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Benutzername: 
Cgiesa
Wohnort: 
Hamburg

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Bewertung vom 08.06.2016
Qualitative Freiheit
Dierksmeier, Claus

Qualitative Freiheit


ausgezeichnet

Vorweg: Ich kenne Claus Dierksmeier schon eine Weile und teile viele (aber nicht alle) seiner Überzeugungen. Vor allem auf einer Metaebene kann ich seine Ideen weitgehend unterschreiben. Nun legt er diese Gedanken in Form eines umfangreichen (knapp 500 Seiten) Grundsatzwerkes zur Freiheitstheorie vor. Warum sollte man das lesen? Und was habe ich aus der Lektüre mitgenommen?

Ich habe in der Vergangenheit viele Bücher und Artikel der bekannteren und weniger bekannten Freiheitsphilosophen der letzten Jahrhunderte gelesen. Kant war natürlich dabei, Hayek, Dahrendorf. Ein wenig Rawls, ein wenig Fichte. Und viel Adam Smith und Isaiah Berlin. Immer wieder kam ich an den Punkt, wo mir entweder der Anwendungsraum zu klein erschien – Kant etwa schloss aus seiner Freiheitstheorie zahlreiche Gruppen aus, wie es damals eben opportun erschien (Frauen, Juden, Menschen in fernen Ländern). Oder die Theorien führten in eine totalitäre Weltsicht – Fichte etwa meinte, die Menschen müssten zu ihrem Glück gezwungen werden. Oder aber die Theorien stellten sich als verkürzt und in der Realität wenig anwendbar heraus – so hatte Hayek offenbar kaum ein Verständnis dafür, dass es auch unverschuldete Lebenssituationen geben kann, in denen Freiheit nicht Chance, sondern Bedrohung ist. Kurz gesagt: Irgendwas fehlte immer, zumindest wenn man sich wie ich als Liberaler versteht, der kosmopolitisch allen Menschen auf der Welt das Recht auf Lebenschancen zugesteht. Ich musste mir also eine ganze Zeitlang Krücken basteln, indem ich Bruchstücke einzelner Philosophien mit eigenen Ideen mischte.

Dierksmeier nimmt insbesondere den in Deutschland weithin unbekannten Karl Christian Friedrich Krause und Amartya Sen als Basis für den Versuch, eine Alternative zu der unzureichenden Einteilung in negative und positive Freiheitstheorien zu entwickeln. Er führt dafür ein neues Begriffspaar ein, nämlich „quantitative Freiheit“ und „qualitative Freiheit“. Seine Hypothese: Wer alleine auf eine Maximierung der quantitativen Freiheitsoptionen abzielt („Je mehr, desto besser“), wird der Natur des Menschen nicht gerecht. Sonst dürfte man niemals heiraten, beschneidet man sich doch (freiwillig) in der Zahl seiner Sexualpartner. Weil wir es aber doch tun, muss es irgendetwas geben, was uns die Zweisamkeit suchen lässt – und das ist nicht quantitativ messbar, sondern nur qualitativ fühlbar. Es gilt also in der Realität, entgegen allen ökonomischen Modellen: „Je besser, desto mehr.“

Wie das in der realen Welt aussehen könnte? Das kann Dierksmeier natürlich nicht en Detail für jede Frage unserer Zeit durchdeklinieren. Ich persönlich nehme aus dem Werk allerdings ein Gerüst mit, an dem entlang ich meine Positionen auf ihre Konsistenz prüfen kann. Bemerkenswert vor allem: Dierksmeier bevormundet nicht. Und das ist wichtig, denn: Wer die Freiheit wirklich liebt, sollte sich immer bewusst sein, dass auch er hin und wieder Gefahr läuft, deren Zumutungen (im Sinne von: Verantwortung) gegen die einfache (im Sinne von: gemütlichere) Lösung einzutauschen. Wer Freiheit nur für sich in Anspruch nimmt, sie anderen aber nicht im gleichen Maße zugestehen will, verrät die gesamte Idee. Das passiert derzeit sowieso schon viel zu häufig. Und daher kommt Claus Dierksmeiers Buch nicht nur zur richtigen Zeit, sondern wird hoffentlich auch seinen Teil zu einem neuen Debatte über die Freiheit, die wir wollen, beitragen.

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