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Adelebooks
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Bremen

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Insgesamt 145 Bewertungen
Bewertung vom 21.07.2025
Buckley, Katie

Hero


ausgezeichnet

Eine moderne, feministische (Anti-)Liebesgeschichte - Aufwühlend, verletzlich, sanft und kämpferisch zugleich

Wie ist es möglich in einer Welt, die nur funktioniert indem du deine Rolle als Frau einnimmst, mit all ihren Erwartungen, du selbst zu sein? Eine eigene Identität überhaupt zu entwickeln? Und wenn du das einmal geschafft hast - was bedeutet es in dieser Situation als Frau einen Mann zu lieben und gleichzeitig sich selbst treu zu bleiben? Und ist Liebe überhaupt genug vor diesem Hintergrund? Mit diesen Fragen sieht sich Hero konfrontiert, als ihr Partner von ihr ein Bekenntnis zur Heirat möchte. Sieben Tage Auszeit sollen sie einer Entscheidung näher bringen. Genau diese sieben Tage, mit Heros Erinnerungen an vergangene Beziehungen, ihre Sozialisation als Frau, und Reflexionen der Beziehung und Liebe zu ihrem aktuellen Partner begleitet der Roman, verfasst als eine Art Brief in Tagebuchform in der Du-Form, adressiert an ihren Partner.

Über geschickt und poetisch eingeflochtene Referenzen in Antike, Mittelalter, aber auch die jüngere Vergangenheit mit Blick in die frühen Jahre von Heros Mutter, zeigt die Autorin in Heros Erleben die Kontinuität und Macht patriarchaler Strukturen und Kultur auf und wie sich Frauen in jedem Zeitalter immer wieder darin verfangen, sich beugen, täuschen lassen und immer wieder enttäuscht werden. Sexismus, Misogynie und alle Auswüchse des Patriarchats werden von der Hexenverbrennung bis in die Gegenwart geschickt in die Erzählung und Heros Reflexionen eingeflochten. Neben der persönlichen Ebene sehe ich es als besonderes Verdienst der Autorin auch die systemischen Aspekte dieser Strukturen herauszuarbeiten. Die Unterwerfung der Frau unter die Wünsche des Mannes stabilisiert heute ein patriarchales System ebenso wie es früher Königreiche stabilisiert hat. Und gleichzeitig zeigt dies umgekehrt wie viel Macht Frauen hätten, wenn sie sich solidarisieren und Aufbegehren, nicht nur um sich selbst aus der Unterdrückung zu befreien, sondern um die permanente Reproduktion patriarchaler Gesellschaftssysteme endlich zu durchbrechen. Auch hierzu zeigen sich im Roman einzelne Szenen der Schwesternschaft, die berühren und Hoffnung machen.

Vor diesem Hintergrund wird auch die gleichberechtigte Liebe auf Augenhöhe zu einer fast unauflösbaren Aufgabe, denn die Frau, hier Hero, hat in diesen Strukturen noch immer das meiste zu verlieren. Genau diesen Widerspruch arbeitet Buckley unglaublich kraftvoll, ebenso wie sensibel heraus. Heros Zerrissenheit, der Drang nach Selbstbestimmung und gleichermaßen die Liebe zu ihrem Partner und aufrichtige Erwiderung dieser werden mit jeder Zeile spürbar. Es ist zum Teil schwer auszuhalten und sehr authentisch wie Hero ihre Sozialisation als Frau beschreibt, in der ihr vermittelt wurde, dass nichts zu groß ist, um es einem Mann recht zu machen und es letztlich das Einfachste ist, jegliche eigene Kontur verschwinden zu lassen und ganz in den Wünschen des Mannes aufzugehen. Dabei spielt die Autorin im Laufe der Erzählung immer wieder hintergründig und gekonnt mit dem Heldenmotiv, als Zielgröße für Hero selbst und ihre eigene Entwicklung, aber gleichzeitig auch als Projektion in die Männer ihrer Vergangenheit.

Die Sprunghaftigkeit, Schnelligkeit und sich wandelnde Melodie der Erzählung mögen beim Lesen machmal kurzzeitig verwirren, doch spiegeln sie dabei gleichzeitig gelungen Heros Gefühlsleben authentisch in Stil, Struktur und Wortwahl des Romans wider.

Hero ist ein Buch, das ich gerne viel früher in meinem Leben gelesen hätte und mir auch als zeitgemäße Lektüre in der Oberstufe vorstellen könnte, um junge Frauen und auch Männer, in einer authentischen Sprache und auf Augenhöhe abzuholen und für patriarchale Strukturen, ihre Macht und Prägung zu sensibilisieren. Ganz klare Empfehlung für diese ungewöhnlich erzählte, moderne, emanzipatorische (Anti)Liebesgeschichte!

Bewertung vom 13.07.2025
Hope, Anna

Wo wir uns treffen


gut

Ein englisches Familienporträt und ein Blick hinter die Fassade der großbürgerlichen, idyllischen Familie


Sussex, ein über zwei Jahrhunderte altes Haus mit einer zweistelligen Zahl an Schlafzimmern, seit jeher im Familienbesitz, erbaut aus Sandstein vom nahegelegenen Steinbruch, 400 Hektar Land. All das gehört der Familie Brooke, deren Patriarch Philip Brooke kürzlich verstorben ist. Der Tod und die bevorstehende Beerdigung bringt die Familie zusammen und legt damit gleichzeitig tiefe Wunden der Vergangenheit offen. Grace, die Witwe, die mehr um das Leben mit Philip als seinen Tod trauert, Frannie, das älteste Kind und Erbin des Anwesens, das sie bereits in den Jahren vor seinem Tod mit ihrem Vater umgestaltet und für die Zukunft vorbereitet hat, Milo, der Sohn und Stammhalter, als Kind aus Traditionsbewusstsein auf ein Internat verwiesen und noch immer mit dieser gefühlten Zurückweisung hadernd, und Isa, das jüngste Kind, lange entfremdet von der Familie - sie alle kehren zurück in das Haus der Familie und müssen sich ihren Erinnerungen stellen.

In den Erinnerungen der Verbliebenen setzt sich ein Bild Philips zusammen, das sich von dem der frischen Trauer Frannies unterscheidet. Ein junger Partyboy, der keine Affäre und Vergnügung auslässt, das Kennlernen von Grace und Phillip, ein Ehemann der ständig fremd geht und schließlich mehrere Jahre mit seiner Geliebten Natascha in New York gelebt und Frau und Kinder in England zurückgelassen hat. Aber auch das eines liebenswerten Großvaters. Die Last der Tradition, die lieblose Ehe der Eltern und deren Auswirkungen nicht nur auf Grace sondern auch die Kinder, jedes für sich und auch in der belasteten Geschwisterbeziehung kommt im Laufe des Romans immer deutlicher zum Vorschein.

Neben der Trauer und Vergangenheitsbewältigung ist die Beerdigung und das Zusammentreffen der Geschwister der Anlass, um das Erbe und die (unsichere) Zukunft des Anwesens zu diskutieren. Auch hier treffen unterschiedliche Vorstellungen und Wünsche aufeinander. In diese angespannte, dynamische Situation kündigt sich die Tochter von Philips langjähriger Geliebter an zur Beerdigung zu kommen und löst damit Spekulationen um eine mögliche Vaterschafts Philips aus.

Der Roman lebt von der Vielfalt der Perspektiven, die die Autorin darin einnimmt. Diese spannen sich von der über Jahrzehnte verletzten Ehefrau, Mutter und nun Witwe Grace, über die drei Kinder, Nataschas Tochter Clara, verschiedene Hausangestellte bis hin zur sieben Jährigen Enkelin des Verstorbenen, Frannies Tochter Rowan. So entsteht nach und nach ein authentisches Familienporträt hinter der Fassade der großbürgerlichen idyllischen Familie.

Wo wir uns treffen ist ein atmosphärisch erzähltes Familienporträt im ländlichen Sussex, das tief in die familiale Szenerie eintauchen lässt und dabei behutsam einige Geheimnis aufdeckt. Ich habe die Familie Brooke gern begleitet, wenngleich der Roman für mich ein paar Längen hatte und eher Unterhaltungsroman als Milieustudie ist.

Bewertung vom 06.07.2025
Gesing, Daniela

Mord im Wattenmeer


schlecht

Rhabarberkuchen und Mord - Regionalkrimi am Jadebusen, sprachlich eher schwach und nicht immer logisch

Femke ist eher widerwillige Pädagogikstudentin und dafür umso passioniertere Hobbyermittlerin mit dem Traum einer eigenen Detektei. Als sie in ihrem Nebenjob als Reinigungskraft von Ferienhäusern in Dangast am Jadebusen auf eine Leiche stößt, ist der Schock groß und gleichzeitig ihre Spürnase für Kriminalfälle geschärft. Mit Unterstützung von Freunden und Bekannten und nicht immer zum Wohlgefallen der örtlichen Polizei nimmt sie sich vor den Todesfall aufzuklären.

Die Story des Kriminalfalls ist interessant und relativ spannend konstruiert, verschiedene Verdächtige tauchen auf, es gibt einige Wendungen. Die Einbettung in die Landschaft um den Jadebusen ist grundsätzlich eine gute Idee, in der Umsetzung wird jedoch zu oft ein Namedropping bekannter Sehenswürdigkeiten daraus, statt atmosphärische Bilder, in die man eintauchen könnte.

Die Figuren im Roman sind überwiegend sympathisch gezeichnet, wenn auch nicht durchgängig wohl ausformuliert. Femke als Hauptfigur wirkt in ihren Lebensumständen sehr konstruiert und wenig authentisch. Warum sie beispielsweise als Pädagogikstudentin nicht in einer WG in Oldenburg wohnt oder in ihrem Heimatdorf bei Oldenburg und stattdessen als Studierende alleine eine 52qm große Zweizimmerwohnung am Jadebusen bewohnt und einen Mini fährt (und sich leisten kann) bleibt vollkommen ohne Erklärung, obwohl es, zumindest jenseits eines privilegierten Milieus, durchaus unüblich ist. Gleichzeitig muss sie vermeintlich als Reinigungskraft arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren. Eine konsequentere, nachvollziehbarere Ausformulierung des Charakters hätte die Erzählung sicher bereichert. So verbleibt sie eine Kunstfigur, über die man besser nicht zu viel nachdenken sollte, angesichts der Inkonsistenzen und Lücken in der Darstellung ihres Charakters und Hintergrunds. Die Nachbarin Grete (die eigentlich die Vermieterin ist), wird als Miss Marple bezeichnet, ähnelt jedoch in ihrem Hadern und ihrer Ängstlichkeit nicht im geringsten der berühmten Ermittlerin. Auch die übrigen Charaktere verbleiben oberflächlich sowie teilweise überzeichnet und wirken in Verbindung mit den gestelzten Dialogen oft fast schon ungewollt komisch. Auch wenn es sich um fiktionale Figuren handelt, lebt ein literarisches Werk für mich davon, dass die Figuren nachvollziehbar und im gezeichneten Charakter konsistent bleiben. Dies ist für mich hier leider nicht gelungen.

Die Dialoge sind fast durchgängig flach, hölzern und gestelzt, dadurch verliert die Erzählung leider zusätzlich an Authentizität. Sprachlich wirkt der Krimi oft laienhaft in Satzstruktur und Ausdruck, Füllwörter und -Sätze werden nicht immer logisch sinnvoll verwendet und/oder sind redundant. Auch in der Handlung gibt es zahlreiche offensichtliche Inkonsistenzen und Logikfehler, die das Leseerlebnis leider merklich trüben. Hier würde ich mir nicht nur von der Autorin mehr Empathie für ihre Figuren und Sorgfalt in der Recherche sondern auch vom Lektorat mehr Umsicht und Gründlichkeit wünschen. Bei allem Respekt vor der kreativen Leistung der Autorin, sollte dies umgekehrt auch gegenüber den Leserinnen gelten, denen man Zeit und Geld mit einer solchen Publikation entzieht, was wiederum ein Mindestmaß an Sorgfalt in Recherche, Logik und sprachlicher Qualität implizieren sollte.

Die Grundidee des Falls hat durchaus Potenzial, die Umsetzung konnte mich jedoch nicht überzeugen. Die Ansiedlung des Krimis in Dangast war für mich mit netten Erinnerungen verbunden, da ich selbst lange in der Region gelebt und gearbeitet habe, und ihr noch immer durch Freunde und Familie verbunden bin. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wirkten die Figuren auf mich nicht unbedingt authentisch. Auch sprachlich konnte der Krimi mich nicht überzeugen. Defizite in Ausdruck, Logik und Semantik haben das Buch für mich stark geschwächt, sodass ich es leider, wenn überhaupt, nur für begeisterte Urlauberinnen der Region empfehlen würde, die sehr leichte Unterhaltung wünschen und über Logikfehler und flache Dialoge hinwegschauen können. Freunden und Bekannten aus der Region konnte ich das Buch leider nicht guten Gewissens weiterempfehlen. Anderen Regionalkrimis und - Autorinnen gelingt aus meiner Sicht der Spagat zwischen malerischen Landschaftsansichten, authentischen Figuren und einem spannenden Fall in Verbindung mit lockerer Unterhaltung deutlich besser. Ich hatte mich sehr auf den Fall am Wattenmeer gefreut und bleibe nach der Lektüre ziemlich enttäuscht und verärgert über die Lesezeit, die ich darin investiert habe, zurück. Allen Interessierten sei ein Besuch in (Ost)Friesland, nicht nur dem schönen Dangast, und der leckere Rhabarberkuchen jedoch uneingeschränkt und unbedingt ans Herz gelegt. Hier verspricht der Krimi, trotz seiner Schwächen, nicht zu viel! Bereits mit sehr viel Wohlwollen, und im fairen Vergleich zu anderen Publikationen, kann ich leider nicht mehr als 1,5 Punkte für diesen Krimi geben.

Bewertung vom 06.07.2025
Koler, Laurenz

Aufstehen


sehr gut

Authentischer Einblick in eine Südtiroler Jugend - sensibel und mitnehmend erzählt

Nick lebt in Bozen und ist gerade in den letzten Zügen seiner Schulzeit. Er fristet ein eher isoliertes Dasein, Menschenmengen und Angebertum sind ihm verhasst, sein großer Halt sind seine besten Freunde Emilia und Noah.

Bereits früh im Roman gibt es erste Hinweise, dass Nick im Leben sowohl in der Vergangenheit als auch der Gegenwart familialen Belastungen ausgesetzt ist. Der Roman lässt die Leserin hier lange im Dunkel, deutet immer wieder nur an, bleibt aber vage, was ich als sehr gelungen empfunden habe.

So bedrückend wie sich Nicks Alltag zuweilen liest, so gelungen schafft der Autor über die Freundschaft der drei Jugendlichen, die gegenseitiges Verständnis, Unterstützung und Freude verspricht, Momente der Erleichterung und des Lichts in den dunklen Alltag einzubauen. Ein Licht, das auch Nick darin spürt und der Autor für die Leserinnen fast fühlbar macht. Die Beschreibungen der Gesellschaft und Natur auf der nahen Seiser Alm, am Kalterer See und im städtischen Bozen versprechen einen wohlwollenden, jedoch nicht unkritischen Blick auf aktuelle gesellschaftliche Strömungen, ebenso wie gelebte Traditionen. Koler porträtiert so nicht nur seine Generation, sondern auch deren Blick auf ihre Herkunft, die Traditionen, Herausforderungen, sowie Eigenheiten und auch Liebenswürdigkeiten.

Obwohl auch typische Teenagerherausforderungen, wie Freundschaft, Liebe, erster Sex und Drogen thematisiert werden, wird der Roman nie banal. Koler hat einen Blick für die Zwischentöne menschlicher Interaktion und fasst Stimmungen und Gefühle in eingängige, manchmal überraschende, literarische Bilder.

Sprachlich waren für mich phasenweise zu viele bewusste Ausformulierungen von Situationen und Gedanken vorhanden. Hier könnte der Autor aus meiner Sicht durchaus mehr Mut beweisen und Situationen für sich stehen und wirken lassen ohne diese bis ins Detail zu erklären und auszuformulieren. Die Eskalation und das Ende der Erzählung kam für mich wiederum etwas zu plötzlich. Zehn bis zwanzig Seiten zusätzlich hätten einer noch kohärenteren Gesamterzählung sicher zugetragen. Diese Kritikpunkte fallen jedoch angesichts des jungen Alters des Autors und der Tatsache eines Debüts kaum ins Gewicht und können den positiven Gesamteindruck nicht trüben.

Laurenz Koler gibt in Aufstehen seiner Generation und Region eine authentische, junge Stimme und hat diese in einen überzeugenden Roman verwandelt, der das Potential hat jüngere wie ältere Leserinnen gleichermaßen zu begeistern und zum Nachdenken anzuregen.

Bewertung vom 24.06.2025
Kadota, Yumiko

Emotional Female


gut

Der Weg in Depression und Burnout und erschütternde Einblicke in das Gesundheitssystem

Über ihre Schulzeit in Singapur, London und Sidney, das Medizinstudium in Australien und ihre Ausbildung zur Assistenzärztin fühlen wir Yumikos Traum Chirurgin zu werden zum Leben erwecken und verfolgen ihren oft steinigen, beschwerlichen Weg dahin. Die Hürden stellen dabei nicht nur ein durch und durch kompetitives und von Diskriminierung wie Ausbeutung durchdrungenes Ausbildungs- und Gesundheitssystem dar. Schon früh wird deutlich, dass auch Yumikos Persönlichkeitsstruktur, der Drang immer die Beste sein zu wollen, immer gemocht zu werden und zu gefallen, ebenso ein kulturell geprägter Leistungsethos aus ihrer japanischen Sozialisation, eine destruktive Allianz mit dieser Berufswahl einzugehen scheinen. Diese Gesamtumstände führen sie schließlich in eine schwere Depression.

Als sehr positiv empfinde ich, dass die Autorin mit ihren Zeilen realistische Einblicke in das australische Gesundheitssystem und die Lebensrealität junger Ärztinnen darin vermittelt: Sexismus, Misogynie, Rassismus, Ausbeutung und Leistungsdruck sind die Variablen, die den Alltag Yumikos bestimmen. Parallelen zu europäischen und dem deutschen Gesundheitssystem sind hier sicher nicht zufällig, verschiedene Situationen habe ich zumindest schon sehr ähnlich in Krankenhäusern beobachten können. Ob hier immer alle geschilderten Patientinnenkontakte, Erkrankungen und Konflikte mit Kollegen im Detail notwendig für die Gesamterzählung sind, bleibt dahin gestellt. Für mich hatten die Schilderungen durchaus ein paar Längen.

Sehr schwer auszuhalten war für mich jedoch ab einem bestimmten Punkt die mangelnde Reflexion der Autorin, inwiefern ihre eigene Persönlichkeitsstruktur die beschriebene Entwicklung begünstigt hat - ihr Drang immer alles richtig zu machen, immer und überall die Beste zu sein und die repetitive, inflationäre Erwähnung dieses Musters über rund 400 Seiten wirkten zunehmend redundant auf mich, zumal es keine echte Entwicklung auf dieser Ebene gibt. Im Gegenteil beginnt man schon sehr früh in ihrer Laufbahn und den Schilderungen zu ahnen, dass das nicht gut gehen kann und auf eine Katastrophe zuläuft. Und so lesen sich die über 400 Seiten auch fast wie eine Chronologie dieser Katastrophe. Dabei verharrt die Autorin über weite Teile ihrer Ausführungen auf einer Stufe der Empörung, echte Lösungsorientierung und Selbstermächtigung, um aus den destruktiven Mustern auszubrechen, finden sich erst am Ende im Nachhinein und die Katastrophe wird so umso unausweichlicher. Damit im Zusammenhang fällt auch das völlige Fehlen von Solidarisierung und dem Bewusstsein für politische Handlungsmacht, um Veränderungen anzustoßen, in den Ausführungen auf. Die Autorin geht an die Öffentlichkeit, erst als sie nichts mehr zu verlieren hat.

Emotional Female wird so weniger eine wohl formulierte Systemkritik, als eine persönliche Chronik zur Aufarbeitung und Abrechnung Yumikos mit dem australischen Gesundheitssystem vor dem Hintergrund der Unfassbarkeit, wie es so weit kommen und ausgerechnet ihr dies passieren konnte. So wichtig auch Erfahrungsberichte sind, hätte ich mir gerade vor dem Hintergrund der im Rückblick verfassten Zeilen eine analytischere Betrachtung und Einordnung ihrer Erlebnisse in einen größeren gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Kontext gewünscht. Auch den Untertitel finde ich nicht ganz glücklich gewählt, denn die Autorin hat letztlich eine schwere Depression entwickelt. Der Begriff Burnout mag zwar catchy sein, sollte jedoch nicht über die schwere psychische Erkrankung über die Kadota berichtet hinwegtäuschen.

Eine allgemeine Empfehlung für das Buch auszusprechen fällt mir schwer. Ich bin der Autorin dankbar, dass sie über ihre Erfahrung berichtet hat, denn ihr Buch zeigt deutlich massive Missstände in westlichen Gesundheitssystemen auf und kann so vielleicht Veränderung anregen. Gleichzeitig sollte sich jede Leserin zuvor bewusst sein, dass gut 75% des Buchs die Chronologie einer Katastrophe sind und im Detail Yumikos Weg in die Depression beschreiben. Echte Handlungsmacht und Selbstermächtigung kommen aus meiner Sicht zu kurz, sodass man diese Schilderungen und ihre Dramatik und Destruktivität tatsächlich auch aushalten können muss. Analytische und in das Gesamtsystem einordnende Daten und Fakten fehlen vollständig, sodass Emotional Female primär eine Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung der Autorin ist. Vor diesem Hintergrund empfehle ich Emotional Female gern allen Interessierten, die sich dessen bewusst sind und der Lektüre gewachsen fühlen.

Bewertung vom 23.06.2025
Carr, Garrett

Der Junge aus dem Meer


sehr gut

Authentische Einblicke in eine vom Fischfang geprägte Region und Gemeinschaft an der irischen Küste

Als in den 1970ern an der irischen Küste ganz in der Nähe eines kleinen, ursprünglichen Fischerortes ein Neugeborenes in einem Fass gefunden wird, ist die Aufregung groß. Schnell ranken sich in der eingeschworenen, abgelegenen Gemeinschaft Erzählungen und Mutmaßungen über das Auffinden und die Herkunft des Kindes - des Jungen aus dem Meer.

Im gleichnamigen Roman zeichnet der Autor ein Porträt einer autochthonen Gemeinschaft in der Donagal Bay. Im Mittelpunkt die Familie Bonnar: Mutter Christin, Vater Ambros und der kleine Declan. Als der Säugling am Strand gefunden wird, zögert die Familie nicht lange und nimmt den Jungen als zweites Kind in die Familie auf.

Gemeinsam mit der Erzählstimme, die als eine Art Chronist und selbst Mitglied der Gemeinschaft aus dieser heraus über die Ereignisse berichtet, sie und die Bewohnerinnen und Bewohner ausdeutet, begleiten wir den Lebensweg des Jungen aus dem Meer und damit auch der Familie Bonnar und der ganzen Region über knapp 20 Jahre.

Der kleine Ort in der Donegal Bay bleibt von der europäischen Geschichte und Politik nicht unberührt. Der anfängliche Erfolg und das Auskommen der Familie, wie vieler anderer Familien im Ort, verdankte sich dem Fischfang, der jedoch bald durch unglückliche Entscheidungen Ambros und europäischen Regelungen zu Fangquoten versiegt. Die sich verschärfende Armut der Familie Bonnar ist exemplarisch für die Gemeinschaft des Ortes, in der Wohlstand zunehmend ungleich verteilt ist, einige wenige viel, und viele immer weniger haben und am Existenzminimum leben.

Dies belastet auch die Familiendynamik. Die einst enge Beziehung zwischen Christin und Ambros wird durch die Existenznot auf die Probe gestellt und auch die Kinder bleiben nicht unberührt von den Existenzsorgen der Familie. Die Beziehung zwischen den Brüdern ist seit jeher angespannt und vom Ringen um die Zuneigung und Aufmerksamkeit der Eltern und Rivalität bestimmt. Brandon, der eher zurückgezogen lebt und Declan, der Brandon offen ablehnt und in ihm keinen echten Bruder sondern einen Eindringling in sein Familienleben sieht.

Declan und Brendan so unterschiedlich wie sie sind, hadern beide mit den Zwängen der Gemeinschaft und versuchen auf ihre Art sich selbst auszudrücken und ihren Weg zu finden und gemäß ihrer wahren Talente zu leben.

Der Junge aus dem Meer offeriert authentische Einblicke in das Leben einer Dorfgemeinschaft an der irischen Küste mit einer feinen Beobachtung für all die Eigenheiten und Traditionen, die sich in solchen eingeschworenen Gemeinschaften herausbilden. Ich persönlich mag den unaufgeregten, lakonischen Stil des Autors. Für mich hatte der Roman jedoch leider ein paar Längen und wurde trotz des eingängigen Erzählstils von einer recht melancholischen Grundstimmung durchzogen. Gerade diese spiegelt andererseits auch die Stimmung der Menschen und der Region im Roman wider.

Bewertung vom 23.06.2025
Gosling, Sharon

Der alte Apfelgarten


ausgezeichnet

Ein Roman, wie ein Urlaub an der schottischen Küste

Nina ist alleinerziehend und trägt noch physische wie psychische Narben aus ihrer letzten Beziehung mit dem Vater ihres Sohnes Barnaby. Vor 5 Jahren kam sie nach der Trennung zurück in ihre Heimat an der schottischen Küste, um die Farm der Familie zunächst mit ihrem Vater zu führen und schließlich irgendwann zu übernehmen. Ninas Schwester Beth, genannt Bet, ist erfolgreiche Scheidungsanwältin und führt ein unabhängiges Singleleben in London, fern und in bewusster Distanz zu ihrer Familie und Heimat im ländlichen Schottland.

Unterschiedlicher könnten die Schwestern kaum sein. Seit Nina auf der Farm lebt, haben sie sich kaum gesehen. Von Entfremdung zwischen den Schwestern zu sprechen, wäre fehlgeleitet, denn dazu müsste es jemals eine echte Nähe zwischen den beiden gegeben haben. Auch aufgrund des großen Altersunterschieds von 10 Jahren, doch sicher ebenso angesichts der völlig verschiedenen Charaktere, gab es jedoch nie ein inniges Schwesternverhältnis zwischen Bet und Nina.

Und nun ist Bern Crowdy, der Vater Ninas und Beths plötzlich verstorben und hinterlässt tiefe Trauer in der Familie, ein überraschend verändertes Testament, das beide Schwestern gemeinsam zum Erhalt der Farm verpflichtet und eine Crowdy Farm an einem malerischen Fleckchen Schottlands, deren wahren Zustand er selbst Nina zu seinen Lebzeiten verschwiegen hat. Die Schwestern stehen nach dem Tod des Vaters vor der großen Aufgabe sich erstmals wirklich anzunähern, kennenzulernen und dabei im besten Fall gemeinsam die Farm zu retten. Dass dies nicht ohne Reibungen und Hindernisse möglich sein wird, erahnt man bereits nach wenigen Seiten.

In das Reigen und Ringen der Schwestern gesellen sich noch weitere Protagonisten, die versprechen die Handlung und Geschichte zu beeinflussen. Nina erfährt große Unterstützung von ihrem attraktiven Nachbarn Cam, beteuert jedoch, auch sich selbst, nur freundschaftlich mit diesem verbunden zu sein. Bet wird wiederum mit einem Mann aus der Vergangenheit konfrontiert, der sie vor vielen Jahren bewogen hat Distanz zu ihrer Familie und Heimat zu wahren.

Während der Bestandsaufnahme der Farm im Rahmen der Erbschaft, machen die Schwestern eine unerwartete Entdeckung. Ein schmaler, versteckter Pfad führt zu einem geheimen Apfelgarten direkt an der Steilküste. Der Apfelhain führt sie tief in die Vergangenheit der Familie und Region sowie alte Legenden und dabei vielleicht auch näher zueinander und ihrem eigenen Glück…

Ich habe zuvor Forgotten Garden von Sharon Gosling gelesen und war bereits von diesem Roman begeistert. So kurzweilig und emotional erzählt die Autorin, ohne dabei banal zu werden. Der alte Apfelgarten hat mich fast noch mehr eingenommen. Die Figuren sind wohl ausformuliert, bereits nach wenigen Seiten fühlt man sich als Teil der Geschichte und möchte wissen, wohin die Erzählung führt. Als Kulisse dienen malerische Landschaften, in die die Autorin mit ihren authentischen, bildlichen Beschreibungen ihre Leserinnen eintauchen lässt. Der alte Apfelgarten verbindet eine mitnehmende Geschichte über Schwesternschaft, traumhafte Bilder von Schottlandsküste und als Bonus einige Einsichten in die Geheimnisse des Apfelanbaus und der Ciderherstellung.

Für mich ist Der alte Apfelgarten der perfekte Urlaubsroman, um für ein paar Stunden in eine andere Welt einzutauchen oder um einfach aus dem Alltag mit der Autorin zu einem geheimen Apfelhain an der schottischen Steilküste zu entfliehen und die Annäherung zweier Schwestern zu begleiten.

Bewertung vom 20.06.2025
Kempton, Beth

Kokoro


gut

Auf der Suche nach dem achtsamen Herzen und einem gelungenen Leben

Die Japanologin Beth Kempton nimmt uns in Kokoro mit auf eine Reise, nach Japan, in die japanische Mythologie und auch eine Reise in ihr Innerstes, die Konflikte ihres Lebens im Angesicht ihrer Lebensmitte und der Konfrontation mit dem Tod geliebter Menschen. Ihr Leitmotiv bei dieser Reise: das Kokoro - ein japanischer Begriff im Kontext eines achtsamen Herzens, der nur schwer zu definieren ist und dessen Verständnis sich Kempton zur Aufgabe macht.

Das Buch ist eine Mischung aus Reisedokumentation, Erfahrungsbericht und Selbsthilferatgeber. In den drei Teile mit den Schwerpunkten auf Gegenwart, Tod und Verlust sowie Zukunft und Wiedergeburt verknüpft die Autorin wunderschöne Landschaftsbeschreibungen mit Einsichten in die japanische Mythologie, Kultur und Religionen, um am Ende jeden Kapitels daraus eine kurze Lehre zu formulieren und die Leserin mit passenden Leitfragen zu animieren, diese auch auf das eigene Leben anzuwenden.

So ist Kokoro auch eine Einladung der Autorin zum Innehalten mit Hilfe der japanischen Weisheiten, einen bewussten Blick auf das eigene Leben zu richten und achtsam die eigene Existenz zu gestalten. Daraus wird im Gegensatz zu modernen Mahnungen der Achtsamkeit, die letztlich wieder der Selbstoptimierung dienen, eine ganzheitliche Philosophie, die das Leben und Sein erfasst. Dies ist über weite Teile gut gelungen, persönlich waren mir einige Aspekte in den Ausführungen jedoch zu spirituell und beliebig, wie etwa das Ziehen von Orakelkarten und die Deutung dieser. Der Schwerpunkt auf dem Erleben der Autorin war zwar interessant, ich hätte mich jedoch über mehr und strukturierte Einsichten in die japanische Mythologie und Kultur gefreut. Letztlich streift diese die Autorin lediglich, um stets und umfangreich zu sich selbst zurückzukehren.

Der zweite Teil setzt sich intensiv und im Detail mit der Krankheit und dem Sterben ihrer geliebten Mutter auseinander. Hier hätte ich mir eine Triggerwarnung gewünscht, denn die dezidierte Auseinandersetzung mit einem sterbenden Menschen über knapp 100 Seiten verlangt auch beim Lesen einiges ab. Auch wenn ich den Bezug zum Kokoro und ihre Erkenntnis aus dem Trauerprozess nachvollziehen kann, wirkte dieser Teil auf mich in der Ausdehnung primär von und für die Autorin selbst als individuelle Trauerarbeit.

Eine Karte mit den Orten, die die Autorin bereist hat und Angaben zu Zeit und Ort über den Kapiteln hätten aus meiner Sicht das Buch bereichert.

Mir hat Kokoro trotz der genannten Schwächen einige interessante Einsichten und Anstöße zum Nachdenken geliefert. Die Einblicke in die japanische Kultur, Religionen und Lebensweise fand ich sehr bereichernd und hätten für mich gerne mehr Raum einnehmen können. Letztlich war mir persönlich der Erfahrungs- und Selbsthilfeaspekt des Buchs zu stark im Vordergrund.

Bewertung vom 14.06.2025
Berkel, Christian

Sputnik


gut

Coming of Age Geschichte im Theatermilieu der Nachkriegszeit zwischen Frankreich und Deutschland

Sputnik - ist eine autofiktionale Coming of Age Geschichte des Schauspielers Christian Berkel.
Im ersten Teil werden Kindheit und Jugend im Nachkriegsdeutschland beleuchtet. Recht speziell sind hier zunächst die Reflexionen aus der Perspektive des imaginären Fötus Sputnik sowie der frühen Babyjahre. Auch wenn dies realistisch beschrieben sein mag, konnte ich damit nicht viel anfangen. Wesentlich besser haben mir dann jedoch die Beschreibungen der Kinderjahre und Jugendzeit gefallen. Sputnik wächst in einem künstlerisch-literarisch geprägten Elternhaus des Bildungsbürgertums auf, kein Fernseher dafür frühe Sprachbildung (mit der Mutter spricht er früh nur Französisch), Theaterbesuche und Hörspiele auf Schallplatte zu Hause. Und obwohl Sputnik seine künstlerischen Neigungen früh frei entdecken darf, fühlt er sich seltsam eingeschränkt. Da ist die dramatische Vergangenheit seiner Eltern, die Mutter als Jüdin verfolgt von den Nazis, der Vater im russischen Lager, die auch im Familienalltag immer wieder subtil durchscheint. Da ist seine Identität als Halbjude, die ihm nie bewusst vermittelt wurde und sich doch Stück für Stück für ihn zusammensetzt. Und da ist der durchaus bedrückende, wie für den Heranwachsenden gleichsam verwirrende Hintergrund vor dem dies alles geschieht: ein Nachkriegsdeutschland, dass sich weder an Krieg noch Judenverfolgung erinnern möchte und doch antisemitische Vorurteile sorgsam pflegt. Bei Sputnik führt all dies zu einem Gefühl von Bedrückung und dem Eindruck nie wirklich ganz zu sein. Trost spendet stets das Theater, schon früh verbringt er seine Wochenenden in den Berliner Kammerspielen.

Ein echtes Freischwimmen ist im zweiten Teil schließlich die Zeit als Heranwachsender in Paris, in dem Sputnik ab der 7. Klasse die Schule besucht. Zwar wirkt auch hier die Kriegszeit nach - Sputnik wird nun in jugendlichem Leichtsinn als Nazi verfemt. Und trotzdem erlebt er hier fern von seinem Elternhaus und der befremdlichen Stimmung im Nachkriegsdeutschland erstmals echte Freiheit. So mäandernd wie er im schillernden Paris seine Jugend entdeckt, sich in der Liebe, Erotik, und mit Drogen ausprobiert, so unbeirrt verfolgt er auch hier seinen Wunsch Schauspieler zu werden.

Im Dritten Teil kehrt Sputnik schließlich mit 16 Jahren zurück nach Berlin. Der Roman fokussiert hier auf die Zeit als Jungschauspieler in Film und Theater in Augsburg und Düsseldorf. Sehr interessant fand ich die Einblicke in die Schulddebatte im Nachkriegsdeutschland und die Diskussionen um die RAF und Stammheim, auch und gerade zwischen den verschiedenen Generationen und den künstlerisch-intellektuellen und bürgerlichen Milieus in die der Roman blickt.

Ich habe die Vorwerke des Autors, Ada und der Apfelbaum, nicht gelesen und hatte zwischenzeitlich das Gefühl, dass mir dadurch etwas fehlt, um die Protagonisten der Rahmenhandlung, im Fall der Vorwerke seine Schwester Ada und seine Mutter Sala (der Apfelbaum) besser einordnen zu können.

Der Roman ist flüssig geschrieben und lässt nachvollziehbar werden, wie die Liebe zum Theater bei Sputnik früh geweckt und seither stetig gewachsen ist. Für mich hatte die Erzählung jedoch einige Längen, die zentralen Identitätskonflikte aufgrund seiner Herkunft verlieren zwischen ersten Küssen, Masturbation, Drogenkonsum und Rebellionen fast ihre Bedeutung ohne sich zu einer kohärenten Gesamterzählung zu entwickeln.

So bleibt es für mich leider ein etwas durchwachsenes Leseerlebnis. Für Fans des Autors, die mehr über seinen bewegten Lebensweg erfahren wollen, ist es sicher eine lohnende Lektüre.

Bewertung vom 03.06.2025
Eui-kyung, Kim

Hello Baby


ausgezeichnet

Als Frau in Korea - Zwischen beruflichem Erfolg, Mutterschaft und gesellschaftlichen Erwartungen

Hello Baby - so heißt der Gruppenchat von sechs Frauen, alle Patientinnen der Angel Baby Klinik in Seoul, alle zwischen Ende 30 und Mitte 40, alle bisher ungewollt kinderlos. Die 44 jährige Munyeong versucht mit IVF schwanger zu werden, und findet in Jiun, Sora, Hyekyoung, Unha und Jeonghyo Gleichgesinnte. Geteiltes Leid mag hier angesichts von schmerzhaften Vorbereitungen und Eizellenentnahmen, erfolglosen Befruchtungen und Fehlgeburten kaum halbes Leid sein, doch die ähnlichen Erfahrungen und das Verständnis füreinander geben den Frauen in der Gruppe halt.

Über die verschiedenen Hintergründe der Frauen, beruflich, regional und auch mit Blick auf den finanziellen und sozialen Status, vermittelt der Roman einen erstaunlich weiten Einblick in die koreanische Gesellschaft und natürlich die diversen weiblichen Rollenbilder und Zwänge darin. Hier skizziert die Autorin eine Gesellschaft in der, gerade in der jüngeren Generation Mutterschaft negativ gedeutet zu sein scheint, als Belastung und ein Stören der wirtschaftlichen Produktivität. Dem steht jedoch gleichzeitig ein Druck von der Generation der Mütter und Schwiegermütter gegenüber Enkel „zu produzieren“. Und dazwischen steht die einzelne Frau mit ihren Träumen, Wünschen und eigenen Bedürfnissen.

Sensibel herausgearbeitet sind auch die Beziehungsmuster in denen die Frauen mit ihren Partnern agieren. Im Vergleich der jeweiligen Geschichten fällt auf wie unterschiedlich die Männer mit der Kinderwunschsituation, eventuell eigener Unfruchtbarkeit und den Belastungen der IVF Behandlung, auch für ihre Frauen, umgehen.

Hello Baby ist nüchtern und sensibel zugleich erzählt, schnörkellos gibt die Autorin Einblicke in die körperlichen und mentalen Belastungen der IVF und beweist dabei ein Gespür und Empathie für die Momente, in denen sie tiefer in die Gedanken der Frauen, Beziehungsmuster und gesellschaftlichen Zwänge in denen diese Agieren eintauchen muss.

Die vielfältigen Einzelschicksale verwebt die Autorin in eine berührende, erhellende, erschütternde und letztlich auch spannende Gesamterzählung. So wird Hello Baby zu einem hervorragend geschriebenen Roman über Frauen in der koreanischen Gesellschaft, gefangen zwischen den Erwartungen an sich selbst, der Familie, Schwiegerfamilie und eines gewissen Zeitgeistes. Ganz klare Leseempfehlung!