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Adelebooks
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Bremen

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Insgesamt 150 Bewertungen
Bewertung vom 04.09.2025
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Über Schlaflosigkeit, zwei Frauen und die Kraft der Freundschaft


Janis Templin ist seit 2 Jahren Nachtwache im Schlaflabor. Die Krankenschwester hat zuvor auf der Orthopädiestation im selben Klinikum gearbeitet. Als Nachtwache hat sie nun einen völlig anderen Rhythmus und Aufgabenbereich: sie schaut anderen Menschen beim Schlafen zu. Eine dieser Patientinnen ist Sina. Sina wollte einmal Künstlerin werden, nun ist sie Lehrerin, Mutter, Ehefrau und trotzdem seltsam einsam und unglücklich, als ob sie sich ab einem bestimmten Punkt in ihrem Leben verloren hat. Das drückt sich nicht zuletzt in ihrer Schlaflosigkeit aus, die sie zu Janis ins Schlaflabor geführt hat.

Bereits nach kurzer Zeit verspürt Janis eine seltsame Verbundenheit mit der Lehrerin, die in ihrem Alter ist, ihr Geburtstag ist am selben Tag mit genau einem Jahr unterschied. Noch bevor Sina alle Elektroden angelegt bekommen hat, führt diese Vertrautheit, die Janis spürt, dazu, dass sie Grenzen überschreitet, zunächst ist es nur das vertrauliche Du in der Ansprache, doch dabei soll es im Laufe der Nacht nicht bleiben.

Vor dem Hintergrund dieses Settings begleitet Der Schlaf der Anderen zwei Frauen, in der Mitte ihres Lebens, die seltsam verloren scheinen und sich vielleicht gerade deshalb in der anderen erkennen und aneinander festhalten.

Die Perspektive alterniert zwischen Janis und Sina, wobei die Autorin raffiniert in der Form variiert. Während in etwa der ersten Hälfte Sina in der Ich-Form erzählt und Janis Perspektive über eine Erzählerin vermittelt wird, wird dies im Laufe der Erzählung gespiegelt und wir lernen Janis in der Ich-Form kennen und Sina über die Erzählerin.

Sensibel zeichnet Tamar Noort so zwei Frauenleben und eine Begegnung dieser nach. Wann begann Sinas Schlaflosigkeit? Wann hat sie sich selbst verloren? Wie hat es Janis ins Schlaflabor verschlagen? Die Frauen geben sich gegenseitig Einblicke in ihr Leben, Sinas abweisende Mutter und Janis Trauer, um den Tod der ihren, und zeigen so ein Verständnis und Verstehen, dass beide sonst im Alltag mit anderem Menschen vermissen. Was aus dieser Begegnung zweier Schlaflosen erwächst, ist im besten Fall Mut das eigene Leben zu ändern, bei sich selbst anzukommen und so auch wieder die Ruhe der Nacht zu finden.

Über Janis, der Krankenschwester, und Sina, der Lehrerin, erfasst Noort auch scharfsichtig die Herausforderungen dieser Berufsgruppen und die immer schnelllebigere Gesellschaft in der die menschlichen Bedürfnisse der und des Einzelnen immer weniger Beachtung finden und der Effizienz untergeordnet werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt in unserem Umgang mit Kindern wie Jugendlichen und kranken Menschen und den Personen, die diesen Menschen, oft zulasten ihrer eigenen Gesundheit versuchen in einem dysfunktionalen System gerecht zu werden.

Der Schlaf der Anderen ist ein sensibler und klug konstruierter Roman, der zentrale Fragen der Gegenwart aufgreift und an zwei Frauenleben erlebbar macht. Ganz klare Empfehlung!

Bewertung vom 27.08.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


weniger gut

Viele lose Fäden und leider wenig Tiefe und Reflexion

Halbjapanerin Aki hat seit jeher ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. Mit der beginnenden Demenz von Mutter Keiko blickt sie auf diese Beziehung mit anderen Augen und einer neuen Dringlichkeit. Als sie dann noch vom Tod ihrer japanischen Großmutter erfährt, fällt sie einen Entschluss: ihre Mutter noch einmal in deren Heimat Japan zu bringen. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich der Roman, wobei knapp die erste Hälfte der Erzählung komplett der Aufarbeitung Keikos Vergangenheit und auch Akis Rolle darin gewidmet ist. Über einzelne Anekdoten werden Schlaglichter auf prägende Ereignisse geworfen, der Weg der Mutter nach Deutschland, ihr Ankommen im fremden Land und seiner Kultur, das Kennenlernen, die Heirat und Scheidung der Eltern, die vielfältigen Konflikte mit der dominanten, wohlhabenden Schwiegerfamilie und die schwierige Zeit nach der Scheidung. Auch während der Reise nach Japan spielt die Autorin mit Rückblicken, hier steht die japanische Familie mehr im Mittelpunkt.
Onigiri verpackt schwere Themen leicht - das ist Schwäche und Stärke des Romans zugleich. Als kurzweilige Unterhaltung, die in die Lebenswelt einer Tochter mit einer Mutter mit beginnender Demenz einführt und ein Aufwachsen zwischen Kulturen thematisiert funktioniert der Roman wunderbar. Hier vermittelt die Autorin authentischen Einblicke in die japanische Kultur, kontrastiert die zurückgenommene, japanische Kultur die Aki mit ihrer Mutter erlebt und das privilegierte Leben der deutschen Oberschicht bei den Großeltern. Auch die zarte Beschreibung der Demenz der Mutter und der Herausforderungen als Tochter damit umzugehen, haben mir im Ansatz gefallen. Mit Blick auf Keiko werden die Herausforderungen des Ankommens in Deutschland und seiner fremden Kultur und die latente Ablehnung durch die Schwiegerfamilie aufgegriffen.

In einer weiteren Dimension beschreibt Kuhn die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, die geprägt ist von Abhängigkeit (der Mutter) und Verantwortlichkeit (der Tochter). Hier kontrastiert die Autorin mit Akis Bruder Kenta, der auf den ersten Blick gelassener mit der Situation umgeht, jedoch gleichzeitig auf seine Art durch die Vergangenheit und Eltern geprägt ist, und keine eigene Familie gründet. Gerade der Aspekt der Mutter-Tochter-Beziehung war für mich der noch stärkste im Roman was die qualitative Aufarbeitung betrifft. Hier gibt es immer wieder Momente und Ansätze einer Tiefe, die der Roman sonst missen lässt und auch an diesen Stellen gerne weiter aufgegriffen hätte werden können. Auch die Prägung in einer Familie, in der beide Elternteile psychisch sehr belastet sind, spielt eine Rolle, wird jedoch nicht wirklich auserzählt.

Insgesamt konnte mich der Roman leider nicht überzeugen und lässt mich etwas frustriert zurück. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Wie der einleitende Überblick bereits verdeutlicht, möchte der Roman viele Themen auf wenigen Seiten behandeln, was zu Lasten von Tiefe und Relevanz geht. Die Geschichte entwickelt sich sehr anekdotenhaft, die eigentliche Reise findet etwa bis zur Hälfte des Romans überhaupt nicht statt, die einführenden Rückblicke sind für sich interessant, stehen aber oft atomisiert, ohne, dass die Autorin sich in die Tiefe einer Analyse wagt. Das ist leider ein Phänomen, dass ich zuletzt öfter in autofiktionalen Romanen beobachtet habe. Die angesprochenen Themen haben alle für sich ihre Berechtigung, sind sicher prägend, werden jedoch kaum in einen Kontext gesetzt und nicht wirklich entwickelt und auserzählt.

Sehr auffällig und mit Wirkung auf fast alle behandelten Themen im Roman ist das völlige Fehlen einer Reflexion der sehr privilegierten Klassenlage in der westdeutschen Oberschicht der Ich-Erzählerin und ihrer Familie. Geld spielt an keiner Stelle eine einschränkende Rolle für Reisen, Ausbildung und Pflege und auch Erwerbstätigkeit und Existenzsicherung sind keine Sorgen mit denen sich die Figuren in Kuhns Roman herumschlagen müssen.

Beim Thema Demenz hat mich der Roman an diesem Punkt, trotz der durchaus zarten Beschreibungen des Erlebens der Ich-Erzählerin, vollständig verloren. Der Roman wirkte hier auf mich wie eine emotional angehauchte Nabelschau Akis, ohne wirkliche Reflexion - viele Härten des Alltags Betroffener und Angehöriger finden nicht statt, spielen im privilegierten Milieu der Ich-Erzählerin offensichtlich auch gar keine Rolle: nicht-finanzierbare Eigenanteile im Heim, überhaupt das Finden eines guten Heimplatzes, der Kampf mit Behörden um Pflegegrade und Unterstützung, gefährliche Situationen im Alltag, Vereinbarkeit von Sorge, Pflege und Job und Familie, der ganze emotional, organisatorische, kraftzehrende Alltag - nichts davon begleitet die Ich-Erzählerin. Onigiri entwickelt sich so zu einem anekdotischen Roman, ohne wirkliche Tiefe, im Kreisen einer Ich-Erzählerin aus einem sehr privilegierten Milieu um sich selbst.

Bewertung vom 18.08.2025
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres


ausgezeichnet

Atmosphärische Erzählung an Schottlands Küste

Skerry, Schottland, das Jahr 1900, an einem verlassen Strand findet der Fischer Joseph einen leblosen Jungenkörper und bringt ihn ins nahe gelegene Pfarrhaus. Das für sich schon ungewöhnliche Geschehen, ist umso bedeutender als an selber Stelle Jahre zuvor ein Junge im vergleichbaren Alter und mit verblüffender Ähnlichkeit verschwand. Und auch damals war Joseph in das Verschwinden involviert. Moses, der Sohn der Dorflehrerin Dorothy wurde seit seinem mysteriösen Verschwinden nie wieder gesehen. Noch immer werden Gerüchte und Geheimnisse darüber im Dorf erzählt und Dorothy trägt eine tiefe Wunde, die nichts und niemand jemals zu heilen vermag. Und nun, Jahre später, taucht Joseph mit diesem Jungen aus dem Meer auf. Für Dorothy beginnt ein Ausnahmezustand und auch im Dorf sorgt der Vorgang für Erinnerungen und Rätselraten. Was hat es mit dem Jungen auf sich? Und was ist damals tatsächlich passiert? Wie wird Dorothy damit umgehen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden und der Rettung des Jungen viele Jahre später? Bereits nach wenigen Seiten hat mich der Roman vollkommen eingenommen. Ich habe mich unmittelbar in die Szene und Dorfgemeinschaft an der Küste versetzt gefühlt und konnte Dorothy und Joseph quasi hautnah beobachten und an ihren Gedanken, und ja, auch ihrem Leiden und Zweifeln, teilhaben. Der Roman wird auf zwei Zeitebenen erzählt: damals und heute. So erfahren wir, wie Dorothy als junge Lehrerin aus Edinburgh nach Skerry kommt, geprägt von einer lieblosen Kindheit mit einer herrischen, kalten Mutter. Eine beginnende Romanze zwischen Dorothy und Joseph wird bereits in ihren Anfängen von Dorftratsch und Intrigen zerstört. Aus den Perspektiven der beiden Zeitebenen setzt sich behutsam ein Bild der Geschehnisse um das Verschwinden von Moses damals zusammen und der Geheimnisse, die einige Bewohnerinnen seitdem mit sich herumtragen. Gelungen zeigt die Autorin nicht nur Dorothys emotionale Widersprüche über den Verlust des Sohnes damals und die Konfrontation mit dem Jungen aus dem Meer heute auf, sondern fängt auch die Traditionen und Eigenheiten eingeschworener Dorfgemeinschaften sensibel ein. All dies fasst die Autorin in einen ruhigen, poetischen Erzählstil, der den Fokus auf die Entwicklung der Figuren und sozialen Dynamiken legt. Die Gemeinschaft, die Natur, das Meer - aus diesen Elementen webt die Autorin eine atmosphärische Erzählung über Verlust, Liebe und das Leben. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 16.08.2025
Erdmann, Kaleb

Die Ausweichschule


ausgezeichnet

Eine Annäherung an das Unbegreifliche - Zweifelnd, tastend, mitnehmend

Wie nähert man sich dem Unbegreiflichen? Mit Fakten, Fiktion, Distanz oder Emotion? Und wer darf darüber schreiben? Kann man zu sehr oder zu wenig betroffen sein, um sich dafür zu legitimieren oder zu disqualifizieren? Diese Fragen stellt sich der Ich-Erzähler und zugleich der Autor in die Ausweichschule - benannt nach der Schule, in die die Schüler des Erfurter Gutenberg Gymnasiums nach dem Amoklauf 2002 umquartiert wurden - zur Distanz vom Geschehen und schließlich auch der umfangreichen Sanierung des Gebäudes.

Kaleb Erdmann war, ebenso wie der Ich-Erzähler, zum Zeitpunkt des Amoklaufs Schüler am Gymnasium. Als Elfjähriger erlebt und überlebte der Ich-Erzähler den 26.4.2002, dachte lange das Geschehene verarbeitet zu haben und spürt doch noch 20 Jahre später, dass es etwas gibt, dass er noch in sich trägt, Symptome verursacht, etwas über das er schreiben muss, vielleicht um es und sich selbst, als Erwachsenen und auch den elfjährigen Jungen, der das erlebt hat, besser zu verstehen.

Der Roman ist daher eine Annäherung, an das Erleben des Elfjährigen im Jahr 2002, den Amoklauf und was danach mit ihm, seinen Freunden, der Familie und Gesellschaft geschah, an die Erinnerung und Belastung des Mitte 30-jährigen, und an den Schriftsteller, der sich fragt, wie sich all dies in eine Form bringen lässt, die den Betroffenen, und auch ihm selbst, als Teil davon, gerecht wird.

Seine größte Stärke entfaltet der Roman in seinem tastenden Vorgehen, dem Zweifel und einer schonungslosen Ehrlichkeit und Einsicht in die Unzulänglichkeit des Projekts. Lässt sich wahrhaft begreifen, was damals Geschehen ist? Das Ausmaß an Gewalt und Verlust für alle Betroffene ? Und was einen Menschen dazu treibt? Kann man all dem überhaupt je gerecht werden, im Erinnern und künstlerischen Verarbeiten? Besonders ist dabei immer wieder der Blick des 11-Jährigen, die kindliche Unbefangenheit, Verdrängung und hintergründige Traumatisierung, die durch die Zeilen scheinen.

Erdmann kombiniert Selbstbefragung mit Recherche, bezieht literarische (Ines Geipel) und journalistische Referenzen ein, Fakten aus dem Gasser-Bericht gleicht er mit eigenen Erinnerungen (des Ich-Erzählers) ab, immer im Bestreben ein Bild entstehen zu lassen, zusammenzusetzen, zu verstehen. Was ist geschehen? Was geschah danach? Und wie wirkt es bis heute? Dabei zeigt er auf, dass es keine einfachen Antworten geben kann, nie geben wird und auch individuell der Umgang mit dem Erlebten verschieden ist und jeweils seine Berechtigung hat. Erinnerung, Schuld, Verantwortung auf verschiedenen Ebenen, vor und nach der Tat werden in die Ausweichschule thematisiert, nie verurteilend, immer tastend und fragend.

Mich hat der Roman gerade durch das persönliche, behutsame und zweifelnde Vorgehen darin sehr bewegt. Ich war damals 16, an einem anderen Thüringer Gymnasium und musste den Text mehrfach unterbrechen, weil er für mich die bedrückende Stimmung, die geprägt war von persönlichen Kontakten in Schüler- und Lehrerschaft zu Betroffenen, in die Gegenwart geholt und mich auf andere Weise als als 16-jährige darüber nachdenken hat lassen, was dies für unmittelbar und mittelbar Betroffene eigentlich bedeutet hat und wie wir gesamtgesellschaftlich damit umgehen. Genau dies erreicht der Autor nicht etwa über die Darstellung des Tathergangs sondern gerade über das Erforschen des Danachs, der anderen, veränderten Welt nach dem Amoklauf und wie jede einzelne Person, Behörden, Strukturen, die Gesellschaft damit umgegangen sind und was dies gerade für Betroffene bedeutet hat und bis heute bedeutet.

Trotz der Funktion des Tastens und Zweifelns im Text für die Gesamterzählung wurden mir an einigen Stellen die Ausschweifungen zu viel, hier hätte dem Roman etwas mehr Fokus gut getan, indem nicht jede Anekdote des schreibenden Ich-Erzählers, während der Textwerdung ausbuchstabiert wird. Angesichts der sehr guten Gesamtqualität und des ungewöhnlichen, gelungenen literarischen Ansatzes des Romans fällt dies für mich in der Bewertung jedoch nicht entscheidend ins Gewicht.

Die Ausweichschule stellt die richtigen Fragen, findet wenige Antworten und regt gerade deshalb zum Nachdenken an! Der Roman wird zu einem Buch über das Schreiben eines Buchs, dadurch zu dem Versuch einer Annäherung an das Unmögliche wie Unbegreifliche und seine Folgen, und schafft so die Distanz und den Zweifel, der der Thematik vermutlich am ehesten gerecht wird.

Bewertung vom 16.08.2025
Rebanks, Helen

Die Frau des Farmers


gut

Authentische Einblicke in die weibliche Lebensrealität auf einer Farm

In die Frau des Farmers teilt Helen Rebanks ihren Alltag auf einer Farm im Lake District. Ausgangspunkt für die Reflexionen über das Landleben ist die Biografie der Autorin selbst sowie ihrer Familie bis zur Generation der Urgroßeltern. So entsteht ein recht umfassendes, wie eindrückliches und vielfältiges Bild der verschiedenen Herausforderungen des, aber auch Haltung gegenüber dem, Landleben. Während beispielsweise ihre eigene Mutter der Organisation des Haushalts und dem Kochen nicht viel abgewinnen konnte, ist es für Rebanks eine echte Passion, verbunden mit einem ausgesprochenen Talent.

Ein großes Verdienst sehe ich in der authentischen Darstellung des Farmlebens. Hier wird nichts romantisiert, Positives wie Negatives, Freuden und Herausforderungen in ihrer Gesamtheit betrachtet. Für mich am besten gefasst mit dem UND: schön UND beschwerlich, einschränkend UND voller Möglichkeiten zugleich ist das Leben der Autorin und ihrer Vorfahrinnen. Denn genau hier liegt ein weiterer Wert für mich, indem die Autorin einen Fokus auf das weibliche Farmleben und seine speziellen Charakteristika legt. Dass die Autorin dabei letztlich ihre eigene Biografie und Familiengeschichte beschreibt, habe ich grundsätzlich nicht als Nachteil empfunden. Das Werk wirkt so absolut authentisch und zeigt über die Betrachtung verschiedener Generationen auch eine Varianz der Lebensrealitäten, Kontinuität und Veränderungen im Farmleben auf.

Eine Bereicherung sind grundsätzlich auch die zahlreichen Rezepte und Tipps zur Vorratshaltung, die die Autorin sowohl am Ende, aber auch lose in den Textteil eingeflochten, integriert. Hier, ebenso wie im Text, wird jedoch deutlich, dass sich das Buch wohl primär an hauswirtschaftlich unbedarftere und mit dem Landleben wenig vertraute Menschen richtet. Ein Rezept zum Zubereiten von Pudding mit handelsüblichem Puddingpulver ist aus meiner Sicht schon sehr basic und nichts was einer Rezeptsammlung bedarf, ebensowenig wie die Zubereitung von Kakao mit Kakaopulver oder heiße Schokolade.

Helen Rebanks schreibt eingängig, der Stil ist jedoch eher sehr einfach, mit wenig Varianz in der Satzstruktur und Wortwahl. Die Schilderungen hatten für mich durchaus einige Längen, aus meiner Sicht war nicht jede Ausschweifung der Gesamterzählung im dargestellten Ausmaß zuträglich. Insgesamt ist die Frau des Farmers ein authentischer und einfach geschriebener Einblick in die weibliche Lebensrealität auf einer Farm, wenngleich Menschen ohne eigene Vorerfahrung im Landleben und der Hauswirtschaft hier wohl den größten Erkenntnisgewinn haben werden.

Bewertung vom 21.07.2025
Buckley, Katie

Hero


ausgezeichnet

Eine moderne, feministische (Anti-)Liebesgeschichte - Aufwühlend, verletzlich, sanft und kämpferisch zugleich

Wie ist es möglich in einer Welt, die nur funktioniert indem du deine Rolle als Frau einnimmst, mit all ihren Erwartungen, du selbst zu sein? Eine eigene Identität überhaupt zu entwickeln? Und wenn du das einmal geschafft hast - was bedeutet es in dieser Situation als Frau einen Mann zu lieben und gleichzeitig sich selbst treu zu bleiben? Und ist Liebe überhaupt genug vor diesem Hintergrund? Mit diesen Fragen sieht sich Hero konfrontiert, als ihr Partner von ihr ein Bekenntnis zur Heirat möchte. Sieben Tage Auszeit sollen sie einer Entscheidung näher bringen. Genau diese sieben Tage, mit Heros Erinnerungen an vergangene Beziehungen, ihre Sozialisation als Frau, und Reflexionen der Beziehung und Liebe zu ihrem aktuellen Partner begleitet der Roman, verfasst als eine Art Brief in Tagebuchform in der Du-Form, adressiert an ihren Partner.

Über geschickt und poetisch eingeflochtene Referenzen in Antike, Mittelalter, aber auch die jüngere Vergangenheit mit Blick in die frühen Jahre von Heros Mutter, zeigt die Autorin in Heros Erleben die Kontinuität und Macht patriarchaler Strukturen und Kultur auf und wie sich Frauen in jedem Zeitalter immer wieder darin verfangen, sich beugen, täuschen lassen und immer wieder enttäuscht werden. Sexismus, Misogynie und alle Auswüchse des Patriarchats werden von der Hexenverbrennung bis in die Gegenwart geschickt in die Erzählung und Heros Reflexionen eingeflochten. Neben der persönlichen Ebene sehe ich es als besonderes Verdienst der Autorin auch die systemischen Aspekte dieser Strukturen herauszuarbeiten. Die Unterwerfung der Frau unter die Wünsche des Mannes stabilisiert heute ein patriarchales System ebenso wie es früher Königreiche stabilisiert hat. Und gleichzeitig zeigt dies umgekehrt wie viel Macht Frauen hätten, wenn sie sich solidarisieren und Aufbegehren, nicht nur um sich selbst aus der Unterdrückung zu befreien, sondern um die permanente Reproduktion patriarchaler Gesellschaftssysteme endlich zu durchbrechen. Auch hierzu zeigen sich im Roman einzelne Szenen der Schwesternschaft, die berühren und Hoffnung machen.

Vor diesem Hintergrund wird auch die gleichberechtigte Liebe auf Augenhöhe zu einer fast unauflösbaren Aufgabe, denn die Frau, hier Hero, hat in diesen Strukturen noch immer das meiste zu verlieren. Genau diesen Widerspruch arbeitet Buckley unglaublich kraftvoll, ebenso wie sensibel heraus. Heros Zerrissenheit, der Drang nach Selbstbestimmung und gleichermaßen die Liebe zu ihrem Partner und aufrichtige Erwiderung dieser werden mit jeder Zeile spürbar. Es ist zum Teil schwer auszuhalten und sehr authentisch wie Hero ihre Sozialisation als Frau beschreibt, in der ihr vermittelt wurde, dass nichts zu groß ist, um es einem Mann recht zu machen und es letztlich das Einfachste ist, jegliche eigene Kontur verschwinden zu lassen und ganz in den Wünschen des Mannes aufzugehen. Dabei spielt die Autorin im Laufe der Erzählung immer wieder hintergründig und gekonnt mit dem Heldenmotiv, als Zielgröße für Hero selbst und ihre eigene Entwicklung, aber gleichzeitig auch als Projektion in die Männer ihrer Vergangenheit.

Die Sprunghaftigkeit, Schnelligkeit und sich wandelnde Melodie der Erzählung mögen beim Lesen machmal kurzzeitig verwirren, doch spiegeln sie dabei gleichzeitig gelungen Heros Gefühlsleben authentisch in Stil, Struktur und Wortwahl des Romans wider.

Hero ist ein Buch, das ich gerne viel früher in meinem Leben gelesen hätte und mir auch als zeitgemäße Lektüre in der Oberstufe vorstellen könnte, um junge Frauen und auch Männer, in einer authentischen Sprache und auf Augenhöhe abzuholen und für patriarchale Strukturen, ihre Macht und Prägung zu sensibilisieren. Ganz klare Empfehlung für diese ungewöhnlich erzählte, moderne, emanzipatorische (Anti)Liebesgeschichte!

Bewertung vom 13.07.2025
Hope, Anna

Wo wir uns treffen


gut

Ein englisches Familienporträt und ein Blick hinter die Fassade der großbürgerlichen, idyllischen Familie


Sussex, ein über zwei Jahrhunderte altes Haus mit einer zweistelligen Zahl an Schlafzimmern, seit jeher im Familienbesitz, erbaut aus Sandstein vom nahegelegenen Steinbruch, 400 Hektar Land. All das gehört der Familie Brooke, deren Patriarch Philip Brooke kürzlich verstorben ist. Der Tod und die bevorstehende Beerdigung bringt die Familie zusammen und legt damit gleichzeitig tiefe Wunden der Vergangenheit offen. Grace, die Witwe, die mehr um das Leben mit Philip als seinen Tod trauert, Frannie, das älteste Kind und Erbin des Anwesens, das sie bereits in den Jahren vor seinem Tod mit ihrem Vater umgestaltet und für die Zukunft vorbereitet hat, Milo, der Sohn und Stammhalter, als Kind aus Traditionsbewusstsein auf ein Internat verwiesen und noch immer mit dieser gefühlten Zurückweisung hadernd, und Isa, das jüngste Kind, lange entfremdet von der Familie - sie alle kehren zurück in das Haus der Familie und müssen sich ihren Erinnerungen stellen.

In den Erinnerungen der Verbliebenen setzt sich ein Bild Philips zusammen, das sich von dem der frischen Trauer Frannies unterscheidet. Ein junger Partyboy, der keine Affäre und Vergnügung auslässt, das Kennlernen von Grace und Phillip, ein Ehemann der ständig fremd geht und schließlich mehrere Jahre mit seiner Geliebten Natascha in New York gelebt und Frau und Kinder in England zurückgelassen hat. Aber auch das eines liebenswerten Großvaters. Die Last der Tradition, die lieblose Ehe der Eltern und deren Auswirkungen nicht nur auf Grace sondern auch die Kinder, jedes für sich und auch in der belasteten Geschwisterbeziehung kommt im Laufe des Romans immer deutlicher zum Vorschein.

Neben der Trauer und Vergangenheitsbewältigung ist die Beerdigung und das Zusammentreffen der Geschwister der Anlass, um das Erbe und die (unsichere) Zukunft des Anwesens zu diskutieren. Auch hier treffen unterschiedliche Vorstellungen und Wünsche aufeinander. In diese angespannte, dynamische Situation kündigt sich die Tochter von Philips langjähriger Geliebter an zur Beerdigung zu kommen und löst damit Spekulationen um eine mögliche Vaterschafts Philips aus.

Der Roman lebt von der Vielfalt der Perspektiven, die die Autorin darin einnimmt. Diese spannen sich von der über Jahrzehnte verletzten Ehefrau, Mutter und nun Witwe Grace, über die drei Kinder, Nataschas Tochter Clara, verschiedene Hausangestellte bis hin zur sieben Jährigen Enkelin des Verstorbenen, Frannies Tochter Rowan. So entsteht nach und nach ein authentisches Familienporträt hinter der Fassade der großbürgerlichen idyllischen Familie.

Wo wir uns treffen ist ein atmosphärisch erzähltes Familienporträt im ländlichen Sussex, das tief in die familiale Szenerie eintauchen lässt und dabei behutsam einige Geheimnis aufdeckt. Ich habe die Familie Brooke gern begleitet, wenngleich der Roman für mich ein paar Längen hatte und eher Unterhaltungsroman als Milieustudie ist.

Bewertung vom 06.07.2025
Gesing, Daniela

Mord im Wattenmeer


schlecht

Rhabarberkuchen und Mord - Regionalkrimi am Jadebusen, sprachlich eher schwach und nicht immer logisch

Femke ist eher widerwillige Pädagogikstudentin und dafür umso passioniertere Hobbyermittlerin mit dem Traum einer eigenen Detektei. Als sie in ihrem Nebenjob als Reinigungskraft von Ferienhäusern in Dangast am Jadebusen auf eine Leiche stößt, ist der Schock groß und gleichzeitig ihre Spürnase für Kriminalfälle geschärft. Mit Unterstützung von Freunden und Bekannten und nicht immer zum Wohlgefallen der örtlichen Polizei nimmt sie sich vor den Todesfall aufzuklären.

Die Story des Kriminalfalls ist interessant und relativ spannend konstruiert, verschiedene Verdächtige tauchen auf, es gibt einige Wendungen. Die Einbettung in die Landschaft um den Jadebusen ist grundsätzlich eine gute Idee, in der Umsetzung wird jedoch zu oft ein Namedropping bekannter Sehenswürdigkeiten daraus, statt atmosphärische Bilder, in die man eintauchen könnte.

Die Figuren im Roman sind überwiegend sympathisch gezeichnet, wenn auch nicht durchgängig wohl ausformuliert. Femke als Hauptfigur wirkt in ihren Lebensumständen sehr konstruiert und wenig authentisch. Warum sie beispielsweise als Pädagogikstudentin nicht in einer WG in Oldenburg wohnt oder in ihrem Heimatdorf bei Oldenburg und stattdessen als Studierende alleine eine 52qm große Zweizimmerwohnung am Jadebusen bewohnt und einen Mini fährt (und sich leisten kann) bleibt vollkommen ohne Erklärung, obwohl es, zumindest jenseits eines privilegierten Milieus, durchaus unüblich ist. Gleichzeitig muss sie vermeintlich als Reinigungskraft arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren. Eine konsequentere, nachvollziehbarere Ausformulierung des Charakters hätte die Erzählung sicher bereichert. So verbleibt sie eine Kunstfigur, über die man besser nicht zu viel nachdenken sollte, angesichts der Inkonsistenzen und Lücken in der Darstellung ihres Charakters und Hintergrunds. Die Nachbarin Grete (die eigentlich die Vermieterin ist), wird als Miss Marple bezeichnet, ähnelt jedoch in ihrem Hadern und ihrer Ängstlichkeit nicht im geringsten der berühmten Ermittlerin. Auch die übrigen Charaktere verbleiben oberflächlich sowie teilweise überzeichnet und wirken in Verbindung mit den gestelzten Dialogen oft fast schon ungewollt komisch. Auch wenn es sich um fiktionale Figuren handelt, lebt ein literarisches Werk für mich davon, dass die Figuren nachvollziehbar und im gezeichneten Charakter konsistent bleiben. Dies ist für mich hier leider nicht gelungen.

Die Dialoge sind fast durchgängig flach, hölzern und gestelzt, dadurch verliert die Erzählung leider zusätzlich an Authentizität. Sprachlich wirkt der Krimi oft laienhaft in Satzstruktur und Ausdruck, Füllwörter und -Sätze werden nicht immer logisch sinnvoll verwendet und/oder sind redundant. Auch in der Handlung gibt es zahlreiche offensichtliche Inkonsistenzen und Logikfehler, die das Leseerlebnis leider merklich trüben. Hier würde ich mir nicht nur von der Autorin mehr Empathie für ihre Figuren und Sorgfalt in der Recherche sondern auch vom Lektorat mehr Umsicht und Gründlichkeit wünschen. Bei allem Respekt vor der kreativen Leistung der Autorin, sollte dies umgekehrt auch gegenüber den Leserinnen gelten, denen man Zeit und Geld mit einer solchen Publikation entzieht, was wiederum ein Mindestmaß an Sorgfalt in Recherche, Logik und sprachlicher Qualität implizieren sollte.

Die Grundidee des Falls hat durchaus Potenzial, die Umsetzung konnte mich jedoch nicht überzeugen. Die Ansiedlung des Krimis in Dangast war für mich mit netten Erinnerungen verbunden, da ich selbst lange in der Region gelebt und gearbeitet habe, und ihr noch immer durch Freunde und Familie verbunden bin. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wirkten die Figuren auf mich nicht unbedingt authentisch. Auch sprachlich konnte der Krimi mich nicht überzeugen. Defizite in Ausdruck, Logik und Semantik haben das Buch für mich stark geschwächt, sodass ich es leider, wenn überhaupt, nur für begeisterte Urlauberinnen der Region empfehlen würde, die sehr leichte Unterhaltung wünschen und über Logikfehler und flache Dialoge hinwegschauen können. Freunden und Bekannten aus der Region konnte ich das Buch leider nicht guten Gewissens weiterempfehlen. Anderen Regionalkrimis und - Autorinnen gelingt aus meiner Sicht der Spagat zwischen malerischen Landschaftsansichten, authentischen Figuren und einem spannenden Fall in Verbindung mit lockerer Unterhaltung deutlich besser. Ich hatte mich sehr auf den Fall am Wattenmeer gefreut und bleibe nach der Lektüre ziemlich enttäuscht und verärgert über die Lesezeit, die ich darin investiert habe, zurück. Allen Interessierten sei ein Besuch in (Ost)Friesland, nicht nur dem schönen Dangast, und der leckere Rhabarberkuchen jedoch uneingeschränkt und unbedingt ans Herz gelegt. Hier verspricht der Krimi, trotz seiner Schwächen, nicht zu viel! Bereits mit sehr viel Wohlwollen, und im fairen Vergleich zu anderen Publikationen, kann ich leider nicht mehr als 1,5 Punkte für diesen Krimi geben.

Bewertung vom 06.07.2025
Koler, Laurenz

Aufstehen


sehr gut

Authentischer Einblick in eine Südtiroler Jugend - sensibel und mitnehmend erzählt

Nick lebt in Bozen und ist gerade in den letzten Zügen seiner Schulzeit. Er fristet ein eher isoliertes Dasein, Menschenmengen und Angebertum sind ihm verhasst, sein großer Halt sind seine besten Freunde Emilia und Noah.

Bereits früh im Roman gibt es erste Hinweise, dass Nick im Leben sowohl in der Vergangenheit als auch der Gegenwart familialen Belastungen ausgesetzt ist. Der Roman lässt die Leserin hier lange im Dunkel, deutet immer wieder nur an, bleibt aber vage, was ich als sehr gelungen empfunden habe.

So bedrückend wie sich Nicks Alltag zuweilen liest, so gelungen schafft der Autor über die Freundschaft der drei Jugendlichen, die gegenseitiges Verständnis, Unterstützung und Freude verspricht, Momente der Erleichterung und des Lichts in den dunklen Alltag einzubauen. Ein Licht, das auch Nick darin spürt und der Autor für die Leserinnen fast fühlbar macht. Die Beschreibungen der Gesellschaft und Natur auf der nahen Seiser Alm, am Kalterer See und im städtischen Bozen versprechen einen wohlwollenden, jedoch nicht unkritischen Blick auf aktuelle gesellschaftliche Strömungen, ebenso wie gelebte Traditionen. Koler porträtiert so nicht nur seine Generation, sondern auch deren Blick auf ihre Herkunft, die Traditionen, Herausforderungen, sowie Eigenheiten und auch Liebenswürdigkeiten.

Obwohl auch typische Teenagerherausforderungen, wie Freundschaft, Liebe, erster Sex und Drogen thematisiert werden, wird der Roman nie banal. Koler hat einen Blick für die Zwischentöne menschlicher Interaktion und fasst Stimmungen und Gefühle in eingängige, manchmal überraschende, literarische Bilder.

Sprachlich waren für mich phasenweise zu viele bewusste Ausformulierungen von Situationen und Gedanken vorhanden. Hier könnte der Autor aus meiner Sicht durchaus mehr Mut beweisen und Situationen für sich stehen und wirken lassen ohne diese bis ins Detail zu erklären und auszuformulieren. Die Eskalation und das Ende der Erzählung kam für mich wiederum etwas zu plötzlich. Zehn bis zwanzig Seiten zusätzlich hätten einer noch kohärenteren Gesamterzählung sicher zugetragen. Diese Kritikpunkte fallen jedoch angesichts des jungen Alters des Autors und der Tatsache eines Debüts kaum ins Gewicht und können den positiven Gesamteindruck nicht trüben.

Laurenz Koler gibt in Aufstehen seiner Generation und Region eine authentische, junge Stimme und hat diese in einen überzeugenden Roman verwandelt, der das Potential hat jüngere wie ältere Leserinnen gleichermaßen zu begeistern und zum Nachdenken anzuregen.

Bewertung vom 24.06.2025
Kadota, Yumiko

Emotional Female


gut

Der Weg in Depression und Burnout und erschütternde Einblicke in das Gesundheitssystem

Über ihre Schulzeit in Singapur, London und Sidney, das Medizinstudium in Australien und ihre Ausbildung zur Assistenzärztin fühlen wir Yumikos Traum Chirurgin zu werden zum Leben erwecken und verfolgen ihren oft steinigen, beschwerlichen Weg dahin. Die Hürden stellen dabei nicht nur ein durch und durch kompetitives und von Diskriminierung wie Ausbeutung durchdrungenes Ausbildungs- und Gesundheitssystem dar. Schon früh wird deutlich, dass auch Yumikos Persönlichkeitsstruktur, der Drang immer die Beste sein zu wollen, immer gemocht zu werden und zu gefallen, ebenso ein kulturell geprägter Leistungsethos aus ihrer japanischen Sozialisation, eine destruktive Allianz mit dieser Berufswahl einzugehen scheinen. Diese Gesamtumstände führen sie schließlich in eine schwere Depression.

Als sehr positiv empfinde ich, dass die Autorin mit ihren Zeilen realistische Einblicke in das australische Gesundheitssystem und die Lebensrealität junger Ärztinnen darin vermittelt: Sexismus, Misogynie, Rassismus, Ausbeutung und Leistungsdruck sind die Variablen, die den Alltag Yumikos bestimmen. Parallelen zu europäischen und dem deutschen Gesundheitssystem sind hier sicher nicht zufällig, verschiedene Situationen habe ich zumindest schon sehr ähnlich in Krankenhäusern beobachten können. Ob hier immer alle geschilderten Patientinnenkontakte, Erkrankungen und Konflikte mit Kollegen im Detail notwendig für die Gesamterzählung sind, bleibt dahin gestellt. Für mich hatten die Schilderungen durchaus ein paar Längen.

Sehr schwer auszuhalten war für mich jedoch ab einem bestimmten Punkt die mangelnde Reflexion der Autorin, inwiefern ihre eigene Persönlichkeitsstruktur die beschriebene Entwicklung begünstigt hat - ihr Drang immer alles richtig zu machen, immer und überall die Beste zu sein und die repetitive, inflationäre Erwähnung dieses Musters über rund 400 Seiten wirkten zunehmend redundant auf mich, zumal es keine echte Entwicklung auf dieser Ebene gibt. Im Gegenteil beginnt man schon sehr früh in ihrer Laufbahn und den Schilderungen zu ahnen, dass das nicht gut gehen kann und auf eine Katastrophe zuläuft. Und so lesen sich die über 400 Seiten auch fast wie eine Chronologie dieser Katastrophe. Dabei verharrt die Autorin über weite Teile ihrer Ausführungen auf einer Stufe der Empörung, echte Lösungsorientierung und Selbstermächtigung, um aus den destruktiven Mustern auszubrechen, finden sich erst am Ende im Nachhinein und die Katastrophe wird so umso unausweichlicher. Damit im Zusammenhang fällt auch das völlige Fehlen von Solidarisierung und dem Bewusstsein für politische Handlungsmacht, um Veränderungen anzustoßen, in den Ausführungen auf. Die Autorin geht an die Öffentlichkeit, erst als sie nichts mehr zu verlieren hat.

Emotional Female wird so weniger eine wohl formulierte Systemkritik, als eine persönliche Chronik zur Aufarbeitung und Abrechnung Yumikos mit dem australischen Gesundheitssystem vor dem Hintergrund der Unfassbarkeit, wie es so weit kommen und ausgerechnet ihr dies passieren konnte. So wichtig auch Erfahrungsberichte sind, hätte ich mir gerade vor dem Hintergrund der im Rückblick verfassten Zeilen eine analytischere Betrachtung und Einordnung ihrer Erlebnisse in einen größeren gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Kontext gewünscht. Auch den Untertitel finde ich nicht ganz glücklich gewählt, denn die Autorin hat letztlich eine schwere Depression entwickelt. Der Begriff Burnout mag zwar catchy sein, sollte jedoch nicht über die schwere psychische Erkrankung über die Kadota berichtet hinwegtäuschen.

Eine allgemeine Empfehlung für das Buch auszusprechen fällt mir schwer. Ich bin der Autorin dankbar, dass sie über ihre Erfahrung berichtet hat, denn ihr Buch zeigt deutlich massive Missstände in westlichen Gesundheitssystemen auf und kann so vielleicht Veränderung anregen. Gleichzeitig sollte sich jede Leserin zuvor bewusst sein, dass gut 75% des Buchs die Chronologie einer Katastrophe sind und im Detail Yumikos Weg in die Depression beschreiben. Echte Handlungsmacht und Selbstermächtigung kommen aus meiner Sicht zu kurz, sodass man diese Schilderungen und ihre Dramatik und Destruktivität tatsächlich auch aushalten können muss. Analytische und in das Gesamtsystem einordnende Daten und Fakten fehlen vollständig, sodass Emotional Female primär eine Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung der Autorin ist. Vor diesem Hintergrund empfehle ich Emotional Female gern allen Interessierten, die sich dessen bewusst sind und der Lektüre gewachsen fühlen.