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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 271 Bewertungen
Bewertung vom 16.12.2025
Moers, Walter

Qwert


ausgezeichnet

Ein Fantasy-Spektakel sonder gleichen. Ganz große Erzählkunst!

Was für ein unglaublich fantastischer Ritt doch dieses Buch ist. Fans von Walter Moers kommen hier voll auf ihre Kosten, denn der Autor strotzt wieder mal nur so von Fantasie und Einfallsreichtum.
Qwert, der Gallertprinz und alter Bekannter aus anderen Büchern, stürzt durch ein Dimensionsloch in die Welt Orméa – und findet sich als DER Ritter zahlreicher Romane schlechthin wieder - als Prinz Kaltbluth. Gefürchtet wie bewundert, kommt er mit seiner Rolle vorerst nur schwer zurecht. Zum Glück hat er „Tarnmeister“, seinen unsichtbaren Degen, der immer dann hilft, wenn es richtig brenzlig wird (also recht oft). Ganz am Anfang sieht er sich schon gezwungen, eine holde Maid zu befreien. Allerdings war das schöne Antlitz der jungen Frau nur eine Seite der Medaille, denn in Wahrheit ist sie eine Janusmeduse. Ihr anderes Gesicht macht das, was Medusen üblicherweise so tun – sie versteinern alles, was sie erblicken. Und dennoch entspannt sich zwischen den beiden doch so etwas wie eine Romanze – gibt natürlich niemand zu. Sie verlieren sich, dann finden sie sich wieder, wobei immer einer der beiden aus einer Gefahr gerettet werden muss. Und das, obwohl die Janusmeduse – liebevoll Jadusa (ein Kofferwort – und davon werden sehr viele mantrahaft verwendet) genannt – so ziemlich das gefährlichste Wesen in ganz Orméa ist.
Außerdem bekommt Qwert alias Kaltbluth Unterstützung von seinem (ehemaligen) Knappen Oyo und einem treuen Reittier.
43 Abenteuer muss der Gallertprinz in der leibgewordenen Statur des Helden erleben, erleiden und durchstehen, bis er – nun ja – wird natürlich nicht verraten.
Aber bis dahin kommen Flederfrösche vor, verschiedenste Ritter (gläserne (gruselig), hölzerne, eiserne, rote, blaue, usw.), Kristallskorpione (sehr böse), Riesengletscherzwerge, Ehrenrittertum samt Duellen, usw. vor.
Man reitet durch den Roman, staunt und staunt und staunt – auch über die tollen Illustrationen des Autors, die diesen 580 Seiten Klops sehr bereichern.
Große Leseempfehlung für alle Freunde von Zamonien, und die es noch werden möchten.

Bewertung vom 14.12.2025
Victor, Gary

An der Kreuzung der Parallelstraßen


ausgezeichnet

Magischer Realismus und klare Sprache sprechen aus, was auf Haiti falsch läuft. Ein brutales Abenteuer und Machtspiel.

Gary Victor gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Haitis. Sein literarisches Schaffen zeugt meistens von einer intensiven Gesellschaftskritik - auch in seinen Krimis.
Dieser Roman, der 2000 im Original erschien, liegt nun in einer Deutschen Erstübersetzung vor. Er spielt am Ende der 1990er Jahre und erzählt von Eric, einem ehemaligen Beamten.
Strukturanpassungen und Staatswillkür, gefüttert von einem korrupten Regime, machten ihn arbeitslos – seine damalige Partnerin wandte sich sofort von ihm ab, als er ihren gewohnten Lebensstil nicht mehr finanzieren konnte. Der Hass in Eric wucherte. Er machte die Obrigkeit für sein Unglück verantwortlich und begann, in Port-au-Prince die Verantwortlichen zu suchen und zu richten. Wer ihm dabei im Weg stand, wurde kaltblütig erschossen. Sein erstes auserwähltes Opfer war der Finanzminister. Doch dieser war schlau genug, Eric weitere „Schuldige“ zu präsentieren und sich selbst als Opfer zu inszenieren. Die Jagd setzte sich fort.
Mittlerweile versank Haiti im Chaos. Eine Heiligenstatue wurde lebendig und machte ihr eigenes Rache-Ding. Spiegel wurden blind, und alles Geschriebene stand auf einmal rückwärts da. Auch die Menschen begannen, rückwärts zu sprechen. Die absolute Anarchie startete, während der Präsident und seine Untergebene in Saus und Braus lebten und sich um die arme Bevölkerung nicht kümmerten.
Die Sprache ist meistens äußerst direkt. Der magische Realismus, dem sich der Autor hier bedient, lockert einiges auf und macht es gleichzeitig bildhafter und schärfer. Das Töten von Menschen erfolgt in einer kaltblütigen Geläufigkeit, ohne Skrupel und Gewissen – und steht für das Verhalten der Regierenden gegenüber der Bevölkerung. Das Erblinden der Spiegel ist hier eine starke Metapher für den sterbenden Widerstand und die Willkür der Mächtigen.
Manche Szenen sind wirklich nichts für empfindliche Mägen. Auch der Autor selbst hat lange gezaudert, ob er den Roman in der vorliegenden Form überhaupt veröffentlichen soll, weil er ihm oftmals zu brutal vor kam.
Er tat es – und wurde dafür ausgezeichnet. Zu recht – es ist ein kafkaesker Amoklauf, der aufzeigt, was im Land schiefläuft, ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten. Das Einfließen des Magischen Realismus' ist in einem von der Voodoo Kultur geprägtem Land beinahe schon ein Muss. Auch der Titel ist sehr stichhaltig: die Lösung der gestellten Aufgaben findet Eric an der Kreuzung der Parallelstraßen – also eigentlich nirgends, erst in der Unendlichkeit.
Sehr gerne gelesen, trotz mancher schockierender Szenen, - und gerne gebe ich eine Leseempfehlung für alle, die dieses Abenteuer wagen – oder auch mal über den Tellerrand blicken wollen. Es ist eine Regimekritik der anderen Art, wie wir sie in der europäischen Literatur wohl eher kaum finden. Die Werke des Autors kann ich alle uneingeschränkt empfehlen.

Bewertung vom 08.12.2025
Köller, Katharina

Was ich im Wasser sah


ausgezeichnet

Preisgekröntes Debüt aus einer magisch-realistischen Welt. Fern und doch so nah.

Es ist ein sehr bemerkenswertes Debüt, welches die Autorin (Wildwuchern, 2025) hier 2020 vorgelegt hat. Mit einer sprachlichen Brillanz lässt sie uns in eine Geschichte eintauchen, die zugleich real sein, und dennoch einer magischen Welt entsprungen sein könnte. In starken Bildern erzählt sie über Klarissa, die von der Insel „Ei“ aufs Festland ging, um ihr Glück zu versuchen. Sie wollte Filme machen, ging auf die Akademie, verliebte sich in Robin. Doch das böse Schalentier namens Krebs raubte ihr alles. Kahlrasiert, abgemagert, und ohne Brüste … und sie entschied sich gegen Implantate, ein Fakt, der von ihrem Umfeld mit Befremdung aufgenommen wurde, konnte doch niemand akzeptieren, dass es Klarissas eigener Wille war. Dafür zierte nun ein tätowierter Oktopus ihre vernarbte Brust.
Sie kehrte zurück auf die Insel zu ihrer Familie. Doch die Dinge haben sich geändert. Mammie, die fürsorgliche Frau an der Seite ihres wortkargen Vaters, war verstorben. Die ganze Insel lag im Sterben. Nur die hohen gläsernen Windräder wuchsen und wuchsen. Grüne Energie, das sei doch gut. Dennoch wurden Pachtverträge nicht verlängert, Geschäfte für immer geschlossen, die Menschen krank. Ein Idyll, perfekt für Touristen und Aussteiger, würde man meinen. Doch die Glanzzeiten waren vorbei.
Nur langsam und schwer findet sie wieder Zugang zu ihrer „Schwester“ Irina. Und kaum war eine Annäherung geschaffen, verlor Klarissa sie an Bob. Ein Wendehals und Möchtegern-Macher.
Dennoch: Klarissas Kräfte kommen zurück. Sie erstarkt, auch mit ihrem Willen, sich nichts mehr wegnehmen zu lassen. Der Oktopus schützt sie. Und da ist etwas im Wasser – etwas, das alles ändert …
Der Fokus dieses fabelhaften Romans, eine Parade an magischem Realismus, steht klar auf gesellschaftlichen und ökologischen Gesichtspunkten. Die Kraft, sich in einer von Vorurteilen und Besserwisserei gestalteten Gesellschaft zu distanzieren und auf der anderen Seite das Greenwashing von massiven menschenversursachten Umweltproblemen sind das Hauptsetting dieses Romans.
Die Welt schwankt – mehr als die Wellen. Doch als Leser der Zeilen ist man fest in der Geschichte verankert. Der Schreibstil mit seiner treffenden Wortwahl entwickelt einen gewaltigen Sog, lässt die Insel und seine handelnden Personen sehr plastisch werden.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, nahezu verschlungen, und gebe selbstverständlich eine absolute Leseempfehlung für dieses preisgekrönte Debüt.

Bewertung vom 03.12.2025
Reuter, Sibylle

Zerbrichmeinnicht


ausgezeichnet

Ein herrlich zu lesender autofiktionaler Roman über Herkunft und Zuhause

Die Autorin erzählt in diesem stark autofiktional geprägten Roman viel über ihr Aufwachsen in Sofia. Ihre Großeltern flohen damals vor dem NS-Regime aus Österreich nach Bulgarien.
Die Kindheit war entbehrungsreich – ein Vater zur Unterstützung nicht vorhanden. Ihre Mutter arbeitete viel, opferte sich auf um ihr ein möglichst angenehmes Leben zu schaffen – vor allem mit Bildung und den Bezug zur Deutschen Sprache – und dem steirischen Dialekt der Großeltern. Die DDR war ideel und mit dem Konsulat sehr nahe.
Mit 19 Jahren konnte die Autorin nach Österreich gehen um in Graz zu studieren, ihre Mutter, zu der es bis dahin eine sehr enge Bindung gab, blieb zurück. Der Kontakt, vorerst sehr innig, begann zu bröckeln … mit unschönen Szenen – wie sie das Leben oftmals so schreibt und eine Art Toxizität entwickelt.
Das Buch ist aber weit mehr als eine Familienchronik. Das ist eigentlich nur der Rahmen, in dem sich die Protagonist*Innen aufhalten. Das wahre Leben spielt sich im Inneren ab. Eine kommunistisch geprägte Kindheit mit engen Kontakten zur DDR, dazu eine Mutter, die sehr viel erreichte, und Großeltern mit österreichischen Wurzeln, die nicht nur in der Sprache gelebt wurden. Es stellt sich immer wieder die Frage: wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Wurzeln hin oder her – wo will ich im Leben sein.
Die Sprache spielt dabei ein wichtige Rolle – bulgarisch, steirischer Dialekt, sächsisches Genuschel, all das mischt irgendwo mit und zeigt letztendlich in einem Gespräch an, egal wo man ist, dass man nicht ansässig ist. Das kann belastend sein.
S. 16: „Wo kommst du her?“, hieß immer noch für mich: „Du bist nicht gut genug, um eine von uns zu sein.“
Und dennoch, durch die Abgrenzungen des Kommunismus' wurde das verbotene Ausland sehr interessant.
Als dann das Reisen möglich war, auch die Rückkehr für Besuche nach Bulgarien, stellt sich immer mehr die Frage nach Zugehörigkeit, Wurzeln.
S. 215: „Bulgarien ist Vertrautheit und Fremde zugleich“
S. 216: „Weder weiß ich, wo ich hingehöre, noch wo ich dazugehöre.“
Es stellt sich immer mehr die Frage, nach dem Zuhause.
Und dann kommen in den Schlusskapiteln so wunderbare Worte und Sätze vor, die das ganze Tohuwabohu von Sprachen und Orten und Ländern und Staaten wie eine Mauer einfallen lassen.
S. 228: „Zuhause ist in mir. Ganz gleich, wo ich bin.“ - für mich eine sehr starke Aussage.
Der Schreibstil ist wunderbar flüssig. In vielen kurzen Kapiteln leben und leiden, bangen, hoffen und freuen wir uns mit der Autorin mit. Der Roman lässt sich einfach nicht mehr auf die Seite legen und muss am Stück gelesen und durchgesuchtet werden.
Ganz große Erzählkunst – leicht und locker, dennoch mit irrem Tiefgang – es ist mir ein Bedürfnis, eine riesengroße Leseempfehlung auszusprechen.

Bewertung vom 30.11.2025
Katapult

Werkzeugkasten der Zukunft


ausgezeichnet

Wunderbare, und umsetzbare Ideen, um unsere Zukunft lebenswerter zu gestalten

Unsere Welt könnte solch ein Paradies sein. Weder Hunger noch übelste Umweltverschmutzungen wären an der Tagesordnung. Es gibt Ideen und Möglichkeiten mehr als genug, um diesen Planeten smart zu machen, und zu einer Welt, in der sich alle Menschen und Lebewesen wohl fühlen.
Dieses wunderbare Buch zeigt uns auf unterhaltsame und einfache Weise 150 brillante Ideen, wie wir die Welt tatsächlich ein wenig besser machen könn(t)en.
Es gibt viel Potential beispielsweise in der Landwirtschaft – gemeinsames „Ackern“, das Stärken der Biodiversität, Grünflächen mit Obst und Gemüseanbauflächen in den Städten – die zudem noch frei vom Autoverkehr sein könnten – für eine bessere Luft, für viel mehr Grünflächen.
Bei der Stromversorgung gehen wir mit Solar und Wind ja schon gute Wege, aber das ist bei weitem noch nicht das Ende der Fahnenstange. Denn aus jeder Art der Bewegung lässt sich Strom gewinnen.
„Futter für alle“ - Erbsenproteine als Fleischersatz – gibt es natürlich schon, schmeckt super, muss nur noch in die Köpfe von 90 % der Menschen hierzulande. Schon Ressourcen und Umwelt. Aber ja … das geliebte Tierqualprodukt ...
Ganz interessant der Nahrungskreislauf - „Der Schatz aus dem Klo“. Phosphor ist ein wichtiger Dünger, könnte aus den Fäkalien gewonnen werden, anstatt umweltzerstörerisch abgebaut zu werden (zumal nur 8,9 % der Vorkommen in Demokratien liegen – wenn sich also so ein Diktator quer stellt, diktiert er, wer in Zukunft zu Essen haben werden könnte).
Oder Saatgutbibliotheken – Säen-Ernten-Teilen. Oder biologische Alternativen zur Kunststoffschwemme.
Und noch so vieles mehr steckt in diesem wunderbaren Buch, voll mit Dingen und Gedanken, die die Zukunftsaussichten nicht ganz so düster erscheinen lassen würden, als sie momentan sind.
Jedes Kapitel widmet sich einem ganz besonderen Bereich, zählt die Fakten auf, belegt mit Zahlen, was möglich wäre. Und in jedem Projekt, dass ich voller Spannung gelesen habe, steckt irre viel Potential. Also: tun! - die Möglichkeiten und Ideen sind vorhanden.

Ganz große Leseempfehlung für diese wunderbaren Ausführungen.

Bewertung vom 03.11.2025
Piuk, Petra

Hotel Love


ausgezeichnet

Auf den Punkt gebrachte Dystopie über die gegenwärtige Frauenfeindlichkeit, verpackt in einen aberwitzigen Roman

Roman gönnt sich was. Denn er ist der ärmste und bedauernswerteste Mann auf der ganzen Welt. Denkt er, weil seine über alles geliebte und vergötterte Julia ist nicht mehr an seiner Seite. Und es ist natürlich nur alles ihre Schuld und die ihrer Freundinnen, und außerdem und überhaupt. Zum Glück regiert jetzt die Männerpartei, Frauen werden in Camps gehalten oder werden systematisch eliminiert. Gibt es doch so lebensechte Androidinnen für alle erdenklichen Lebens (- und Liebes)lagen. Und das allerbeste: im Hotel Love kann Mann sich binnen weniger Tage seine Wunschfrau zusammenstellen lassen und diese heiraten. Als kostenpflichtige Option kann man dann auch gleich ein Kind, vorzugsweise einen Sohn, mit dazu bestellen. An manchen Tagen gibt es dafür sogar einen lukrativen Rabat. Oder für einen zweiten Kopf der Auserwählten. Oder einem eigenen Satz Zungen mit mehreren Geschmacksrichtungen.
Und was macht Roman: er lässt sich natürlich seine Julia 1:1 nachbauen. Sogar die Anzahl der Sommersprossen ist identisch. Julias 2.0 einprogrammiertes Primärziel lautet Roman glücklich zu machen. Was gar nicht so einfach ist, denn es stellt sich im Laufe des Romans heraus, wie Roman wirklich tickt. Eifersucht bis zum Platzen, Kontrollwahn, sprich die personifizierte Toxizität. Da tut sich dann sogar eine KI schwer damit. Aber es wäre nicht eine KI, wenn sie am Ende keine Lösung parat hätte. Und die gilt dann im Kollektiv für alle als Frauen programmierte Roboter … und alle werden glücklich, oder so ...
Der Roman ist mehr als eine wunderbare Satire auf das Patriarchat, dem eigentlich die gesamte Menschheit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Man kann ihn eine Dystopie nennen, oder einfach eine nur sehr klug inszenierte, natürlich (sehr) überspitzte Metapher darüber, wie es in der männerdominierten Welt abläuft. Wir kennen alle die gesellschaftlichen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern. Aber dank der Männerpartei, die Roman natürlich nie und nimmer gewählt hätte, wären ihm all die Konsequenzen bewusst gewesen, sind diese nun obsolet.
Aber eine richtige Julia wäre ihm schon lieber gewesen …
Man muss unweigerlich beim Lesen schmunzeln und gleichzeitig den Kopf schütteln, das Lachen könnte einem im Halse stecken bleiben.
Geschickt inszeniert, wechselnd von der nahen Zukunft im Love-Ressort zu Rückblenden ins gemeinsame Leben von Julia (der aus Fleisch und Blut) und Roman, entpuppt sich sehr schnell, welchen Geistes Kind er ist.
Und der allgemein gültige und verwendete Gruß „Love Kanzler“ zu Ehren des neuen Kanzlers der Männerpartei erinnert mich schon stark an jene faschistische Grußformel, die vor ca. 90 Jahren in aller Munde zu sein hatte.
Mit einem schnellen Erzähltempo rauscht man durch das Buch, kann trotz der vielen, oftmals nur angedeuteter Kritik an unserer Gesellschaft, diesen wunderbaren Roman von Petra Piuk nicht mehr aus der Hand legen.

Ganz große Leseempfehlung, und bestimmt ein Jahreslesehighlight.

Bewertung vom 25.10.2025
Miloszewski, Zygmunt

Warschauer Verstrickungen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Preisgekrönter Krimi und Gesellschaftsstudie aus Polen. Spannend! Leseempfehlung!

Bereits 2007 im Original erschienen, ausgezeichnet und verfilmt, ist dieser Band die Eröffnung einer Trilogie rund um den Warschauer Staatsanwalt Teodor Szacki.
Szacki, Mitte dreißig, hat Stil, ist immer adrett gekleidet – wie Staatsanwälte nun mal sein sollen – und ist voll mit Ethos. Bestechungen und Korruption sind allgegenwärtig, und das Gehalt in seiner Zunft sehr bescheiden. Seine Frau ist Juristin, und mit ihrer gemeinsamen Tochter muss er sich schon sehr genau überlegen, für was Geld ausgegeben wird. Die Ehe scheint schon mal besser gewesen zu sein, obwohl, so schlecht ist sie dann auch nicht, vielleicht sind sie einfach schon zu lange zusammen. Alles Gedanken, die Szacki neben seinen Ermittlungen plagen, und soviel sei verraten – er bleibt ein Mensch, trotz all den Verlockungen, die sein Berufsstand zu bieten hat.
Aber das ist nur ein Nebenschauplatz, und dennoch so wichtig für den kompletten Plot der Kriminalgeschichte. Sie fängt natürlich, wie meistens, mit einer toten Person an. Mord ist offensichtlich, Suizid dennoch eine Option, die in Betracht gezogen werden kann. Die Ermittlungen laufen an – und in Polen anscheinend üblich, werden diese von Staatsanwält*innen bestritten – mit Unterstützung der Polizei.
Er tappt lange im Dunkeln, denn es waren zur Tatzeit nur vier Personen in unmittelbarer Nähe. Es sind dies drei Patient*innen und deren renommierter Therapeut, die in einem ehemaligen, leerstehenden Kloster nahe der Warschauer Innenstadt an einem Wochenendretreat mit Familienaufstellungen teilnehmen.
Die Ermittlungen zeigen sich kompliziert – und lange tappt Szacki im Dunkeln. Er bohrt auch bei der Witwe des Getöteten nach, und scheint nicht wirklich weiter zu kommen. Doch ganz langsam kommt er Dingen auf die Spur. Altes, Verborgenes, Gefährliches …
Spannend erzählt baut der Autor hier einen Plot auf, der sich mehr um die Personen und vor allem die polnische Gesellschaftsstruktur kümmert als um das eigentliche Tatgeschehen. Die Ermittler bleiben Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen.
Irgendwie bin ich versucht, gewisse Vergleiche mit Commissario Brunetti aus der Feder von Donna Leon zu ziehen – aber natürlich in einer komplett anderen Umgebung mit anderen Vorzeichen; - besonders Tage nach der Lektüre drängt sich mir das auf.
Die Sprache ist leicht und flüssig, das Setting hat das Zeug zu einem Pageturner, und der Showdown zeigt letztendlich die wahre Genialität des Duos Szacki und Autor .
Sehr gerne gebe ich ein große Leseempfehlung für diesen Krimi samt Gesellschaftsstudie. Und keine Angst – der Roman ist in sich abgeschlossen – trotz Trilogieauftakt.

Bewertung vom 15.10.2025
Stavaric, Michael

Die Schattenfängerin


ausgezeichnet

Die Sehnsucht nach dem Unbekannten – ein modernes Märchen warmherzig erzählt

Stella ist fünfzehn, als ihr alleinerziehender Vater stirbt. Er hatte für sie gesorgt, das Haus ist in Ordnung, und finanziell muss sie sich keine Sorgen machen. Die Beerdigung läuft so ab, wie es auf dem Land so üblich ist. Ein paar tröstende Worte, weniger helfende Hände, und zahlreiche Säufer beim obligatorischen Leichenschmaus. Er sei schon immer etwas sonderbar gewesen, ihr Herr Vater. So die Meinung – und seine Tochter, naja, wie soll man sagen, … Getratsche der Menschen, allen voran der Herr Pfarrer, der es sich auch hin und wieder nicht nehmen lässt, sein Hände und Augen dort zu positionieren, wo sie nicht sein sollen.
Zumindest auf das Wohlwollen des Bürgermeisters kann sie sich voll und ganz verlassen.
Stellas Vater war besessen von den Sonnenfinsternissen. So oft es ihm möglich war, reiste er über den ganzen Globus, um dem himmlischen Spektakel beizuwohnen. Das dauerte oftmals einen Monat, und er verabsäumte es nicht, alles genau zu dokumentieren, sodass Stella alles nachlesen konnte. Die Faszination schlägt über, und auch Stella begibt sich auf eine Reise zur Verdunkelung der Sonne in den Kongo.
Das ist der große Rahmen, aber dazwischen finden wir in den Zeilen dieses modernen Märchens so viel mehr. Wissen um den Planeten in seiner vielfältigen Form, fein verpackt in eine, ich möchte sagen, beinahe einfache Sprache. Das Leben von Stella – und ihre besondere Beziehung zu den Schatten.
Der Roman strahlt eine angenehme Ruhe aus, kommt mit einem großen Maß an Empathie daher und rührt in unserem Inneren ein wenig um. Was ist denn wichtig im Leben, neben all den Nebenschauplätzen, die das Überleben sicheren? Auf was kommt es an?
S.98: „Afrika lässt in Wahrheit bis heute mein Herz höherschlagen, auch wenn ich lange Zeit nicht ahnte, warum. Vielleicht hat ein jeder im Leben einen geheimen Sehnsuchtsort, von dem er sich erwartet, dort irgendwann mehr über sich selbst zu erfahren.“ Ob es ihr gelingt, verrate ich natürlich nicht …
S.164: „Eines der größten Mysterien der Kindheit war, mir ernsthaft vorzustellen, dass ich zu keinem Zeitpunkt den ganzen Mond überblickte, sondern nur eine, uns Erdbewohnern zugewandte Seite.“
Auch das ist für so ein Satz, der in einem umrührt und ein Sehnsucht nach dem Unbekannten weckt. Und nur, so glaube ich, wer die Welt mit Kinderaugen betrachtet, wird tatsächlich all die Wunder entdecken können, die sich offenbaren.
Die Sprache ist einfach gewählt, leicht und flüssig, aus Sicht von Stella erzählt – und erinnert uns tatsächlich an ein Märchen – oder einen Coming-of-Age Roman mit (Vor)Zügen des magischen Realismus'.
Das Buch habe ich sehr gerne gelesen, und gebe eine große Leseempfehlung – Licht und Schatten – und wenn wir einen Schatten sehen, ist immer Licht im Spiel.

Bewertung vom 05.10.2025
Güntner, Verena

Medulla


ausgezeichnet

My body, my choice – unterhaltsam in einem tollen Roman untergebracht

Berlin. Drei Paare. Drei Frauen, drei Männer. Sie kennen einander, verbringen manchmal etwas Zeit zusammen. Und sie sind einfach verschieden, so wie sich eben die Menschen unterscheiden. Doch eines verbindet die Paare – im Speziellen die Frauen. Sie sind schwanger. Und die Männer? Die glauben immer noch, über den Körper ihrer Partnerinnen bestimmen zu können.
Siv und Jan leben eine offene Beziehung. Besonders Siv scheint ein ausschweifendes Sexualleben zu haben, und berichtet Jan, 50, immer davon. Sie genießen beide die Freiheiten und Annehmlichkeiten, die das Leben zu bieten hat. Und Siv möchte das nicht aufgeben, auch wenn Jan es anders sieht und glaubt, ein Mitspracherecht zu haben und auch durchsetzen zu können
Leyla und David ereilt Ähnliches, auch wenn deren Leben anders strukturiert ist. Ihnen geht ein langer, unerfüllter Kinderwunsch voraus. Als es dann unverhofft dann doch noch passiert, ändert sich Leylas Einstellung dazu. Und auch hier sieht es David anders. Und dann sind noch Esther und Jacob. Esther unterscheidet sich in einem Punkt von Siv und Leyla, aber auch sie möchte das heranwachsende Kind in ihrem Leib nicht, während Jacob sich schon auf seine Vaterrolle vorbereitet.
Verena Güntner beschreibt ihre Protagonist*innen sehr genau, lässt sie aus den Zeilen springen als wären sie die Nachbarn, die man Tag wie Nacht um sich hat.
Die Sprache ist direkt, ohne Umschweife und Schnörkel kommt sie auf den Punkt.
Grundthema ist der scheinbar fix im patriarchalischen Denkmuster verankerte Ansatz, dass die Männer/Partner über den Körper ihrer Frauen/Partnerinnen entscheiden können. Was mit solchen Beziehungen passieren kann, wenn sich die Frauen dagegenstellen und ihre eigenen Entscheidungen fällen, erzählt dieser Roman sehr genau. Und es kann eine wahre Freude sein, dabei stiller Beobachter zu sein.
Das Buch ist ein wunderbarer Roman über das Thema 'My body, my choice' – über etwas, das in unserer Gesellschaft nach wie vor in großem Stil tabuisiert wird, und besonders die y-Chromosomenträger glauben, in gewissen Dingen den Frauen jegliches Recht absprechen zu können.
PS: Medulla ist laut Wikipedia der unterste Teil des Gehirns, der sich aus dem Embryonalstadium entwickelt, und den Übergang zum Rückenmark bildet. Und nun ja, in gewissen Situationen scheinen Männer tatsächlich nur rückenmarkgesteuerte Zombies zu sein.
Große Leseempfehlung für diesen glasklaren, fingerzeigenden und unterhaltenden Roman aus der Feder von Verena Güntner.

Bewertung vom 02.10.2025
Stevenson, Robert Louis

Reise mit einer Eselin durch die Cevennen


sehr gut

Reiseliteratur der besonderen und auch poetischen Art.

Den Autor kennen wir ja hauptsächlich von seinen berühmten Werken. Vor seinem schriftstellerischen Erfolg allerdings verfasste er unter anderem diesen Reisebericht.
1878 machte er sich auf, zu Fuß durch die Cevennen zu wandern. Bei einem Bauern kaufte er eine kleine Eselin, die ihn begleiten und sein Gepäck tragen soll. Er taufte sie Modestine. Anfangs, wie sollte es auch anders sein, bediente sich das Tier vom Klischee, welches ihm anhaftet, und versuchte, seinen eigenen Willen die Reisegeschwindigkeit betreffend, durchzusetzen. Irgendwann, und mit teilweise unschönen Maßnahmen erzwungen, die den Lesegenuss trüben, zeigte sich dann, dass die Klügere nachgibt und sich dem Willen ihres „Herren“ beugt.
Stevenson berichtet von seinen vielen Stationen und Begegnungen während seiner Reise. Vor allem Land und Leute stehen im Fokus, aber auch immer wieder finden sich Bezugspunkte, um in der Historie des Landstriches in die Vergangenheit zu blicken. Da gab es Aufstände und partielle Kriege. Und eines zieht sich durch den Roman wie ein roter Faden: die Diskrepanz zwischen Protestanten und Katholiken. Der Autor, als Schotte selbst der protestantischen Kirche zugehörig, sowie der ganze Landstrich mit wenigen Ausnahmen sich der gleichen religiösen Gesinnung unterworfen hat, kommt nicht umhin, die Differenzen öfter mal breit zu schlagen.
Neben all der Historie und Religion kommen aber auch andere Begegnungen und Naturbeschreibungen nicht zu kurz, sowie sein wahrer Faible für das Reisen und nächtigen unter freiem Himmel.
S.104: „Unter einem Dach ist die Nacht tot und eintönig, aber im Freien vergeht sie rasch mit Sternen, Tau und Duft, und die Veränderungen im Antlitz der Natur markieren die Stunden.“
Alles in allem habe ich das Buch trotz ein paar Abstriche gerne gelesen. Ist es doch immer wieder erstaunlich und interessant, welches „Mindset“ die Gemüter im Jahr 1878 beherrschte.
Somit gebe ich gerne eine Leseempfehlung für alle Interessierten.