Ganz große Leseempfehlung für dieses Buch.

Bewertung vom 05.07.2025
Karlweis, Marta

Die Insel der Diana


ausgezeichnet

Stimmungsvolles, dramaturgisches Bild über das Fin-de-Siècle, in welchem der Geldadel gnadenlos regierte.

Das vergessene Buch – darum kümmert sich dieser Verlag mit vollstem Engagement, und brachte den erstmals 1919 erschienenen, und in Vergessenheit geratenen Roman, neu heraus.
Karlweis beschreibt darin die dekadente Lebensweise zur Jahrhundertwende, wozu der Geldadel alles fähig war und anrichten konnte. Dem gegenüber steht die arme Bevölkerung, die nur „geduldete“ Erfüllungshilfe“ für die Reichen ist. Karlweis versucht zu polarisieren zwischen den macht-strotzenden Männern, denen jedes Mittel zum Erfolg recht ist und den Frauen, die zwar ein selbstbestimmtes Leben führen möchten, aber immer in der Abhängigkeit dieser Männer gefangen bleiben.
Diana wird als Junge erzogen. Ihr Vormund hatte von Anfang Pläne für sie und benutzte sie dazu schamlos. Sie soll später dessen Sohn Stephan Lantin ehelichen.
S. 11: „Sie wusste nichts von ihrem Geschlecht. Mit dreizehn Jahren weinte sie sehr, weil ihr Wunsch, Marineoffizier zu werden, Widerspruch und Gelächter hervorrief.“
Die Ehe scheiterte sehr bald, denn Stephan unterhielt eine Affäre vor und während der Ehe mit seiner Stiefschwester Isabella. Sie war damals gleichzeitig einer der besten Freundinnen Dianas. Isabella taucht während des Romans immer wieder an der Seite von Börsenspekulanten auf und versucht ihren Teil des Kuchens zu erhaschen. Stephan selbst macht eine beachtliche Karriere vom Diplomaten in Südamerika und China zu einen der reichsten Männern an der Börse. Er kennt keine Skrupel, und nützt seinen Reichtum schamlos aus, um ihm und seiner Macht verfallene junge Frauen in Elend und Tod zu stürzen.
Diana selbst flüchtet aus der Ehe auf eine kroatische Insel, die ihrem Vater gehörte. Sie schafft es mit Ehrgeiz, Fleiß und den nötigen Investoren (hier schließt sich letztendlich der Kreis), die Insel zu einem Paradies umzugestalten um wiederum reiche Gäste anzulocken. Trockenlegungen der Sümpfe, sowie die Ausrottung der Malaria sind die größten Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Diana ist gutmütig und hilfsbereit, versucht den Fischern und Arbeitern auf der Insel angenehme Wohnverhältnisse zu schaffen.
Der Esprit des Fin-de-Siècle treibt die Leserschaft durch die Seiten, immer vor Auge haltend die Suche nach dem eigenen Platz im großen Rad der Macht versus der Abhängigkeit von den Mächtigen. Diana scheint mehr als einmal an der Welt des Adels zu zerbrechen, sieht darin eine gewisse Sinnlosigkeit und muss feststellen, wie sehr die Frauen nur Marionetten in der Welt der Männer sind. Letztendlich unterscheidet Karlweis in den Geschlechtern, wie sich das Leiden abspielt.
Es ist ein sehr intensiver Roman, dicht gepackt mit den Erlebnissen und Emotionen der Protagonist*innen. Es bedarf der Ruhe und Muse für diese Lektüre, nicht zuletzt auch wegen des ausschweifenden, für uns antiquierten und manchmal umständlich anmutenden Sprachstils, der vor hundert Jahren natürlich seine volle Berechtigung hatte.
Ausführliche Anmerkungen über die Autorin und das Werk von Johann Sonnleitner runden das Buch, welches auch große optische und haptische Vorzüge aufweist, ab. Daher: Große Leseempfehlung für diesen Debütroman von Marta Karlweis.

Bewertung vom 28.06.2025
Zijian, Chi

Das letzte Viertel des Mondes


ausgezeichnet

Bildgewaltiges Familienepos über den nordchinesischen Nomadenstamm der Ewenken

Die preisgekrönte chinesische Autorin hat mit diesem Roman ein wahres Familienepos geschaffen. Selbst im nördlichsten Dorf Chinas an der Grenze zu Russland geboren, nimmt sie uns mit auf eine beinahe hundertjährige Reise in das Reich der Ewenken – ein Nomadenvolk, das bis zu Letzt dem sesshaften Leben abtrotzt und seine Freiheit nicht aufgibt. Dennoch ist diese Lebensweise mehr oder weniger zum Sterben verurteilt, zu sehr mischt sich der Staat ein, zu sehr werden die Rechte und Freiheiten durch die Politik eingeschränkt. Und was Gesetze und Abholzung nicht schaffen, erledigt der Klimawandel, der vor keinem Fleckchen Erde halt macht.
Die namenlose Ich-Erzählerin, geboren 1912, beginnt mit ihren ältesten Erinnerungen an ihre Kindheit und führt uns durch das Leben des Nomadenstamms. Sie leben von der Rentierzucht, ziehen durch die Wälder und Berge des weiten nördlichen Landstriches und leben von dem, was die Natur ihnen bietet. Natur und Ewenken sind gleichsam nicht verschwenderisch. Das Leben ist karg, oftmals mühsam, durchzogen von den verschiedensten zwischenmenschlichen Querelen, erfüllte und verschmähte Liebschaften, von Neid und Zorn, von Geburt und Tod, und von Empathie und Nächstenliebe. Hilfe bekommen all jene, die sie benötigen. Besonders die Schaman*innen arbeiten erschreckend uneigennützig, und geben, was zu geben ist um das Leben eines Menschen zu retten (manchmal sehr erschreckend!).
Im Laufe der Zeit lernen wir ihre Familie und ihren zugehörigen Urireng (ihre Gruppe, vergleichbar mit einem wandernden Dorf) kennen, werden in die Sitten, Bräuche und komplette Lebensweise eingeführt, lernen zu verstehen, wie sehr dieses Volk in Verbundenheit mit der Natur lebt. Nur selten führen sie Kontakte zur Außenwelt, und dann auch nur zu fahrenden Händlern, um Dinge wie Salz, Munition oder sonstige unabdingbare Gegenstände gegen Felle oder Trockenfleisch zu tauschen.
Aber der Mensch rückt näher. Im Nordwesten ist es der Russe als Feind, von der anderen Seite rückt der Japaner an und versucht, alle zu unterwerfen.
Und schließlich kommt die maoistische Bürokratie an, zuletzt die Verlockungen der Sesshaftigkeit samt Klimawandel.
Es ist ein sehr intensives Buch, das mich einige Zeit gekostet hat zu lesen – keine Sekunde habe ich dabei bereut, ganz im Gegenteil. All die vielen kleinen Episoden und zwischenmenschlichen Geschichten, von denen einige sich tatsächlich so oder so ähnlich abgespielt haben und der Autorin zugetragen wurden, tragen dazu bei, ein sehr umfangreiches und detailgetreues Bild dieser Volksgruppe zu bekommen.
Meinen allergrößten Respekt geht an die Übersetzerin Karin Betz. Allein der Eröffnungssatz erweckt eine Erwartungshaltung an den Roman, die voll und ganz erfüllt wird.
S. 7: „Ich bin eine langjährige Vertraute des Regens und des Schnees. Neunzig Jahre bin ich alt. Regen und Schnee haben mich alt werden sehen, und auch ich habe sie alt werden sehen. Der Sommerregen wird heutzutage immer seltener und auch der Winterschnee Jahr um Jahr dürftiger. Sie sind wie die abgewetzte, verschlissene Rentierfellmatte unter mir, deren einst dichtes Haar wie vom Wind fortgetragen scheint.“

Ganz große Leseempfehlung für diese Hommage an das Nomadenvolk der Ewenken.

Bewertung vom 25.06.2025
Fremlin, Celia

Onkel Paul


ausgezeichnet

Geniale Charaktere, ein chaotischer Urlaub und die Schatten der Vergangenheit. Superber beinahe-Krimi

Onkel Paul! Onkel Paul? Immer wieder Onkel Paul. Er zieht die Handlung durch diesen äußerst unterhaltsam wie spannenden Roman, obwohl er physisch gar nicht vorkommt. Er bleibt ein Geist, ein Mythos. Er ist ein wegen versuchten Mordes Verurteilter, dessen fünfzehnjährige Haftzeit gerade abläuft und Meg samt ihren Schwestern als den Urlaub Schreckgespinst vergällt.
Dabei könnte es so schön sein. Megs Halbschwester Mildred (die Ex-Frau von Onkel Paul) leidet an zarter (Untertreibung) Hysterie und Überheblichkeit, nur das Beste ist gut genug für sie, alle anderen Menschen in ihrem Umfeld nur ihre Lakaien. Aber sie hat Angst und ruft Meg zur Hilfe in einen beschaulichen Badeort an der See. Dort steht auch ein ziemlich abgeschiedenes Cottage, in dem vor besagter Zeit alles geschah, und Mildred, die es sich zunächst nicht nehmen lässt, dort alleine zu residieren und in der Nacht glaubt, Schritte zu vernehmen, benötigt im ausgebuchten Ferienort dann doch ein Hotelzimmer. Meg organisiert. Meg kommt in den Ort, zieht in den Ferienwohnwagen ihrer Schwester Isabel, zusammen mit deren Kindern. Das Chaos ist vorprogrammiert, denn Isabel ist leichtgläubig, eingeschüchtert und möchte es allen und jedem nur recht machen. Auch sie hat Angst, angestachelt durch Mildred.
Einzig Meg scheint Herrin der Lage zu sein, denn jedes ungeklärte Phänomen lässt sich schnell, einfach und logisch aufklären. Aber Mildred (man könnte sie manchmal hinter den Mond und noch weiter schießen) schafft es immer wieder für Unruhe. Als dann noch Megs Freund Freddy, eine etwas dubiose Gestalt, und Isabels undurchsichtiger Ehemann auftauchen und nach belieben verschwinden, kommt keinesfalls Ruhe in die illustre Gesellschaft. Ganz im Gegenteil. Könnte vielleicht einer der beiden Onkel Paul sein? Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, wer weiß da schon, wie sich ein Mann verändert …
Tja, und immer wieder das Cottage – knappe drei Meilen vom Ort entfernt, dunkel, kein Strom, ein überwucherter Vorgarten … ein Brunnenschacht … viel Regen … perfekt für …

Der Roman entartet zwar zeitweise wie ein hektischer Klamauk aus Hollywoods Glanzzeiten, aber die Anspannung, das was-wäre-wenn eines möglichen drohenden Unheils begleitet einen von Anfang bis zum Ende.
Die Szenen sind sehr gekonnt gesetzt, man bleibt als Leser immer einen kleinen Informationsschritt im Rückstand. Die Charakterbildung der Protagonist*innen ist ohne Frage mehr als genial gelungen.
Das ist ganz große Erzählkunst und man kann sich während der Lektüre ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen der Autorin sehr gut vorstellen.
Sehr gerne gelesen, und daher gibt es eine riesengroße Leseempfehlung für diesen wunderbaren Krimi der etwas anderen Art.