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hamburger.lesemaus
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Bargfeld-Stegen

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Insgesamt 473 Bewertungen
Bewertung vom 10.09.2025
Keßler, Verena

Gym


ausgezeichnet

GYM
Verena Kessler
ET: 19.8.25

Unsere namenlose Ich-Erzählerin sucht dringend einen Job. Mit ungewaschenen Haaren und Erdnussflip-Bauch steht sie vor Ferhat, dem Besitzer des Mega Gyms. Schon beim ersten Blick ist ihm klar: Diese Bewerberin passt so gar nicht in sein Bild von „schlank, sportlich, muskulös“. Doch als sie behauptet, gerade entbunden zu haben, drückt er ein Auge zu und stellt sie ein – ohne zu ahnen, dass es sich dabei um eine Notlüge handelt.
Fragen nach dem Baby weicht sie geschickt aus, und wenn jemand Fotos sehen will, präsentiert sie kurzerhand das Kind einer Ex-Kollegin.

Doch die Umgebung im Gym bleibt nicht ohne Wirkung: Umgeben von trainierten, perfekt durchgestylten Körpern beginnt sie, sich selbst immer stärker in Frage zu stellen. Der Drang zur Selbstoptimierung packt sie – und bald kennt ihr Ehrgeiz beim Training kaum noch Grenzen.
Wie weit sie geht und wo das alles endet, müsst ihr selbst lesen …

Was für ein krasses Buch!
Ich habe es in einem Rutsch verschlungen. Verena Kessler trifft einmal mehr den Nerv der Zeit: Schönheitswahn, Leistungsdruck, der Wunsch nach Anerkennung – all das verdichtet sie in einer packenden Geschichte. Besonders gelungen fand ich die Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die der Erzählung viel Tiefe geben.

Der Schreibstil ist wie gewohnt mitreißend, klar und nie vorhersehbar – ein Text, der immer wieder überraschende Haken schlägt. Allerdings sollte man als Leser*in nicht zu zart besaitet sein, denn manche Szenen sind durchaus verstörend oder eklig.

Ein kleiner Kritikpunkt: Ich hätte mir mehr Hintergrund darüber gewünscht, was letztlich die Psychose der Protagonistin ausgelöst hat. Dieser Aspekt blieb für mich etwas offen.

Fazit:
Ein starkes, eindringliches Buch, das direkt ins Heute passt, tiefgründig und dennoch schnell zu lesen. Ich brauch definitiv noch ein wenig Zeit, um alles nachwirken zu lassen.
4½/5

Bewertung vom 09.09.2025
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


sehr gut

SCHWEBENDE LASTEN
Annett Gröschner
ET: 3.9.25

Annett Gröschner erzählt das Leben von Hanna Kraus, das fast ein Jahrhundert umspannte. Unter schwierigen Bedingungen wuchs sie ab ihrem vierten Lebensjahr in Magdeburg als Waise auf. Mal lebte sie bei der einen Halbschwester, mal bei der anderen – doch keine von ihnen war je liebevoll zu ihr. Stattdessen wurde sie als eine Art „Mädchen für alles“ behandelt.

Hanna liebte Blumen. Geprägt durch eine Halbschwester, die einen Blumenladen führte, erlernte sie den Beruf der Floristin. Nach der Hochzeit mit Karl – vor dem ihre Schwestern sie als „Taugenichts“ gewarnt hatten – eröffnete sie im Knattergebirge einen eigenen Laden. Doch bald sollte sich zeigen, dass die Warnungen der Schwestern nicht unbegründet waren: Karl unterstützte sie kaum, fühlte sich nicht zum Arbeiten berufen und machte ihr stattdessen ein Kind nach dem anderen. Insgesamt brachte Hanna sechs Kinder zur Welt, erlitt eine Fehlgeburt und musste häufig die Dienste einer „Engelmacherin“ in Anspruch nehmen.

Der Krieg zerstörte ihren Blumenladen, Karl verlor im Stahlwerk ein Bein, und Hanna hielt die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Besonders schwer traf sie der Verlust von zwei Kindern, die sie nie beerdigen konnte – ein Schmerz, der sie ihr Leben lang begleitete. Nach dem Krieg wurde sie, trotz ihrer Höhenangst, in der DDR Kranführerin. Auch wenn das Leben nun etwas ruhiger verlief, blieb es alles andere als langweilig. Bis zu ihrem Tod verlor Hanna nie ihre Liebe zu den Blumen.

Das Lebensporträt von Hanna Kraus habe ich mit gemischten Empfindungen gelesen. Die Stärke dieser Frau ist unübersehbar, und man mag sich kaum ausmalen, welche Wege ihr offen gestanden hätten, wäre ein verlässlicher Partner an ihrer Seite gewesen. Besonders eindringlich sind die Schilderungen der Kriegsjahre – im Mittelteil konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Der Beginn und das Ende hingegen wirken deutlich nüchterner, fast distanziert, und haben mich emotional weniger erreicht. Auch die vielfach hervorgehobene poetische Sprache konnte ich in dieser Form nicht entdecken.

Insgesamt ein solides Buch – ob es für den Deutschen Buchpreis reicht, bleibt abzuwarten.

Zitat: (S.82) "Sie wollte kein weiters Kind. Aber für Karl, der nicht mehr gehen und nicht einmal ein Baby im Stehen halten konnte, war es sehr wichtig, dass er wenigstens noch in der Lage war zu zeugen."

Bewertung vom 08.09.2025
Graw, Theresia

In uns der Ozean


ausgezeichnet

IN UNS DER OZEAN
Theresia Graw
gelesen von Elke Schützhold
ET: 31.7.25

1929:
Rachel träumt davon, als Biologin das Meer zu erforschen. Doch als ihr Vater plötzlich stirbt, zerplatzen ihre Pläne. Aus einfachen Verhältnissen stammend, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Schulden des Vaters zu begleichen und ihre Familie zu versorgen – ihre Promotion muss sie aufgeben.

In Washington D.C. findet Rachel Arbeit bei der amerikanischen Fischereibehörde. Dort verfasst sie Texte für eine Radiosendung. Anfangs wird sie von ihren männlichen Kollegen belächelt, doch schon bald macht sie sich einen Namen – verborgen hinter ihren Initialen. Kaum jemand ahnt, dass sich hinter den wissenschaftlich fundierten und zugleich poetisch geschriebenen Beiträgen eine Frau verbirgt.

Bald entdeckt der Verlag Simon & Schuster ihr Talent und bietet ihr einen Buchvertrag an. Ihre Werke werden zu Bestsellern, tausendfach verkauft und gefeiert.

Als Rachel miterlebt, wie Flugzeuge in großem Stil das Pestizid DDT versprühen, beschließt sie, nicht länger zu schweigen. Mit unerschütterlichem Mut nimmt sie den Kampf gegen die mächtigen Chemiekonzerne auf – und verfasst ein Werk, das bis heute als eines der wichtigsten Sachbücher überhaupt gilt.

Rachel Louise Carson war ihrer Zeit weit voraus. Sie lebte unabhängig, unverheiratet, alleinerziehend – und brach damit sämtliche gesellschaftliche Konventionen. Theresia Graw gelingt es meisterhaft, die historische Persönlichkeit mit fiktiven Elementen zu verweben. Was zunächst wie eine spannende Lebensgeschichte beginnt, entwickelt sich zu einem packenden Roman, der sich fast wie ein Thriller liest.

Wir alle haben dieser außergewöhnlichen Frau viel zu verdanken: Ohne ihren unermüdlichen Einsatz hätten wir womöglich heute keine Vögel und Insekten mehr.

Ich durfte das Buch sowohl lesen als auch hören. Besonders hervorheben möchte ich die wunderbare Stimme von Elke Schützhold, die mich mit ihrer Interpretation tief beeindruckt hat.

Fazit: Ein mitreißendes Buch über eine außergewöhnliche Frau. Absolute Leseempfehlung!
5/5

Bewertung vom 05.09.2025
Flitner, Bettina

Meine Mutter


gut

MEINE MUTTER
Bettina Flitner
ET: 04.09.2025

Gila, die Mutter der Autorin, hat vor 40 Jahren Suizid begangen. Sie war nicht die Erste in ihrer Familie, die den Freitod wählte, und leider auch nicht die Letzte.
Bettina Flitner begibt sich auf Spurensuche und reist nach Schlesien, wo ihre Familie einst ein großes Sanatorium eröffnete. Die gute Luft zog Menschen aus nah und fern an – meist wohlhabend und gut situiert. Anfangs blickten die einfachen Dorfbewohner skeptisch auf die reichen Kranken, doch am Ende profitierten sie: Sie erhielten kostenlose Behandlungen und Arbeitsplätze für ihre Söhne und Töchter.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zerbrach dieser Aufstieg. Die Familie verlor ihr Hab und Gut und musste nach Celle fliehen. Doch auch dort stellte sich für Gila kein dauerhaftes Glück ein. Ihr Ehemann, Bettinas Vater, lebte neben der Ehe weitere Beziehungen, Gila versank in Depressionen, und nur selten erlebte sie kleine Momente der Freude.

Flitner erzählt diese Familiengeschichte auf Grundlage von Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen ihres Großvaters und ihrer Tante. Das Buch "Meine Schwester" hatte mich im letzten Jahr begeistert und sehr berührt und war für mich ein Lese-Highlight. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an dieses neue Buch.

Leider bleibt es hinter dem Vorgänger zurück. Stellenweise konnte es mich fesseln, aber nicht durchgehend. Auch wenn es erschütternde Szenen gibt, bleibt die Erzählung eher oberflächlich. Flitner schreibt, dass sie zu ihrer Mutter nur ein distanziertes Verhältnis hatte und genau das konnte ich beim Lesen spüren.

Fazit:
Eine traurige Familiengeschichte, ohne Frage, doch leider bleibt das Buch hinter meinen Erwartungen zurück. Trotzdem wünsche ich Bettina Flitner eine große Leserschaft und freue mich auf ein weiteres Buch von ihr – gern etwas ganz anderes.
3½/5

Bewertung vom 31.08.2025
Rubik, Kat Eryn

Furye


ausgezeichnet

FURYE
Kat Eryn Rubik
ET: 15.07.2025

Unsere namenlose Ich-Erzählerin kehrt nach zwanzig Jahren zurück in den Ort, den sie nicht nennen will. Hier war sie einst die Außenseiterin: Stipendiatin an einer Eliteschule, Tochter von Einwanderern, die in einem bröckelnden Wohnblock lebten, während die anderen in Villen mit Pool groß wurden. Ihre Eltern, einst Akademiker, mussten in der Fremde Taxi fahren und Büros putzen.

Damals, mit 17, lernte sie Meg und Tess kennen, und erlebte, dass Reichtum längst kein Garant für Glück ist. Megs Mutter ertränkte ihre Tage im Alkohol und kümmerte sich keinen Deut um ihre Tochter. Tess lebte mit der ständigen Angst vor ihrem gewalttätigen Vater. Und dann war da noch Romaine, der stille Junge, der sie kaum eines Blickes würdigte und doch eine unerklärliche Anziehungskraft hatte. Es war der Sommer der ersten Liebe – und der ersten Verluste.

Heute begegnen wir Alec, einer erfolgreichen Managerin in der Musikbranche. Sie ist erschöpft, kurz vor dem Burnout, trauert um ihren Vater, versucht ihre Mutter aufzufangen – und hadert mit dem unerfüllten Wunsch nach Mutterschaft. Eines morgens sitzt sie vor den Nachrichten, als der Moderator von einem tödlichen Unfall berichtet: Ein Cabrio sei von den steilen Klippen gestürzt. In Alec schreit sofort alles auf, denn sie weiß, dass das nicht die Wahrheit ist.

Kat Eryn Rubik hat mit Furye einen Roman geschrieben, der atemlos macht. Was vom Cover auf eine leichte Sommerlektüre schliessen lässt, entpuppt sich schnell als vielschichtige, dunkle Geschichte über Misogynie, Machtmissbrauch und dysfunktionale Beziehungen; über Armut und Privilegien – über Sehnsüchte, Mutterschaft und den langen Weg zur Selbstfindung.

Der Stil der Autorin ist hypnotisch – ein Sog, der nicht mehr loslässt. Schon nach den ersten Seiten war ich verloren in dieser Welt und konnte das Buch nicht mehr zur Seite legen.

Fazit:
Roh, emotional, voller Wucht – Furye ist ein Roman, der nachhallt, verstört und berührt. Ein starkes, unvergessliches Leseerlebnis.
5/5

Bewertung vom 29.08.2025
Herngren, Moa

Schwiegermutter


ausgezeichnet

SCHWIEGERMUTTER
Moa Herngren
14.06.2025

Andreas war noch keine zwei Jahre alt, als sein Vater die Familie verließ und in Dänemark eine neue gründete. Von da an wuchs er allein mit seiner Mutter Åsa auf. Die beiden waren ein eingespieltes Team; Streit gab es kaum. Åsa versuchte, ihrem Sohn jeden Wunsch zu erfüllen – vielleicht auch, um die Abwesenheit des Vaters auszugleichen. Freunde waren bei ihnen immer willkommen, selbst Andreas’ Ex-Freundin Heidi verbrachte viele Stunden auf Åsas Couch.

Doch als Andreas nach der Kündigung seiner Wohnung mit seiner neuen Freundin Josefin notgedrungen bei Åsa einzog, veränderte sich das vertraute Verhältnis zwischen Mutter und Sohn spürbar. Plötzlich war Andreas distanzierter, schloss sich mit Josefin ein und suchte kaum noch den Kontakt zu Åsa. Josefin begegnete ihr kühl und wortkarg, während Åsa alles daransetzte, das junge Paar willkommen zu heißen – sie kochte Lieblingsgerichte, besorgte vegane Spezialitäten und bot ihre Hilfe an. Doch je mehr sie versuchte, Nähe herzustellen, desto stärker zog sich Andreas zurück. Missverständnisse häuften sich, und die Fronten verhärteten sich. Als Åsa schließlich ungefragt das Zimmer betrat, um Wäsche mitzunehmen, und dabei auf einen positiven Schwangerschaftstest stieß, kam es zur Eskalation. Der schmale Grat zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit war überschritten – mit fatalen Folgen. Andreas wandte sich vollständig von seiner Mutter ab und untersagte ihr später den Kontakt zu seinem Sohn Sam.

Schwiegermutter ist ein packender Roman über eine dysfunktionale Familie. Moa Herngren gelingt es meisterhaft, durch wechselnde Perspektiven die Spannung hochzuhalten und die Konflikte greifbar zu machen. Immer wieder musste ich das Buch zur Seite legen, so sehr hat es mich berührt. Besonders mit Åsa habe ich gelitten – ihre Verzweiflung ist schmerzhaft nachvollziehbar. Vielleicht liegt es auch an meinem eigenen Alter, das ihrem so nah ist, dass ich sie trotz mancher übergriffiger Momente in Schutz nehmen wollte.

Fazit:
Ein intensives, fesselndes Buch, das mich tief bewegt hat und das ich unbedingt weiterempfehlen möchte.
5/5

Bewertung vom 28.08.2025
Bonnefoy, Miguel

Der Traum des Jaguars


gut

DER TRAUM DES JAGUARS
Miguel Bonnefoy

Die stumme Bettlerin Theresa findet auf den Stufen einer Kirche ein ausgesetztes Baby. Obwohl sie zunächst kein Interesse zeigt, nimmt sie den Jungen an sich und nennt ihn Antonio.
Wir begleiten Antonio durch die Straßen Venezuelas und fürchten, dass er auf die schiefe Bahn gerät. Doch rechtzeitig gibt ihm seine Ziehmutter den Rat, zu arbeiten – denn nur so könne man im Leben etwas erreichen. Antonio beginnt als Zigarettenverkäufer, nimmt jede Arbeit an, die sich ihm bietet, erkämpft sich schließlich ein Studium der Medizin und wird dank seines Fleißes und Geschicks zu einem angesehenen Arzt. Wir erleben seine Familiengründung, Revolutionen und politische Umbrüche des Landes . Wie es jedoch mit Antonio und seiner Tochter weitergeht, solltet ihr selber herausfinden.

Versprochen wurde ein magisch-realistischer Roman à la Márquez oder Allende – und genau das hat Bonnefoy eingelöst. Die Sprache ist farbenreich, voller Geschichten, Figuren, und selten habe ich ein Buch gelesen, das so bunt und schillernd war. Trotz der Vielzahl an Charakteren behält man stets den Überblick.

Allerdings blieben mir die Figuren seltsam fern. Keine der Hauptpersonen ist mir wirklich nahegekommen, alle wirkten eher wie Skizzen. Oft hatte ich das Gefühl, aus einer Art Vogelperspektive zu lesen – als befände man sich dauerhaft in einer Einleitung, ohne ganz in die Geschichte einzutauchen. Vielleicht liegt dies an der Erzählweise.

Besonders spannend fand ich den historischen Hintergrund Venezuelas mit seinen politischen Umwälzungen.

Fazit:
Ein atmosphärischer Roman für Fans von Isabel Allende und der magischen Erzählkunst Lateinamerikas. Für mich persönlich blieb er jedoch ein wenig zu distanziert.
3/5

Bewertung vom 26.08.2025
Müller, Melissa

Mit dir steht die Welt nicht still


sehr gut

MIT DIR STEHT DIE WELT NICHT STILL
Melissa Müller
ET: 23.04.2025

London, Juli 1951:
Auf einer Party begegnet John König der jungen jüdischen Frau Nanette Blitz. Sofort fühlen sie sich zueinander hingezogen, doch John plant, England zu verlassen und zu seinen Verwandten nach Brasilien auszuwandern. Die gemeinsame Zeit ist daher knapp und vergeht wie im Flug. Gerade als John merkt, wie sehr er sich in Nanette verliebt hat, ist der Tag der Abreise gekommen – der Abschied fällt ihm schwer.

Über eineinhalb Jahre hinweg schreiben sich die beiden intensive Briefe. So lernen sie sich immer besser kennen und schätzen. John erfährt von Nanettes Vergangenheit: ihrem Leben in Amsterdam, ihrer Freundschaft mit Anne Frank, der ständigen Angst vor der Deportation im Zweiten Weltkrieg. Sie überlebte als Einzige ihrer Familie das Konzentrationslager Bergen-Belsen und durfte erst Jahre später, aufgrund der schweren gesundheitlichen Folgen ihrer Haft, nach London zu ihren Tanten reisen.
John hingegen floh mit seinen Eltern rechtzeitig aus Budapest nach England. Nach deren Tod sucht er nun einen Neuanfang in Südamerika.

Melissa Müller hat hier ein berührendes Liebes- und Lebensporträt eines besonderen und beeindruckenden Paares gezeichnet. Sie durfte die beiden noch persönlich kennenlernen und steht bis heute in Kontakt mit deren Kindern und Enkeln.

Besonders eindrucksvoll ist der Briefwechsel: Nanette war ihrer Zeit weit voraus – ihr feiner Humor und ihr Lebensmut, trotz Krankheit und schwerer Vergangenheit, verzauberten nicht nur John, sondern berühren auch die Leser. Sehr gelungen fand ich zudem die zahlreichen Fotos des Paares, die das Buch noch authentischer und greifbarer machen.

Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, das nicht in Vergessenheit geraten darf.
4/5

Bewertung vom 24.08.2025
Wood, Benjamin

Der Krabbenfischer (MP3-Download)


gut

DER KRABBENFISCHER
Benjamin Wood
Gelesen von Raschid Daniel Sidgi
Longferry, England, in den Sechzigerjahren:
An der Küste von Longferry fischt der 20-jährige Thomas Flett Krabben – so wie schon sein Großvater. Doch er ahnt, dass diese Tage gezählt sind. Zu oft findet er im Meer Dinge, die dort nicht hingehören: Chemikalien, Müll und die neuen zerstörerischen Fangtechniken tun ihr übriges.
Thomas hält an der alten Methode fest. Jeden Morgen, zum ersten Niedrigwasser, spannt er sein Pferd an und fährt mit dem Wagen zum Strand, um mit Hand und Netz im Watt zu fischen. Ergiebig ist diese Arbeit nicht – meist füllt er keine zwei Körbe –, doch sie reicht, um mit seiner Mutter ein bescheidenes Leben zu führen.
Eines Tages begegnet er dem Regisseur Edgar Acheson, der für seinen neuen Film einen Drehort sucht. Er bietet Thomas eine Arbeit an – ob dies wirklich eine Chance ist, müsst ihr selbst herausfinden …

Benjamin Wood hat einen leisen, atmosphärischen Roman geschrieben, der von den Geschichten lebt, die er uns erzählt. Man spürt den dichten Nebel, das nasskalte Wetter, das durch jede Ritze zieht, und die Gefahr der Senklöcher, die wie Treibsand ganze Menschen und Tiere verschlingen können.
Wir begleiten Thomas bei seiner Hoffnung auf Veränderung. Für mich war es ein Roman, den ich gern gelesen und gehört habe – der Sprecher verleiht der Geschichte mit seiner warmherzigen Stimme zusätzliche Tiefe.
Eine klare Empfehlung für alle, die ruhige, atmosphärisch dichte Erzählungen mögen.
3½/5

Bewertung vom 20.08.2025
Ruffieux, Katinka

Zu wenig vom Guten


ausgezeichnet

ZU WENIG VOM GUTEN
Katinka Ruffieux
ET: 09.07.2025

„Ich kann den Tod meiner Schwester nicht begreifen, aber ich habe ihn verstanden. Möglich, dass ich ihn irgendwann verzeihe, ihr und mir, aber auch jedem anderen“. (S. 246)

Katinka Ruffieux erzählt die Geschichte von zwei Schwestern, die mit ihrer ungarischstämmigen Familie in der Nähe von Zürich leben – zwischen Sehnsucht und Angst, Hoffnung und Verlust. Sie warten auf die Einbürgerung wie auf einen erlösenden Moment, bemühen sich, unsichtbar zu bleiben, angepasst zu wirken, ja keinen Fehler zu machen, der diesen Traum zerstören könnte.

Die Autorin führt uns in den „Fischbau“, ein großes Mehrfamilienhaus, das seit der Flucht aus Ungarn ihr Zuhause ist. Der Platz ist knapp – die Mädchen teilen sich ein Schlafzimmer mit dem Großvater, die Waschmaschine steht im Wohnzimmer. Wir riechen den Duft ungarischer Speisen, die die Mutter liebevoll auf den Tisch stellt. Und obwohl wir von der ersten Seite an wissen, dass die Schwester der namenlosen Ich-Erzählerin sterben wird, hoffen wir bis zuletzt, dass sich das Schicksal noch umstimmen lässt.

Doch nach dem Tod des Großvaters zerbricht das fragile Gleichgewicht. Der Vater verlässt die Familie, und ohne ihn fühlen sie sich nicht mehr vollständig. Die Schwester verliert den Halt, sucht Freiheit – und findet sie in der falschen Gesellschaft. Die Mutter, erschöpft und gezwungen, wieder zu arbeiten, hat keine Kraft mehr, sich zu kümmern. Die Abwärtsspirale beginnt: Drogen, falsche Freunde – und eines Abends kommt sie nicht mehr nach Hause.

Katinka Ruffieux hat mit zarter Sprache und feinem Gespür für Zwischentöne ein eindrucksvolles Debüt geschaffen. Besonders ihre kleinen, poetischen Wortspiele verleihen dem Text eine leise Schönheit.
Es ist ein Roman über Migration, Verlust, Zugehörigkeit und Sehnsucht – nach einer Heimat, die in der Fremde niemals ganz zu finden ist. All das verdichtet die Autorin zu einer Atmosphäre, die lange nachhallt.
5/5