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Frau Goethe
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Hamburg

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Insgesamt 8 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2022
Das Mädchen und der Totengräber / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.2
Pötzsch, Oliver

Das Mädchen und der Totengräber / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.2


ausgezeichnet

Die neuzeitliche Mumie

Wien, 1894. Das Team um Inspektor Leopold von Herzfeldt wird ins Kunsthistorische Museum gerufen. In der Abteilung für Ägyptologie wurde eine Mumie entdeckt, die sich von ihren dreitausend Jahre alten Pendants unterscheidet. Es ist der Professor, der erst vor kurzem bei einer Expedition eine Grabkammer eines Pharaos entdeckte. Er wurde fachmännisch präpariert. Für Leopold steht fest, dass es Mord und kein Fluch war. In Wien treibt aber zur selben Zeit ein Serienmörder sein Unwesen. Vorwiegend junge Männer sind seine Opfer. Die Spur führt durch die unterirdisch angelegten Kanäle, wodurch die Kleidung des Piefkes sichtbar leidet. Totengräber Augustin Rothmayer steht Leo bei der Lösung wieder mit seinem Fachwissen zur Seite.

Oliver Pötzsch lässt seine Figuren zum zweiten Mal in Wien Ende des 19. Jahrhunderts ermitteln. Leo von Herzfeldt steht vor einem rätselhaften Fall und bedarf das Wissen des Totengräbers Augustin Rothmayer. Ebenfalls steht ihm Julia zur Seite. Ansonsten hat der Inspektor immer noch gegen die Vorbehalte seiner Kollegen zu kämpfen, die den Grazer mit hochdeutscher Aussprache nicht als den ihrigen anerkennen wollen. Er ist halt ein Piefke. Seine Mitstreiter bewegen sich ebenfalls nicht in der höheren Gesellschaft, in welcher dieser Fall ermittelt wird. Julia ist eine unverheiratete Mutter eines taubstummen Mädchens und dem Totengräber haftet schon allein von seiner Erscheinung etwas Seltsames an. Jeder für sich ist ein interessanter Charakter und gemeinsam bilden sie ein unschlagbares Team, das der Handlung einige Wendungen verleiht.

Die Epoche vor dem Großen Krieg wird in dieser historischen Krimiserie bildhaft beschrieben. Sie wirkt düster genug, um den Gräueltaten eine Kulisse zu bieten, und gleichzeitig bieder genug, um damit zu überraschen. Es wurden Kuriositäten ausgestellt, die uns heute den Kopf schütteln lassen, damals aber in den Zeitgeist passten. Es war die Zeit der Forschung und Beweise in den Naturwissenschaften. Immer mehr Zusammenhänge wurden erkannt und häufiger zum Heilen von Krankheiten eingesetzt. Auf der anderen Seite gab es immer noch strenge gesellschaftliche Regeln, die sich vor allem Frauen wie Julia zu beugen hatten. Auch Rothmayer bekommt in diesem zweiten Band Besuch vom Jugendamt, weil er dem Mädchen Anna ein Zuhause gegeben hat. Während der Mörder gesucht wird, taucht der Leser auch tief in die vergangene Zeit ein.

Der Kriminalfall ist über knapp 500 Seiten spannend angelegt. Zunächst wird die scheinbar antike Mumie untersucht. Auf der Suche nach dem Täter wird eine weitere Tat entdeckt, die möglicherweise ein Unfall ist. Stück für Stück werden nun die Hinweise eingestreut, bis sich am Ende ein grausames Bild ergibt. Die Spannung steigt gerade zum Schluss enorm an, wo es für die Figuren gefährlich wird. Während der Ermittlungen erweitert sich der Kreis der Verdächtigen. Rothmayers Buch über Totenkulte schürt die Gedanken des Lesers dahingehend sogar. Spoileralarm: Nur eine der Spuren ist die Richtige.

Bei Romanen von Oliver Pötzsch verdirbt man sich übrigens den Lesespaß, wenn man das Nachwort zuerst liest. Auch hier werden Hinweise erklärt, die vorzeitig zur Auflösung führen. Es werden wie gewohnt Fakten dargelegt, deren Kenntnis ein gewisses Fachwissen erfordert. Der Krimi ist für manche Leser bestimmt ein Teaser, um sich mehr mit Ägyptologie und Medizin zu beschäftigen. In jedem Fall ist er ein unbedingter Lesetipp.

Das Mädchen und der Totengräber ist der zweite Band in der Krimiserie um Inspektor Leopold von Herzfeldt und Augustin Rothmayer. Die Entwicklung der Charaktere ist vorangeschritten und weckt die Neugier auf den nächsten Fall. Wiens Gesellschaft wird in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit seinen Gepflogenheiten dargestellt. Der historische Krimi hält die Spannung bis zum Ende und verlangt in Bezug auf die Beziehungen der Figuren nach einem weiteren Teil.

Bewertung vom 01.05.2020
Im Bann der Fledermausinsel / Frey & McGray Bd.4
Muriel, Oscar de

Im Bann der Fledermausinsel / Frey & McGray Bd.4


sehr gut

1889, Schottland. Inspector Ian Frey hält sich spätabends noch im CID auf, um die Berichte des vorhergehenden Falls abzuschließen, als ihn Millie Fletcher aufsucht. Sie hat eine lange Reise auf sich genommen und Frey beschließt, sich ihre Geschichte anzuhören. Am Loch Maree hat ihr unehelich geborener Sohn eine Todesdrohung erhalten. Frey zweifelt, ob er sich der Sache annehmen soll, aber sein Onkel Maurice, der unbedingt das neue Heim seines Neffen inspizieren wollte, ist Feuer und Flamme. Zudem hätte man auf der entfernten Insel ein Heilmittel, mit dem McGrays Schwester Patsy geheilt werden könne. Der Kollege würde also auch alles daran setzen, um nach Loch Maree zu kommen. Doch noch hält er sich auf den Orkney-Inseln auf, in deren Abgeschiedenheit Patsy inzwischen lebt. Vor sechs Jahren richtete sie ein Blutbad an, in dem die Eltern ihr Leben und McGray einen Finger verlor.

Ian Frey und Adolphus McGray arbeiten zusammen in der Sonderabteilung zur Aufklärung von „Sonderbarem und Geisterhaftem“ in Edinburgh. Oscar de Muriel kombiniert hier historischen Kriminalroman mit Mystery-Elementen. In diesem vierten Band, der zeitlich direkt an den Irving-Terry-Stoker-Fall anschließt, geht es um hämatophage Fledermäuse. Diese Gattung der Flugtiere hatte bereits Bram Stoker zu einem Roman inspiriert. Der aus Mexiko stammende Autor verlegt den Lebensraum dieser tropischen Art kurzerhand in die schottischen Gefilde. Seine Figuren lässt er dabei plausibel nach den Gepflogenheiten der viktorianischen Epoche handeln. Zusätzlich verdeutlicht er die unterschiedlichen Mentalitäten zwischen Engländern und Schotten im Königreich. Diese Differenzen führen normalerweise unwillkürlich zu humorvollen Abschnitten in der eher düster-schaurigen Handlung. In diesem Fall arbeiten die beiden Ermittler aber mehr getrennt als zusammen.

Die Umgebung bietet die richtige Kulisse für dieses Genre. Loch Maree im Nordwesten Schottlands wird von den Erhebungen eingefasst. Im nebligen Dunst kann man auch in Natura nicht sofort alles erkennen. So verhält es sich ebenfalls mit der Aufklärung des Mordfalls an einem Constable. Nur wenige Einwohner kommen als Täter in Frage und schnell wird deutlich, dass auch Frey und McGray in Gefahr sind. Zusätzlich sorgen einige Wendungen dafür, dass die Beweggründe und eben auch der wahre Täter lange unerkannt bleiben. Dafür wurden auch die Figuren sorgfältig ausgewählt, die zwar einigen Klischees entsprechen, aber durch weitere Facetten überraschen können. Hier glaubt man sofort, dass jemand ein Wundermittel gegen Wahnsinn brauen könnte, das Patsy McGray wieder zu einem normalen Leben verhelfen könnte. Muriel, der im Fach Chemie promoviert hat, kann logisch ableiten, welche Elemente eine bestimmte Wirkung bei Erkrankungen hervorrufen würden. Im Nachwort gibt es die Erklärungen dazu. Um sich selber den Spaß nicht zu verderben, sollte man es diesmal wirklich erst zum Schluss lesen.

Die Serie um die Ermittler Frey und McGray hat im Englischen Original bereits einen fünften Band erhalten. In The Darker Arts geht es um die dunklen Künste einer Wahrsagerin. Ich hoffe sehr auf eine Übersetzung. Die Kommissare, die Ende des 19. Jahrhunderts mittels Logik gegen den verbreiteten Aberglauben angehen, unterhalten mit ihren fiktiven Verbrechen. Beide sind sympathisch gezeichnet und ergänzen sich mit ihren Eigenheiten. Alles zusammen verdient einen Lesetipp.

Bewertung vom 05.01.2020
Lottes Träume / Die Sonnsteins Bd.1
Maly, Beate

Lottes Träume / Die Sonnsteins Bd.1


ausgezeichnet

Lotte ist 22 als ihr Vater starb und sie ihren Lebensunterhalt selber verdienen muss. Die ski- und wanderbegeisterte Frau macht sich auf den Weg vom Land in die Hauptstadt Wien, um dort eine geeignete Arbeitsstelle zu finden. Im Laden für Bergsportausrüstung kommt sie ihren Träumen näher. Lotte kann mit ihrem Erfahrungen die Kundschaft beraten, welche Ski die passenden sind und welche Ausrüstung nötig ist. Ihre Chefin ist die ebenfalls vom Bergsport faszinierte Mizzi Langer-Kauba. Die Pionierin des Skisports war erste Teilnehmerin an einem Abfahrtsrennen. Sie revolutionierte ebenfalls die Kleidung für die Frauen, indem sie die langen Röcke durch Hosen ersetzte. Die Produkte in ihrem Geschäft präsentierte sie anschaulich in einem aufwändigen Katalog, der von Gustav Jahn gestaltet wurde.

Diesem historisch belegten Handlungsstrang schließt sich ein fiktiver an, in dem es um Lottes beginnende Beziehung zu dem jüdischen Arzt Jakob Sonnstein geht. Der Sohn eines Süßwarenfabrikanten ist mit einer anderen Frau verlobt, die ebenfalls aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie stammt. Jakob hegt keine Gefühle für sie, wiedersetzt sich aber auch nicht dem Wunsch seiner Eltern. Als Lotte von der Liaison erfährt, zerbricht ihre Welt. Zeitgleich verliert sie durch ein falsches Gerücht ihre Stellung und ihre einzige Freundin zieht in eine andere Stadt. Plötzlich ist sie allein in einer großen Stadt und weiß nicht, was der nächste Augenblick bringen wird. Sie hat Glück im Unglück und kann ihr Können als Textildesignerin beweisen. Ihr Leben scheint wieder geordnet, ihr Gefühlsleben jedoch weniger.

Beate Maly legt in diesem Auftakt zu einem Mehrteiler ihre Hauptfiguren an. Lotte verkörpert den Stand der Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die über keinerlei Vermögen verfügen, sondern sich auf ihre Talente verlassen müssen. Der krasse Gegensatz dazu bildet Mizzi Kauba, die aus wohlhabenden Haus stammt. Auch die Unternehmersfamilie Sonnstein folgt den gesellschaftlichen Regeln. Die beginnenden antisemitischen Parolen der Politik verletzen, aber noch ahnt niemand die späteren Auswirkungen. Die in Wien geborene Autorin setzt sich in diesem Roman ebenfalls mit den Frauenrechten der Epoche auseinander. Die moralischen Grundsätze weichen gerade beim Bergsport den praktischen Aspekten. Zudem bedeutet eine passende Kleidung mehr Sicherheit. Frauen wie Mizzi Kauba haben diesen Weg für die folgenden Generationen geebnet.

Eine weitere Nebenfigur um Lotte ist der auf der Straße lebende Fritz. Der Junge ist wegen der unmenschlichen körperlichen Züchtigung aus dem Waisenhaus geflohen. Nachts sucht er sich einen Schlafplatz in zugigen Kellern und hofft, dass ihn niemand bemerkt. Das Umfeld fördert Krankheiten wie Typhus und Diphtherie. Eine ausreichende Ernährung hatten diese Straßenkinder ebenfalls nicht. Fritz weckt durch seine offene Art sofort Sympathie. Im Verlauf der Geschichte kreuzen sich seine und Lottes Wege immer wieder. Lotte erhält ebenfalls Einblick in die Wohnsituation der Arbeiterklasse. Im Geschäft von Mizzi Kauba wohnt sie mit einer anderen Verkäuferin in einer kleinen Kammer. Sie bekommen Kost und Logis. Dafür erhalten sie Lohn und einen halben freien Tag pro Woche.

Der historische Roman ist der Beginn eines Mehrteilers. Die Protagonistin Lotte muss einige Hürden überwinden. Das Ende leitet nicht zwingend eine Fortsetzung ein, weckt allerdings die Neugier auf mehr. Die winterliche Skikulisse macht dieses Buch zur idealen Lektüre in eben dieser Zeit. Es macht Spaß, den Weg der durchsetzungsstarken Frauen in einer Umbruchszeit zu verfolgen.

Bewertung vom 11.11.2019
Das Mädchen aus der Severinstraße
Wieners, Annette

Das Mädchen aus der Severinstraße


ausgezeichnet

Mittendrin und doch nicht greifbar

Sabine hilft ihrer Großmutter Maria, deren Haus für den Verkauf vorzubereiten. Unter einem Teppich finden die beiden eine größere Summe Geld. Die Scheine waren ordentlich unter dem Teppich angeordnet, sodass man sie nicht auf Anhieb entdecken konnte. Hinter einer Holzwand im Keller hatte der Großvater zudem Goldbarren aufbewahrt. Maria bekommt eine Ahnung, dass dieses Geld noch aus Kriegszeiten stammt. Seinerzeit arbeitete er in einem Metallbetrieb, der Munition produzierte. Das kriegswichtige Unternehmen, das heute Spielzeug herstellt, möchte diese düstere Zeit aufarbeiten und hat dafür Moritz Bremer engagiert. Er soll eine Broschüre zur Firmengeschichte erstellen. Moritz nimmt Kontakt zu Sabine auf, weil er mehr über ihren Großvater wissen möchte.

Sabine ist Anfang 40 und hat als Mitarbeiterin beim Jugendamt mit schwierigen Familien zu tun. Sie ist es gewohnt, mit unkooperativen Gesprächspartnern umzugehen. Wie schwer ihr das manchmal fällt, ist für den Leser spürbar. Auch ihre Großmutter ist nach dem Fund des Geldes nicht gesprächig, sondern verschließt sich ihrer Enkeltochter gegenüber. Diese weiß nur, dass Maria in den 30-er Jahren ein Fotomodell bei Coutureschauen war und ihre Karriere nach der Heirat mit Heinrich aufgegeben hatte. Der Fund des Geldes wühlt die betagte Dame sichtbar auf. Da auch Moritz auf Sabine einwirkt, die Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren, lässt sie mit ihren Fragen nicht locker. In kleinen Portionen erfährt sie, was damals in Köln vorgefallen ist. Gleichzeitig erhält man einen Eindruck, wie sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten das Leben für die Bevölkerung änderte.

Die Figuren hat die Kölner Autorin Annette Wieners lebendig ausgearbeitet. Sie agieren glaubhaft. Der Handlungsstrang aus der Kriegszeit trägt die Geschichte. Auch als Leser möchte man mehr von Maria erfahren. Es geht dabei um Träume, Vertrauen, Unterstützung und Liebe. Alles, was das Leben ausmacht, wurde Maria während des Zweiten Weltkriegs genommen und sie musste es sich später wieder mühsam aufbauen. Erst 70 Jahre später realisiert sie, dass man ihr die ganze Zeit Wichtiges verschwiegen hatte. Ihre Liebe zum jüdischen Fotografen Noah durfte sie nicht ausleben. Man ließ sie in dem Glauben, dass er tot sei. Ihren Traum, als Fotomodell zu arbeiten, durfte sie nicht verwirklichen. Sogar von ihrem Vater und Heinrich wusste sie nicht alles. Erst Sabine hilft ihr, sich der Vergangenheit zu stellen und offene Fragen zu klären.

Beide Zeitebenen ergeben ein rundes Bild von der damaligen Zeit. Zum Teil schockieren die Szenen, zum Teil atmet man auf, dass es auch den Widerstand gab. Sowohl Maria als auch Sabine sind starke Charaktere, die die Belastungen des Alltags aushalten müssen. Jede in ihrer Zeit spiegelt die Gesellschaft. Sie sind sympathisch und gleichzeitig ein bisschen sperrig. Ihre Aktionen sind somit schwer vorhersehbar und überraschen. Der gewählte Schreibstil setzt das Kopfkino in Gang. Als historischer Roman mit dem Fokus auf den Widerstand in Köln ist dieses Buch unbedingt lesenswert. Es beschreibt eine Handvoll Helden in einer wahrhaft unrühmlichen Zeit.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.09.2019
Liebeserklärungen
Kaminer, Wladimir

Liebeserklärungen


ausgezeichnet

16 Arten die Liebe zu finden

Casanova war nie um eine verlegen, Cyrano de Bergerac legte die Messlatte für Geschriebenes sehr hoch und auch Goethe und Schiller beeindruckten mit ihnen: Die Liebeserklärungen. Von daher wurde es Zeit, dass auch Wladimir Kaminer mal über dieses innige Gefühl sinniert. Die Bücher werden zum Erlebnis, wenn der Autor sie selbst vorträgt. Sein russischer Akzent und der augenzwinkernde Humor entfachen immer Gelächter und wirken somit entspannend. Das Hörbuch enthält 16 Geschichten verteilt auf 140 Minute. Das sind zwar nur rund die Hälfte der Geschichten aus dem Buch, aber eben vom Autor selbst gelesen.

In seiner aktuellen Sammlung von Kurzgeschichten dreht es sich häufig um die Suche nach dem richtigen Partner, zu denen er auch gleich noch einige Anekdoten weiß, aber auch um die Liebe zu einem Haustier oder zu einem Popstar. Kaminers Tochter ist mit ihrer Freundin zu einem Konzert gegangen, in dem die Freundin den Hut des Sängers auffing. Niemals wieder wollte sie ihn absetzen. Die Liebe erlischt allerdings sehr schnell, wenn man sich in der Apotheke ein Mittel gegen Läusebefall holen muss. In gewohnter Manier werden so mehr oder weniger glückliche Beziehungen geschildert. Jede hat etwas Bemerkenswertes an sich, an die man sich noch länger erinnert. Manche Charaktere sind schon bekannt wie die Schwiegermutter oder Schwägerin Raisa, andere kommen neu hinzu. Bei manchen ahnt man, dass man sie nie wiedertreffen wird.

Die Geschichten sind gespickt mit Weisheiten und Lebenserfahrungen. „Der Klassenkampf fordert Entbehrungen vom Volk“, erklärt eine Mutter ihrer Tochter, die unglücklich in ihren viel älteren Professor verliebt ist. Dabei spielt der Autor mit den unterschiedlichen Mentalitäten. Die knappen, aber prägnanten Bezeichnungen tragen zur Auflockerung bei. Man hat sowohl die Beteiligten als auch die Situation sofort vor Augen. Manchmal braucht es keine weitere Ausführung als einen Schalkefan, dessen Mannschaft 4:0 gegen Dortmund verloren hat. Kaminers Vergleiche sind so treffend wie überraschend. Er schafft es, humorvoll über Stärken und Schwächen der Menschen zu plaudern, ohne sich über sie lustig zu machen. Auch seine eigene Verwandtschaft bleibt nicht verschont.

Das Hörbuch ist als Ergänzung zum Buch wie die Sahne auf den Erdbeeren, oder das Glas Wodka nach dem Essen. Manche Ausführungen hören sich mit der passenden Stimmlage noch perfekter an als würde man sie selber lesen. Die romantischen Liebeserklärungen an das Leben und die Liebe hört man sich sowieso mehrmals an.

Bewertung vom 21.08.2019
Für immer die Deine
Voosen, Jana

Für immer die Deine


ausgezeichnet

1937 erschüttert die Bewohner im Alten Land ein Skandal: Die 17-jährige Tochter des wohlhabenden Obstbauern bekommt ein Kind vom Sohn des Pfarrers. Klara und Fritz kennen sich schon von Kindesbeinen an. Fritz ist der beste Freund von Klaras Bruder Willi. Es ist klar, dass die beiden auch heiraten werden. Um dem Gerede im Heimatdorf Jork zu entkommen, sucht sich die kleine Familie in Hamburg ein neues Zuhause. Ihr gemeinsamer Sohn ist kaum zwei Jahre alt als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht. Fritz muss als Soldat an die Front.

80 Jahre später recherchiert die Journalistin Marie für das Magazin Zeitgeist eine Reportage über Zeitzeugen zum Zweiten Weltkrieg. Sie stößt auf Klara und Fritz. Das betagte Paar lebt in Jork und feiert demnächst Eichenhochzeit. Sie könnten den Bericht mit ihren persönlichen Erlebnissen bereichern. Doch Fritz gibt sich zunächst verschlossen. Marie muss ihre Bitte mehrmals vortragen, bevor sie eine ergreifende Lebensgeschichte erzählt bekommt.

Die Liebe war auch in den vorherigen Romanen von Jana Voosen ein großes Thema. Nun hat sie erstmals eine zweite Zeitebene hinzugenommen. Sie macht dabei jeweils Klara und Marie zur Protagonistin. Je tiefer man in die Geschichte eintaucht, desto deutlicher wird die unterschiedliche Wertschätzung einer Beziehung in den jeweiligen Zeiten. Marie lebt nach fünf Jahren Ehe bereits wieder getrennt von ihrem Mann. Sein Betrug hat sie tief verletzt, sodass sie seine Entschuldigung schon mehrmals zurückgewiesen hat. Stattdessen tröstet sie sich immer mal wieder mit einem Kollegen aus dem Verlag. Glücklich ist sie trotzdem nicht. Erst Klaras Schilderungen stoßen in Marie etwas an, dass sie über eine zweite Chance für ihre Ehe nachdenken lässt.

Klara beschließt, Marie die Fragen zu beantworten, die sie für ihre Reportage benötigt. Sie erzählt ungeschönt, wie sie das Überleben in der Kriegszeit gemeistert hat. Sie berichtet von den Bombenangriffen über Hamburg, von der Lebensmittelknappheit und von der permanenten Angst um Freunde und Familie. Sie lässt vor allem den Leser nachfühlen, wie sich die junge Frau allein in einer bombardierten Stadt gefühlt haben muss. Damit ihrem Sohn Paul nichts passiert, brachte sie ihn zu ihren Eltern nach Jork. Dank der dortigen Obstplantagen hatte Klara ein paar zusätzliche Äpfel zu ihren rationierten Lebensmitteln. Sie lässt den Leser mitfühlen, wie willkürlich mit den Menschen umgegangen wurde. Dazu kommt die Ungewissheit, wie es wohl den nahestehenden Familienmitgliedern an der Front ergeht. Nicht jeder kehrte zurück. Der Zusammenhalt unter der Nachbarschaft ist lebenswichtig und auch gefährlich, weil man immer damit rechnen muss, dass ein Verräter darunter ist. Durch Zufall entdeckt Klara, dass sich ein junger Roma hinter der Identität eines älteren Nachbarn versteckt. Sie ist bereit, ihn zu verstecken. Dabei gefährdet sie auch ihr eigenes Leben. Es kommt allerdings noch schlimmer: Ihre Affäre bleibt nicht ohne Folgen. Als Fritz von der Front heimkehrt, scheint ihre Ehe am Ende.

Diese persönlichen Erinnerungen lesen sich, als würde Klara es uns ebenfalls erzählen. Sie tragen dazu bei, dass ein Verständnis für jedermanns Handeln aufgebaut wird. Die Epoche wird dadurch lebendig und regt zum Vergleich mit der Gegenwart an. Die Werte haben scheinbar nicht mehr dasselbe Gewicht, wenngleich sie immer noch dieselben sind. Am 1. September jährt sich der Ausbruch des Weltkrieges zum 80. Mal. Die dunkle Geschichte sollte vor allem darum nicht vergessen werden, weil sie sich keinesfalls wiederholen darf. Der Mut und die Entbehrungen, die jeder aufzubringen hatte, sind sonst umsonst gewesen. Der Roman erinnert daran und lässt auch die heutige Generation daran teilhaben, auch wenn die Zeitzeugen immer weniger werden.

Bewertung vom 27.05.2019
Die Rosengärtnerin
Lott, Sylvia

Die Rosengärtnerin


ausgezeichnet

Ella erhält die Nachricht, dass die Baronin Jeanne de Cremont ihr ein Anwesen an der Loire vererbt hat. Die junge Journalistin ist überrascht und sieht die Erfüllung des Testaments als Chance, ihr Leben zu verändern. Jeanne hat nämlich zur Bedingung gemacht, dass Ella ein Jahr im renovierungsbedürftigen Haus wohnen muss, bevor es ihr gehört. Es beginnt eine turbulente Zeit, die in Windeseile vergeht.

Rund 75 Jahre früher lebte Jeanne in Bordelais. Es war Krieg und die Gegend von den Deutschen besetzt. Die junge Frau half auf dem naheliegenden Weingut. Der Sohn des Winzers war ihr bester Freund. Mit ihm zusammen gelang es, die wichtigen Dinge des Lebens zu organisieren. Unwissentlich half sie sogar beim Widerstand. Als sie dabei fast aufgeflogen wäre, entschied sie, als Fremdarbeiterin nach Deutschland zu gehen. So kam sie auf den Hof der Familie Bohlmann nach Südermarsch in Ostfriesland. Jeanne verliebte sich in den Bauern, der allerdings schon verheiratet war.

Sylvia Lott widmet sich in ihrem siebten Roman erneut einer Familiengeschichte. Sie verwebt dabei ein Stück Historie mit fiktiven Ereignissen, deren Folgen die Gegenwart beeinflussen. Wie gewohnt ist die Vergangenheit dramatisch und doch so real, und in der Gegenwart treffen wir eine starke Frau, die diese Eigenschaft noch gar nicht an sich festgestellt hat. Es erwartet den Leser also ein Roman auf zwei Zeitebenen, bei dem man sich rundum wohlfühlen kann und obendrein eine ungewöhnliche Sicht auf die geschichtlichen Vorgänge erhält. Ähnlich wie in Die Fliederinsel ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs die Kulisse. Jeanne lebt in einer Zeit, in der Menschen degradiert und verschleppt wurden, um fern der Heimat zur Arbeit gezwungen zu werden. Sie selbst geht scheinbar freiwillig und hilft somit der Besatzungsmacht. In den Augen ihrer Landsleute ist das Verrat. In Ostfriesland lernt Jeanne Pierre kennen, der ihr genau diese Verachtung entgegenbringt. Er ist ehemaliger Soldat und nun Zwangsarbeiter. Von den Annehmlichkeiten, die Jeanne auf dem Hof erfährt, kann er nur träumen.

2017 ist der Krieg lange vorbei und die dritte Generation lebt auf den einst verfeindeten Gebieten. Ella bekommt die Feindseligkeit vom Neffen des Barons zu spüren. Die Gründe sind zwar anderer Natur als im Krieg, aber nicht minder schwer zu verkraften. Schon nach kurzer Zeit spürt Ella die große Verantwortung, die sie mit dem Erbe übernommen hat. Eine Stütze ist ihre Freundin Anna, die sie mit Vernunft durch vertrackte Situationen lenkt. Auf dem Anwesen gibt es ebenfalls helfende Hände. Ella bekommt dennoch bald Sehnsucht nach Gesellschaft und lädt ihre Freunde ein. Das Herrenhaus wird zum Treffpunkt für Künstler, die auf ihre Art die Umgebung verschönern. Als Leser bekommt man dabei eine Ahnung, was in der Region für den Tourismus getan wird. Die aktuellen Verzahnungen werden wie nebenbei erwähnt und tragen zum Ambiente bei. Mit zunehmender Seitenzahl kommt auch mehr Rosenduft ins Spiel.

Die Familiengeschichte ist durch den Wechsel der Perspektiven zwischen Jeanne und Ella vorhersehbar. In diesem Fall ist das aber kein Manko, sondern man fühlt Empathie für Jeanne und möchte wissen, wie es damals so kommen konnte. Der geheimnisvolle Adressat aus den ersten Kapiteln lüftet sich damit auch. Die Briefe, aus denen Ella die Geschichte rekonstruiert, verbinden beide Zeitebenen. Die fehlenden Puzzleteile erzählt Odile, die betagte Freundin Jeannes. Man ist gefühlsmäßig sehr nah sowohl an der inzwischen wohlhabenden Chansonsängerin als auch an der erschöpften Journalistin dran. Der Roman lädt dazu ein, sich literarisch in eine wunderschöne Gegend zu versetzen. Die Ufer der Loire mit ihren Nebenflüssen waren schon immer ein begehrter Standort für imposante Bauwerke. Sie sind eine erholsame Kulisse für die tiefgehenden Themen. Die Rosengärtnerin ist ein dringender Lesetipp.

Bewertung vom 27.03.2019
Das Haus der Verlassenen
Gunnis, Emily

Das Haus der Verlassenen


ausgezeichnet

Psychologischer Nervenkitzel

Im Februar 1959 wird Ivy in die Klinik St. Margaret’s in Südengland eingewiesen. Sie ist schwanger und soll dort ihr Kind entbinden. Zu dieser Zeit ist es ein gesellschaftlicher Makel, wenn Frauen zwar ein Baby aber keinen Ehemann haben. So entscheidet auch Ivys Stiefvater, dass sie in der klösterlichen Abgeschiedenheit bleiben soll, bis alles geregelt ist. Fast drei Jahre erlebt Ivy hinter den Mauern körperliche und seelische Qualen. Ihre Tochter wurde schon kurze Zeit nach der Geburt zur Adoption freigegeben und seitdem schuftet sie in der Wäscherei für ihren Schlafplatz und das karge Essen. Auch die anderen Mädchen verwahrlosen zunehmend. Es ist ihnen verboten zu sprechen. Doch Ivy freundet sich mit der sechsjährigen Elvira an und verhilft ihr zur Flucht.

Emily Gunnis zeigt in ihrem Debütroman die unmenschlichen Verhältnisse auf, unter denen ledige Mütter noch lange zu leiden hatten. Im Nachwort erwähnt sie, dass Ende der 60-er Jahre rund 16.000 Adoptionen auf diese Weise bewilligt wurden. An Ivys Geschichte darf der Leser an den Vorkommnissen teilhaben. Ivy schreibt flehentliche Briefe an den Vater ihres Kindes, der sich allerdings zugunsten seiner Karriere von ihr abwandte. Man spürt auch ohne Worte, wie ihre Hoffnung schwindet, ihr Selbsterhaltungstrieb allerdings immer wieder nach Wegen aus der Gefangenschaft sucht. Hilflos beobachtet man, wie die grausamen Züchtigungen vollzogen werden. Es gibt aber auch Abschnitte in dem Buch, die man eigentlich nur in einem Krimi erwartet. Einzeln betrachtet erregen die Todesfälle keinen Verdacht. Sie führen aber alle zu einem Zeitpunkt zurück, der weit in der Vergangenheit liegt. Gunnis Schreibstil ist fraglos kraftvoll und treibt die düstere Geschichte voran. Schon nach wenigen Seiten nimmt sie für sich ein und man legt das Buch nur widerwillig aus der Hand. Die 400 Seiten sind demnach schnell beendet, allerdings bewegt die Handlung auch noch nach der letzten Seite.

Die Figuren sind glaubhaft angelegt. Die alleinerziehende Sam stellt die veränderte Sicht der Gesellschaft in der Gegenwart dar. Hätte sie 60 Jahre früher gelebt, dürfte sie ebenfalls kaum Hilfe außerhalb der Familie erwarten. Sie ist es, die die Verhältnisse in St. Margaret’s aufdeckt und als Journalistin auch die nötigen Kenntnisse der Recherche einfließen lässt. Das marode Gebäude soll in nur zwei Tagen abgerissen werden, sodass ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Der Zeitdruck erhöht dabei die Spannung. Je tiefer Sam gräbt, desto mehr fragwürdige Todesfälle deckt sie auf. Der Zusammenhang zwischen den damaligen Entscheidungsträgern und der Gegenwart ist lange Zeit verborgen. Manche Figuren sind abstoßend in ihrem Handeln, anderen möchte man sofort tröstend in die Arme ziehen. Das Geschriebene lässt unmerklich diese Emotionen entstehen. Es werden auch Fragen aufgeworfen, wie es zu diesen auf Tatsachen beruhenden Handlungen kommen konnte. Nicht nur die Ausführenden tragen die Schuld, sondern vor allem die, die trotz des Wissens darüber alles gebilligt haben.

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen, die gleichermaßen bildhaft geschildert werden. Emily Gunnis, die Tochter der Romanautorin Penny Vincenzi, hat einen wundervoll bewegenden, aufschreckenden Roman geschrieben und trägt damit dazu bei, dass die Schicksale dieser jungen Frauen nicht vergessen werden. Die Originalausgabe trägt den Titel The Girl in the Letter.