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Insgesamt 48 Bewertungen
Bewertung vom 25.04.2024
Die Stimme der Kraken
Nayler, Ray

Die Stimme der Kraken


ausgezeichnet

Spannend und erschreckend realistisch - Stell dir vor, „wir entdecken, dass wir zwar die einzige Homo-Spezies sein mögen, es tatsächlich aber noch eine andere sapiens-Spezies gibt.“ Wie würden wir als Menschheit dieser Spezies begegnen? Im eigentlichen und übertragenen Sinne? Die Szenarien, die Ray Nayler in seinem Roman zum Leben erweckt, sind in jedem Falle spannend und phantastisch, wenngleich auch kritisch.
In der Zukunft sind die Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen sowie der sehr menschliche Android Evrim auf der evakuierten und streng abgeriegelten Insel Con Dao einem unglaublichen Phänomen auf der Spur. In der Tiefsee vor der Insel lebt eine Krakenpopulation, die offensichtlich in der Lage ist, bewusst zu kommunizieren. Unter der Aufsicht der Wissenschaftlerin Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan beginnen sie, die Hinweise zu entschlüsseln; unter Zeitdruck, denn von außen droht Gefahr. – Auf dem autonomen, KI-gesteuerten Frachter Sea Wolf arbeiten derweil Eiko und Son als Slaven unter unmenschlichen Bedingungen. Effizienter und günstiger als Salzwasser-anfällige Roboter müssen sie die letzten Fischbestände aus den Ozeanen holen und sind der permanenten Beobachtung durch die KI hilflos ausgesetzt. – In der Republik Astrachan erhält Rustem einen geheimnisvollen Auftrag, der sein ganzes Können verlangt. Als einer oder vielleicht der beste Hacker der Welt soll er Zugang zu einem besonderen KI-Netzwerk finden.
Zugegeben: Ich bin keine IT-Kennerin und brauchte einige Seiten, um in diesen Roman reinzukommen. All die neuen Technologien und Methoden, Alltag in diesem Roman, sind spooky –aber tatsächlich unglaublich nah an dem, was wir heute schon im Kleinen können. Und gerade das zeichnet diesen Roman aus: Nayler hat viel Recherche und Wissen in seine Story eingeflochten, was sehr realistisch anmutet. Das, verbunden mit vielen philosophischen und ethischen Ansätzen, macht dieses Buch zu einem krass guten und spannenden Roman.
„Das Großartige und das Schreckliche an der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind.“
Ganz in diesem Sinne stößt der Roman viele Themen unserer Zeit an: Die rasanten technologischen Entwicklungen, politische und gesellschaftliche Umbrüche, die weiterhin andauernde massive Ausbeute des Planten. Und hier treffen dann Fragen über unsere Zukunft auf tiefgründige philosophische Betrachtungen, die auch die Protagonisten des Romans betreffen: Wie weit wird KI unser aller Leben bestimmen? Wer werden die Gewinner, wer die Verlierer in diesem System von Macht, Ausbeute, Überwachung, technologischen Entwicklungen sein?
Besonders spannend fand ich die Gegensätze von Leben und Technologie in diesem Roman: Da ist auf der einen Seite der Android Evrim, eine perfekte KI, ein nahezu humanes Wesen. Der sich gemeinsam mit Ha Gedanken über sein „Menschlichsein“ und über ein Bewusstsein macht. Und auf der anderen Seite erleben wir eine Jahrtausende alte Spezies, die in vermeintlich einfachster „Sprache“ kommuniziert. Aber sind diese Kraken wirklich so „einfach“ entwickelt, wie wir Menschen das beurteilen, oder ist es gerade unser Unvermögen zur Kommunikation, das uns sie unterschätzen lässt?
Ergreifend realistisch auch das Gefühl der Gleichgültigkeit, das zum Ende des Romans an Bedeutung gewinnt, sich aber von Anfang an durch die Story zieht. Und die sich in allem manifestiert: im Umgang miteinander, mit der Natur, mit Technologie, mit dem Planeten.
„Was unsere Anwesenheit auf diesem Planeten tut, ist töten. Alles, was wir haben – alles, was wir zum Leben nutzen -, ist jemand anderem genommen worden.“
Ein spannender Roman, der sicherlich kein ruhmreiches Bild der Menschheit zeichnet, aber auf seine Art die richtig großen, globalen Themen unserer Zeit anspricht.

Bewertung vom 02.04.2024
Marseille 1940
Wittstock, Uwe

Marseille 1940


ausgezeichnet

Wichtiger, geschichtlicher Beitrag - 1940 greift Hitler Frankreich an. Das Land, das vielen als Zuflucht vor den Nazis galt, erfährt eine furchtbare Fluchtbewegung gen Süden. Unter den Flüchtenden auch zahlreiche Personen aus Literatur, Kunst, Politik und öffentlichem Leben, die in dem Land Schutz vor Verfolgung und Vernichtung suchten. Sie alle versuchen nun, das Land über die südlichen Grenzen Richtung Spanien und Übersee zu verlassen, um ihr Leben zu retten.

In Marseille hat der Amerikaner Varian Fry als Vertreter des Emergency Rescue Committee gemeinsam mit engen Vertrauten ein geheimes Netzwerk etabliert, um möglichst vielen Menschen die Flucht aus Frankreich zu ermöglichen. Bestückt mit einer in den USA definierten Liste an „zu rettenden Kunstschaffenden“ ist es an ihm, diese ausfindig zu machen und sie in Sicherheit zu bringen. Am Ende werden es über Tausend sein, Künstler, Juden, politisch Verfolgte, Andersdenkende, alliierte Soldaten – Menschen, denen er und seine Mitstreiter unter größter Gefahr des Entdeckt-Werdens zur Flucht verhelfen.

Lion Feuchtwanger, Hannah Arendt und Heinrich Blücher, Anna Seghers und ihre Familie, Lisa und Hans Fittko, Franz und Alma Werfel, Marc Chagall, Max Ernst und so viele mehr. Sie alle verdanken ihr Überleben dem riskanten Einsatz von Varian Fry und seinen Unterstützern und Weggefährten. Doch kennen die Wenigsten von uns wohl diesen Amerikaner und seine Lebensgeschichte.

Und so ist für mich dieses Buch in erster Linie ein Zeugnis von Menschenliebe, Aufrichtigkeit und Hilfe unter größten Gefahren, um in unmenschlichsten Zeiten das Leben Unzähliger zu retten. Nicht allein große Namen, sondern auch so viele andere, die Frys Hilfe in Anspruch nahmen. „Sich für einen weltberühmten Mann einzusetzen, um ihn zu schützen, ist vergleichsweise einfach. Wie viel schwieriger ist es, einen unbekannten Flüchtling zu retten.“ - Ein authentisches und ergreifendes Stück Geschichte und ein emotionaler „Nachruf“ auf einen stillen, wenig bekannten Mann, der Großes leistete, Varian Fry.

Bewertung vom 21.03.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


sehr gut

Ein spannendes Gedankenspiel: Was würdet ihr tun, wenn ihr die Möglichkeit hättet, 20 Jahre in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu reisen? Würdet ihr stumm beobachten oder eingreifen und ein Ereignis ungeschehen machen, Begegnungen und Entscheidungen beeinflussen? Nicht wissend, welche Auswirkungen dies für die Zukunft haben könnte. Dieses „was wäre, wenn“ greift Scott Alexander Howard in seinem Debütroman auf und bettet diese eher philosophischen Betrachtungen in einen Spannungsroman mit einem Hauch Fantasy.

Ein Tal eingebettet in hohe Bergketten am Ufer eines Sees. Hier leben Odile und ihre Freunde Alain, Edme, Jo und Justine. Ein ganz normales Dorf, wären da nicht die identischen Dörfer, die sich nach Osten und Westen in identischen Tälern anreihen – jeweils um 20 Jahre zeitversetzt; nach Osten in die Vergangenheit, nach Westen in die Zukunft. Alle Dörfer sind gut gesichert und bewacht voneinander abgeschirmt. Nur in Trauerfällen dürfen nach vorheriger Genehmigung durch das Conseil Angehörige die Grenzen überschreiten – versteckt hinter Masken und begleitet von Gendarmen. Odile, eine 16-jährige, stille und eher in sich gekehrte Schülerin mit Ambitionen auf einen der begehrten Ausbildungsplätze im Conseil sichtet nun eines Tages ein hinter Masken verstecktes Paar. Sie erkennt in ihnen die gealterten Eltern ihres Freundes Edme. Schlagartig begreift sie, dass diese aus dem westlichen Tal kommen, um noch einmal einen Blick auf ihren verstorbenen Sohn erhaschen zu dürfen. Für Odile ein Moment und eine Erkenntnis, die alles verändern wird.

Howards Roman lässt sich schnell und flüssig „wegschmökern“. Edmes Eltern treten bereits sehr früh in Erscheinung und so fiebert man als Leserin die ganze Zeit mit Odile und ihrem Gedankenkarussell mit. Sagt sie etwas, sagt sie nichts. Wie würde sie sich in abstrakteren Fällen verhalten? Kann sie eingreifen, ohne dass jemand etwas merkt und hätten ihre Entscheidungen auch Auswirkungen auf sie selbst und ihren weiteren Lebensverlauf? Eine spannende Idee, die Howard hier in einem Dorf irgendwo auf der Welt spielen lässt.

Für mich persönlich hat der Roman im zweiten Teil leider etwas nachgelassen. Noch immer konnte ich zwar mit Odile mitfiebern; gleichwohl hatte es hier einige Längen und die Schilderungen ihres Arbeitsalltags waren mir auf eine Art zu wiederholend und ein bisschen zu klischeebehaftet. Das konnte dann auch der gelungene Twist am Ende der Geschichte nicht ganz wett machen.

Für alle, die Coming-of-Age Romane, Dystopien und Fantasy mögen, ist dieser Roman in jedem Falle eine spannende und kurzweilige Unterhaltung, die zum Nachdenken anregt!

Bewertung vom 08.03.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Poetische, sprachgewaltige Mutter-Tochter-Geschichte Was für ein sprachgewaltiges, emotional tief berührendes Debüt Christine Vescoli uns mit diesem Mutter-Tochter-Roman geschenkt hat! Eine Liebeserklärung an die Frau, die der namenlosen Erzählerin ihr N I C H T S hinterlassen hat und die doch nach ihrem Tod so allgegenwärtig zu sein scheint.
„Was von Mutter unsichtbar war. Ich hatte es vor Augen und konnte es nicht sehen. Es ist das von Mutter unsichtbar Gemachte. Eine Lücke mitten im Leben. Der Nebel mitten im vergilbten Bild. Ein Nichts, das da ist.“
Nur wenig bleibt der Tochter nach dem Tod der Mutter. Kurze Sequenzen und kleine Fragmente, die kein Bild ergeben, im leeren Raum verharren. Aufgewachsen in Südtirol, wo die Menschen arm waren aber viele Kinder hatten. Wo Hunger gelitten wurde. Wo die Mutter bereits mit 4 Jahren von der Familie weggegeben wurde und mit 8 Jahren dann als Dirn zum Arbeiten auf einen Hof kam. Ein Hof, auf dem Härte, Kälte und Strenge herrschte. Dem konnte die Mutter nichts entgegensetzen als laute Gedichte und Lieder, herausgerufen in die Kälte. Nie kehrte sie in die Familie zurück, blieb immerzu nur ein Gast.
Die Erzählerin begibt sich auf Spurensuche, reist zurück in die Vergangenheit an die Orte der Erinnerung. Versucht, das bisschen, das ihr von der Mutter geblieben ist, zu halten und erkennbar zu machen. „Mutter, ich will sehen, was du vor mir verborgen hieltest“.
Was so entsteht sind Bilder und verschwommene Erinnerungen, wie es hätte sein können, Wege zur Wahrheit und Wirklichkeiten, die ein Nichts füllen könnten - aber eben doch nur Möglichkeiten abbilden.
Christine Vescoli hat mich mit ihrer poetischen und kraftvollen Sprache vollends in ihren Bann gezogen: dieses Nichts, das trotz des Versuchs, ihm etwas entgegenzusetzen, allgegenwärtig ist; die Sehnsucht der Tochter nach Antworten. Sprachgewaltige, schmerzvolle Sätze und Gedanken voller Zuneigung, die noch lange nachhallen. Für mich ein ganz, ganz wertvolles und großartiges Debüt! Wunderbar!

Bewertung vom 24.02.2024
Acqua alta
Autissier, Isabelle

Acqua alta


ausgezeichnet

Eindringlicher Appell -Der Klimawandel erscheint oftmals eher als abstrakte Bedrohung. Die daraus resultierenden Katastrophen, Feuer, Dürren, Hochwasser, tangieren uns da schon mehr, werden dann gelebte Realität, wenn sie vor der Haustür geschehen oder das persönliche Umfeld betreffen.

Isabelle Autissier hat solch ein Schreckensszenario sehr real und greifbar gemacht. Denn Klimakatastrophen wie Flutwellen und Hochwasser gehören auch in Europa zu realen Bedrohungen. Dieses Mal nun trifft es Venedig, die Stadt, die auch in der Vergangenheit immer wieder mit Acqua Alta zu kämpfen hatte. Eine verheerende Flut löst eine Kettenreaktion aus, der die Lagunenstadt nichts entgegenzusetzen hat. In gewaltigem Getöse geben tausende Tonnen Stein und ebenso viele Pfähle nach. Die Stadt versinkt.

Einem Rollenspiel gleich treten nun die unterschiedlichen Akteure nach vorn, die die Diskussionen tragen: die Vertreter der Wirtschaft, die Wachstum und Profit vor alles andere stellen; die Aktivisten, die sich mit zum Teil radikalen Mitteln für Umwelt und Naturschutz einsetzen; die Wissenschaftler, die vielleicht Gehör finden, aber noch immer zu wenig erreichen können; die Ignoranten, die stoisch weitermachen wie bisher ; die große, namenlose Masse all derjenigen, die der Katastrophe zum Opfer fallen.

In persona ist das die Familie Malegatti. Vater Guido ist im Stadtrat für die Wirtschaftsbelange Venedigs verantwortlich. Massentourismus ist für ihn der Garant für Macht, Erfolg und wirtschaftliches Wachstum. Seine Tochter Léa ist Umweltaktivistin und arbeitet aktiv gegen den Vater. Ausschlaggebend dafür u.a. ihr Geliebter und Professor, der sich als Wissenschaftler für eine wirtschaftliche Kehrtwende zum Erhalt der Lagunenstadt stark macht. Die Mutter Maria Alba tangiert das Getöse ihrer Familie wenig. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, die von Stellung und Ansehen, gutem Essen und glanzvollen Auftritten geprägt ist.

In Rückblenden erleben wir die Argumentationen und das Aufeinandertreffen der einzelnen Protagonisten. Die Sprache eher ruhig und sachlich, unterbrochen aber immer wieder von emotionalen Bildern, nahezu poetischen Gedanken. Als würde ich im Angesicht von Tod und Trümmern noch immer den Glanz der Stadt erkennen.

Mir gefiel dieser nüchtern erzählte Roman sehr gut, gerade weil er auf unaufdringliche Art und Weise verdeutlicht, wie bedrohlich der Klimawandel ist. Die klischeehafte Darstellung der Protagonisten hat gut dazu beigetragen, die großen Konfliktpositionen auszumachen. Für meine Begriffe allerdings hat Autissier da an manchen Stellen zu dick aufgetragen. Die minderjährige Studentin, die sich auf eine Affäre mit dem viel älteren Professor einlässt und sich erst durch ihn als Frau fühlt; der italienische Politiker, der selbstverständlich ein aufbrausender Macho ist und dem Korruption nicht ganz fremd ist; die ewig gestrige, verarmte adlige Mutter, die wie aus dem vorletzten Jahrhundert erscheint. Diese Klischees erschienen mir zu überzeichnet, fragwürdig und überholt und wären für die Eindringlichkeit des Themas nicht nötig gewesen.

Dennoch ein eindringlicher Roman, der viele Fragen aufwirft und einmal mehr die Diskrepanz der Kehrtwende in der Klimapolitik verdeutlicht.

Bewertung vom 19.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


ausgezeichnet

Starkes und bewegendes Debüt -Julja Linhofs Debütroman hat mich vom ersten Satz an inhaltlich wie erzählerisch gefesselt und so viele Bilder und Emotionen geweckt, dass ich am Ende das Bedürfnis hatte, direkt nochmal von vorn zu beginnen.

Es ist ein trockenheißer Sommer. Der 19-jährige Georg „Jirka“ kehrt nach 5 Jahren Abwesenheit auf den heruntergekommenen Elternhof zurück. Dort trifft er auf eine Mauer aus Ablehnung und Unbehaglichkeit: Seine ältere Schwester Malena zeigt ihm die kalte Schulter, hat er sie doch zu lange mit dem gewalttätigen und lieblosen Vater allein gelassen. Die Großmutter Agnes hatte einst als „Ersatz“ für die zu früh verstorbene Mutter gedient, lieblos und mit Strenge, jetzt dement und nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Der Vater selbst lässt sich nicht blicken. In dieser beklemmenden und ablehnenden Atmosphäre begegnet einzig Leander, der Sohn des verstorbenen Verwalters, Jirka offen und wohlwollend. Aber genau diese Offenheit setzt Jirka erst recht zu, löst sie doch in tief sitzende Verdrängungen und verborgene Gefühle aus.

Nach und nach eröffnet sich der Leserin das Ausmaß der Verletzungen und Traumata, die die jungen Erwachsenen in ihrer Kindheit erleiden mussten. Und die Leere, Einsamkeit und Lieblosigkeit, die sich offenbart, wird greifbar, ebenso wie die Hoffnung auf Zuneigung und einem Halt im Leben.

„Da ist das Internat, der Ort, an dem mein Inneres wieder zusammengewachsen ist. Krumm, und mittendrin ein riesiger Spalt. Aber lebensfähig. Und da ist der Hof, der zu mir gehört wie meine Gliedmaßen, den ich nicht wegdenken kann, den ich meide und der mir trotzdem fehlt wie sonst nichts in meinem Leben.“

Julja Linhof beschreibt diese Szenerie in einer Dichte und erhitzten Atmosphäre, die ihresgleichen sucht. Die Schwüle des Sommers dringt in jede Ecke des alten Hofes ein und macht auch vor seinen Bewohnern nicht halt. Vorwürfe, die sich entladen, Erinnerungen, die Jirka einholen, Spannungen, die in der Luft liegen, aber auch zaghafte und heilende Annäherungen. Großartig, wie die Autorin die Gefühlswelt der drei jungen Menschen mit der melancholischen, drückenden Umgebung verwebt und diese Schwere in ihre Erzählsprache übersetzt.

Mir hat dieser Roman wahnsinnig gut gefallen und ich bin mir sicher, dass er uns noch lange begleiten wird. Und ich hoffe sehr, dass wir zukünftig noch viel mehr von Julja Linhof lesen dürfen.

Bewertung vom 19.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


ausgezeichnet

Jäger und Beute -Dieser Roman ist der Wahnsinn! Im wahrsten Sinne des Wortes! Sicherlich nichts für schwache Nerven aber einmal angefangen taucht man erst auf Seite 253 nach Atem schnappend wieder auf!

Es geht um die Großwildjagd in Afrika. Das allein schon ist ein aufgeheiztes Thema, das in all seinen moralischen, wirtschaftlichen und kulturellen Facetten starke Kontroverse hervorruft. Ganz zu schweigen vom Artenschutz und der vom Kolonialismus geprägten Historie.

Das Ziel eines Großwildjägers: die Big Five. Aber wie wäre es, wenn man dem noch die Krone aufsetzen könnte? Eine sechste Art hinzukäme?

Hunter White – der Name ist Programm! – ist so ein Jäger. Steinreich. Ein Wohltäter Afrikas. Die Spitze der Nahrungskette. Tötet allein der Jagd wegen. Die Trophäe eher etwas für die Ehefrau daheim. Er kommt nach Afrika, um seine Big Five endlich vollzumachen. Frustriert, weil dies in letzter Sekunde vereitelt wird, erfährt er so das erste Mal von den Big Six. Aufgepumpt mit Adrenalin, Jagdfieber und den besten moralischen Absichten beginnt sein Kopf zu arbeiten…

Gaea Schoeters Roman ist genauso gegensätzlich wie seine Thematik. Die Bildsprache gewaltig und faszinierend, einen kleinen Landstrich Afrikas beschreibend, der so vielfältig ist, dass es einem die Sprache verschlägt. Du spürst die Hitze, hörst die unzähligen, fremdartigen Geräusche, nimmst eine vollkommen andere Landschaft vor deinem geistigen Auge wahr. Erhälst faszinierende Einblicke in Kultur und Bräuche längst durch den Kolonialismus und die Folgen der „weißen“ Zivilisation zurückgedrängten Stämme und Völker. – Und bist gleichzeitig den Gedankengängen eines weißen, „zivilisierten“ Mannes ausgesetzt, dem der Jagdinstinkt und die Überlegenheit quasi in die Wiege gelegt wurden. Der mit manch verstörenden, schockierenden Thesen aufwartet, dann wieder eher versöhnliche Töne anschlägt. Der in jedem Falle polarisiert und doch auch immer wieder Argumente aufführt, die durchaus populär sind und im Pro und Contra der Großwildjagd und des Artenschutzes ebenso wie im Kontext des Kolonialismus und dessen Folgen für den gesamten Kontinent zum Tragen kommen.

Gaea Schoeters Darstellung ist in vielerlei Hinsicht ein Maximum, eine Gratwanderung, die bis an ihre Grenzen geht. Aber eben auch nur bis an Grenze und nie drüber. Sich der Klischees und überspitzten Charaktereigenschaften eher als stilistisches Mittel bedient. Das war für mich persönlich krass gut und zutiefst aufwühlend.

Bewertung vom 06.02.2024
Das Lächeln der Königin
Gerhold, Stefanie

Das Lächeln der Königin


ausgezeichnet

James Simon und seine Königin - Hauptfigur des Romans ist der jüdische Unternehmer und Berliner Mäzen James Simon, der Anfang des 20. Jhds. mit anderen Kunstinteressierten die Deutsche Orient-Gesellschaft gründet. Diese nun finanziert Grabungen unter der Leitung des Archäologen Ludwig Borchardt in Tell el-Amarna – und eben dort findet dieser die wunderschöne Büste der Königin Nofretete, die zweite Hauptfigur, wenn man so will. Bis sie dann aber erstmalig in Berlin einem breiten Publikum vorgeführt werden kann, sollen noch etliche Jahre vergehen.

Gerhold verflechtet gekonnt Fiktion und Realität zu den Ereignissen rund um die Büste der Nofrete und bedient sich dabei verschiedener Genres. So liest sich das Buch als biographischer Roman über das Leben James Simons, über sein großes kulturelles und soziales Engagement und seine Liebe zur Archäologie. In diesem Kontext offenbart der Roman in erschütternd nüchterner Art und Weise den „salonfähigen“ Antisemitismus, der sich bis in allerhöchste Kreise zog und bereits lange vor den Nazis ein gesellschaftlich-politisches Thema war. – Dann wiederum erhält man Einblicke in den „kolonialen Grabungsrausch“ in Ägypten und die Verhandlungen, die mit den Grabungsländern zum Aufteilen der Funde geführt haben. Als historischer Roman werden nicht nur diese, sondern auch weiterhin politische Ereignisse in Deutschland aufgegriffen. – Und dann liest sich der Roman auch als große Liebeserklärung an die Königin und die wunderbaren Kunstschätze, die sie im Neuen Museum umgeben.

Kritiker mögen anmerken, dass die eine oder die andere Lesart zu oberflächlich war. Auch der Ton des Romans mag an manchen Stellen ein bisschen zu nüchtern gewesen sein. Ich fand diese Mischung beim Lesen perfekt, gerade weil die Sprache in ihrer Art wunderbar die Zeit und die Figuren des Romans wiedergespiegelt hat. Allein die ehrfurchtsvollen Worte beim erstmaligen Aufstellen der Büste!

Bewertung vom 30.01.2024
Fall, Bombe, fall
Kouwenaar, Gerrit

Fall, Bombe, fall


ausgezeichnet

Eindrückliche Antikriegsnovelle - Gerrit Kouwenaars Novelle erschien bereits 1950 in den Niederlanden. Subtil und in einfachen Worten schildert er, wie Krieg, von einem Tag auf den anderen, Kindheit und Jugend auslöschen kann.
Im Mai 1940 lebt der 17-jährige Karel in einer Stadt in den Niederlanden. Er gibt sich Tagträumen und Wunschdenken hin, in denen der Krieg in den Nachbarländern in punktuellen Ereignissen auch zu ihm kommt. Sie möge doch endlich fallen, die Bombe, damit es endlich mal ein Ereignis gäbe. Als verklärte Wahrnehmung eines Jungen vom Jugendlichen zum Erwachsenen verknüpft er diese Ideen eher mit einem großen Abenteuer als mit dem, was es ist: Tod und Verderben. Als er die jüdische Geliebte seines Onkels und deren Tochter kennenlernt, ist es die kindliche Liebe, die ihn aus der Eintönigkeit befreien könnte. Tod, Leid, Judenverfolgung scheinen für ihn abstrakte Begriffe ohne Emotionen und persönlichen Bezug zu sein. Weit weg und nicht Gegenstand seines noch kindlichen Gemüts. Bis er einen Brief überbringen muss und die Realität ihn einholt.
Kouwenaars Novelle ist von einfacher Sprache, spiegelt sie doch die naive und verträumte Gesinnung ihres Protagonisten wider. Und trotzdem ist sie von einer furchtbaren Intensität, verdeutlicht sie doch den irrgeleiteten Eifer der jungen Generation im zweiten Weltkrieg, die, ahnungslos von Realität, zur Verteidigung des Vaterlands heldenhaft in den Krieg ziehen wollten.
Dieses Antikriegsbuch verknüpft Fiktion mit autobiographischen Elementen des Autors, die im Nachwort des Buchs geschichtlich eingeordnet werden. Das gibt dem Ganzen nochmals eine zusätzliche erschreckend reelle Nuance.

Bewertung vom 15.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


ausgezeichnet

Wunderbare, zarte Geschichte über Freundschaft und Familie - Iris Wolffs neuer Roman nimmt uns mit auf eine wunderbare, poetische Reise zurück in die Leben unserer beiden Protagonisten und zurück in die lichten Erinnerungen ihrer prägenden Erlebnisse.
Lev und Kato sind Freunde seit ihrer Kindheit. Damals, im kommunistischen Rumänien, in Siebenbürgen, ist Lev ans Bett gefesselt und Kato sein Lichtblick. Er, der deutsche Junge inmitten rumänischer Halbgeschwister, verwurzelt in der Heimat und in den Erinnerungen an Vater und Großvater. Sie, Halbweise, Tochter eines Trinkers, Außenseiterin, klug und wissbegierig, mit einem großen Zeichentalent. Zarte freundschaftliche Bande entstehen, die über die Jahre mal enger, mal weiter geknüpft sind, aber sich doch nie voneinander lösen.
Iris Wolff erzählt chronologisch rückwärts die Geschichte zweier ungleicher Menschen. Gleich dem Kennenlernen von Fremden beginnt sie in der Gegenwart und lässt uns nach und nach in neun Episoden unsere beiden Figuren entdecken und verstehen. Immer geht es ein Stück weiter in die Vergangenheit, immer ist es eine „Lichtung“ im Lebenslauf, eine besondere Begegnung, ein Ereignis, das die persönlichen Entwicklungen von Kato und Lev geprägt haben. Zwei Menschen, deren Leben sich im Rumänien des Kalten Krieges trafen und deren Wege sich in unterschiedliche Richtungen schlängelten. Iris Wolffs Sprache ist poetisch und bildreich, ihre Sätze sind intensiv und doch sehr anmutig und zart. Gleich einem Bild im Roman ist es, als würde man am Rand einer Lichtung stehen und durch die Sonnenstrahlen plötzlich für einen ganz kurzen Moment vollkommene Klarheit erlangen. Jede Figur hat ihre Rolle und ist selbst in kleinen Randerscheinungen fein gezeichnet und von tieferer Bedeutung. Und so handelt der Roman von Freundschaft, Familie und Vertrauen, von Zugehörigkeit und den Wurzeln der eigenen Identität, von enger Verbundenheit inmitten von Gegensätzen, von Freiheit, Flucht und Verlassenwerden.
Wie prägen unser Leben und Erlebnisse unsere Identität, unsere Lebensentwürfe, unsere Zukunft? Was sind die Bande, die uns über Jahre und Jahrzehnte miteinander verknüpfen? Lev und Kato zeigen uns dies in Fragmenten, in kleinen Lichtungen ihres Lebens.

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