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Benutzername: 
Mary Beton
Wohnort: 
München

Bewertungen

Bewertung vom 28.02.2020
Sprache und Sein
Gümüsay, Kübra

Sprache und Sein


sehr gut

Kübra Gümüsay`s Buch explodiert vor Gedanken, Erkenntnissen, Recherchen, Gefühlen, Erfahrungen und Erlebtem. Die Autorin hat eine Vision, sie will die Zivilgesellschaft anstoßen, endlich "Aufzustehen". "Es ist doch nicht per se negativ, auf das hinzuweisen, was nicht läuft", schreibt sie am Ende ihres Buches.

Die Autorin führt uns vor Augen, wie die gedankenlose, sexistische oder rassistische Verwendung von Sprache Menschen ausgrenzt und sie ihrer Identität beraubt. Als Beispiele nennt sie die Verwendung des generischen Maskulinums: "Es reicht nicht aus, dass Frauen mitgemeint sind, wenn sie nicht auch von allen mitgedacht werden, die den Begriff verwenden" oder wissenschaftliche Studien, die belegen, wie Sprache das Sein beeinflusst: "Jedes Wort hat Wirkung, Menschen verändern sich durch die Worte, mit denen wir sie beschreiben. Sie werden zu dem, was ihnen zugeschrieben wird."

Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf der Fragestellung: Wie kann man seine eigene Perspektive verständlich machen, wenn man als "Mensch gelernt hat, durch die Augen anderer auf sich selbst zu blicken?"

Die Autorin sieht eine Spaltung unserer Gesellschaft in Benannte und Unbenannte. Die Unbenannten, die andere benennen, sind meist weiße Männer, deren Machtanspruch von keinem hinterfragt wird. Ihre Perspektive auf die Welt wird zum Maß aller Dinge. In dem Glauben, ihre eigene begrenzte Vorstellung sei die einzig legitime, teilen sie die Benannten in Kategorien ein, "wie in Käfige" und gestehen ihnen keine Individualität zu. Kübra Gümüsay schreibt: "Eine Person kann durchaus als Kopftuchtragende Frau bezeichnet werden. Zum Problem wird diese Bezeichnung, wenn sie die einzige Kennzeichnung bleibt", und weiter: "Klischees sind nicht unwahr, sondern unvollständig".

Und diese Kategorisierung umfasst alle Menschen, die keine weißen Männer sind oder nach deren Meinung ein Defizit aufweisen: Frauen, Schwarze, Homosexuelle, Fremde, Deutsche mit Migrationshintergrund, Behinderte. Die Autorin liefert eine Fülle an Beispielen, mit denen sie dem Leser die schwere Kost gut verständlich präsentiert.

Die Autorin legt vieles offen, was in unserer Demokratie falsch läuft, durch alle Gesellschaftsschichten hindurch. "Es ist wichtig, dass wir die Spannung des Benennens von Missständen aushalten." Das Buch ist ein politischer Mahnruf, demokratiefeindliche Positionen von Gruppierungen in unserer Gesellschaft als solche zu erkennen und ihnen keine gesellschaftliche Relevanz zu verleihen, indem wir ihre "menschenfeindlichen, sexistischen und rassistischen Positionen zu Meinungen erheben".

Das Buch liest sich dank der vielen Beispiele und Erläuterungen sehr flüssig und bietet eine Fülle an Denkanstößen und Diskussionsansätzen. Meine Empfehlung: Unbedingt lesen, weiterempfehlen, weiterreichen. Das Buch ist viel zu wichtig, um im Bücherschrank zu verstauben.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.