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Benutzername: 
Patricia
Wohnort: 
Kehl

Bewertungen

Insgesamt 26 Bewertungen
Bewertung vom 19.01.2023
Der Anfang von morgen
Liljestrand, Jens

Der Anfang von morgen


sehr gut

Zeitgenössischer kann ein Roman nicht sein. All die Ereignisse und Probleme, die uns beschäftigen werden darin thematisiert: Allen voran der Klimawandel, aber auch die Folgen der Corona-Krise, die Omnipräsenz der Social Media-Kanäle und die Sorgen und Zweifel von Eltern und Kindern angesichts der immer größer werdenden Herausforderungen unserer Zeit. Und mit „uns“ ist das globale „wir“ gemeint – der Roman spielt zwar in Schweden, aber es geht um die weltweiten Krisen, die die Erdbevölkerung zu schultern hat. Die Realität ist nicht weit entfernt vom Geschehen im Buch: Die Natur zeigt dem Menschen, dass der Klimawandel die Umwelt zerstört, dass viele Horror-Szenarien, von denen man hoffte, sie würden nicht eintreten, nun doch wahr werden oder schon eingetreten sind.
In „Anfang vom morgen“ kommen vier Personen aus ihrer jeweiligen Perspektive zu Wort: Didrik, Melissa, André und Vilja. Vier Menschen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Einstellungen und Charakteren, was sich auch beeindruckend in der Sprache und im Schreibstil niederschlägt: mal jung, mal, rebellisch, mal erwachsen, mal verzweifelt, mal nüchtern, mal emotional. Bei all den unterschiedlichen Haltungen versuchen oder suchen doch alle dasselbe: Die Welt zu retten, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und die erfüllende Form der Liebe. Der Roman wühlt nicht nur durch die Aktualität der Themen und die passenden Charaktere auf, sondern durch die eindringliche und oft auch in Panik versetzende Sprache, die dem Leser zeigt: Es ist fünf vor zwölf oder noch später – wer den Planeten noch retten will, sollte sich auch selbst engagieren und bewusst aktiv werden.

Bewertung vom 12.10.2022
So federleicht wie meine Träume
Turk, Mariko

So federleicht wie meine Träume


sehr gut

So federleicht der Titel klingt, so stark und schwer sind die Fragen, die dieses Buch behandelt: Was passiert, wenn der größte Lebenstraum zerplatzt? Wann beginnt Rassismus? Wie kann man nach einem Verlust wieder Liebe zulassen?
Die Hauptfigur Alina, die japanische Wurzeln hat, wollte es ursprünglich auf die American Ballet School schaffen, doch als sie nach einem Unfall nicht mehr Ballett tanzen kann, bricht für die 16-Jährige eine Welt zusammen. Alles scheint verloren und nichtig. Sie wollte Profi-Tänzerin werden und muss sich nun im wahrsten Sinne des Wortes neu erfinden und nimmt dafür an einem Musical teil. Nach und nach wird ihr Schmerz, nicht mehr professionelle Tänzerin werden zu können, geringer. Stattdessen drängen sich neue Fragen auf. Sind Musicals als Kunstform gering geschätzt als Ballett? Werden weiße Tänzer und Tänzerinnen gegenüber farbigen Menschen bevorzugt? Was ist besser, Gefühle preisgeben oder für sich behalten?
Das Buch zeigt auf, wie wichtig es ist, Träume zu haben, und gleichzeitig, Träume auch gegen andere Ziele und Wünsche eintauschen zu können, wenn das Schicksal es verlangt. Das Leben ist bekanntermaßen kein Wunschkonzert und da hilft es, sich an neue Situationen anpassen zu können, Neues auszuprobieren und vor allem: sich von liebevollen Mitmenschen helfen zu lassen.
Die Botschaft dieses Romans finde ich überzeugend, aber der Schreibstil und die Nebenschauplätze – wie etwa Gerüchteküchen oder Klatsch und Tratsch waren mir stellenweise zu jugendhaft. Die Leichtigkeit des Buches wäre auch dann nicht verloren gegangen, wenn der Ton etwas weniger umgangssprachlich gewesen wäre. Im Gegenteil, die Geschichte hätte an Schönheit und Grazie dazugewonnen.

Bewertung vom 19.07.2022
Wie man sich einen Lord angelt
Irwin, Sophie

Wie man sich einen Lord angelt


sehr gut

Der Leser wird von der ersten Seite an in das England der Jahres 1818 versetzt – vorerst in den ländlichen Südwesten, genauer gesagt nach Dorset – früher auch als Dorsetshire bekannt. Doch der Großteil des Romans spiel im damaligen London der Upper class, mit all seinen Bällen, beeindruckenden Kleidern und Kutschen, den Gepflogenheiten und der angemessenen Wortwahl der damaligen Bourgeoisie des Landes. Die Romanheldin, Kitty Talbot, will nicht, dass sie und ihre vier Schwestern verarmen. Ihre Eltern leben nicht mehr und ihr Vater hat nur Schulden hinterlassen. Daher ist Kittys Plan, sich in die feine Londoner Gesellschaft einzuheiraten. Das Buch schwankt immer wieder zwischen angenehmer, heiterer Romantik und sentimentalem Kitsch, der aber – so muss man fairerweise sagen - der Situation angemessen ist.
Anfangs dachte ich noch, dass es sich bei dem Beschriebenen um Probleme oder Gegebenheiten handelt, die Anfang des 19. Jahrhunderts in der Welt der Lords - oder im Gegensatz dazu - in der Unterschicht aktuell waren: sich zu profilieren, Eindruck zu schinden, mit Geld und Ruhm zu imponieren oder eben – wie die einfachen Leute – über die Runden zu kommen, mit dem Wenigen, das man hatte. Aber schnell wurde mir bewusst, dass es diese Probleme noch heute gibt, wenn auch in anderer Form: Noch immer gibt es weltweit zahlreiche Zweckehen, in denen es eben nicht um Liebe geht, sondern darum, wie man das eigene Leben auf finanzieller oder sozialer Ebene besser meistern oder überhaupt meistern kann. Und es geht auch heute noch darum, sich in der Gesellschaft zu behaupten und die Regeln der jeweiligen Schicht einzuhalten.
Sophie Irwin besticht durch ihre heitere, leichte Erzählweise, durch die die Seiten nur so vorbeirauschen. Ich hätte mir nur gewünscht, dass das Thema Geld und Schulden nicht so oft wiederholt und immer wieder aufgegriffen worden wäre. Dadurch sind die anderen Facetten des Buches in den Hintergrund gedrängt worden.

Bewertung vom 12.05.2022
Der Markisenmann
Weiler, Jan

Der Markisenmann


ausgezeichnet

Selten habe ich ein Buch über die Folgen eines DDR-Schicksals gelesen, dass einerseits so schockierend ist und andererseits so unterhaltsam geschrieben, dass man durchgehend ein Schmunzeln auf den Lippen hat. In der „Markisenmann“ wird die deutsch-deutsche Geschichte aber nur hintergründig erzählt, es dreht sich vor allem um die junge Kim und ihren Stiefvater beziehungsweise ihren echten Vater. Es geht gleichzeitig aber auch um das, was allgemeinhin als Glück bezeichnet wird: Findet man es bei Reichen in Großstädten häufiger als bei sozial Schwachen in abgelegenen Kleinstädten? Woran zerbricht eine bislang glückliche Freundschaft?
Bemerkenswert ist, dass dieses Buch aus der Perspektive der erst 15-Jährigen Kim erzählt wird, die die typischen Sorgen und Interessen einer Heranwachsenden hat, aber auch tiefgehende Gedankengänge und vor allem sehr viel Rückgrat. Nach einem schwerwiegenden Unfall muss Kim ihren Sommerurlaub am Rhein-Herne-Kanal verbringen statt wie geplant in Florida mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Er ist das erste Mal seit Jahren, dass Kim ihren Vater wiedersieht – und das Wiedersehen entpuppt sich nach Anfangsschwierigkeiten als idealer Urlaub, wenngleich ganz anders als erwartet: „Bisher verband ich Ferien mit einem Aufenthalt an einem weißen Strand unter Palmen und mit einem verschwenderischen Buffet. Und nun saß ich morgens mit einem Nutellabrot in der Hand am Rhein-Herne-Kanal und blinzelte übers Wasser, wo Alik auf einem alten Ruderboot herumhampelte“.
All die offenen Fragen, die ganz am Anfang des Buches im Raum stehen, werden erst zum Ende hin beantwortet – und auf den gut 300 Seiten dazwischen sind so viele spannende Erkenntnisse und nachdenkliche Momente eingebaut, dass man die Antworten gerne noch etwas weiter hinausgezögert hätte.

Bewertung vom 15.03.2022
Im Rausch des Aufruhrs
Bommarius, Christian

Im Rausch des Aufruhrs


sehr gut

Die Weimarer Republik – kaum ein Abschnitt in der deutschen Geschichte wird derzeit so oft thematisiert und ist so populär. Vor allem die aufreibenden 20er Jahre sind etwa durch die Serie „Babylon Berlin“ und den Kinofilm „Fabian – Gang vor die Hunde“ sehr präsent. Der Autor nimmt in seinem Buch „Im Rausch des Aufruhrs“ das Jahr 1923 ins Visier. Es ist unfassbar beeindruckend, wie viele Aspekte Bommarius beleuchtet – nicht nur politische. Alle Bereiche kommen darin vor: Wirtschaft, Literatur, Theater, Kino, Journalismus und natürlich gesellschaftliche Fragen und Erkenntnisse.
Verpackt werden diese Informationen mal als Anekdote, mal als Hintergrundgeschichte, mal als Selbstreflexion einer der Helden oder Heldinnen dieser Zeit. Und davon gibt es viele. Der Schriftsteller Kurt Tucholsky kommt ebenso vor wie der Politiker Walter Rathenau, der Künstler Georg Grosz, die Sängerin und Schauspielerin Marlene Dietrich, der Chansontexter Marcellus Schiffer und der Theater- und Filmregisseur Max Reinhardt. Der Leser erfährt viele Details aus dem Leben der damals lebenden Persönlichkeiten - etwa, dass Joseph Goebbels in einer Filiale der Dresdner Bank in Köln arbeitete, obwohl er promovierter Philologe war oder dass ein an den damaligen Reichspräsidenten Ebert adressierter Brief nicht ankommt mit dem Verweis: Adresse fehlt, Empfänger unbekannt. Und auch die Phänomene, die heute meist nur noch als Schlagworte bekannt sind, wie etwa die Hyperinflation, werden anschaulich erklärt: „Alles ist in Bewegung, die Preise aber bewegen sich nicht - sie explodieren. Ein Brot kostet 2.200 Mark, eine Schrippe 90 Mark, ein Stück Blechkuchen 150 Mark.“

Der Vorteil dieses umfassenden Sachbuchs ist gleichzeitig sein Nachteil: Es werden sehr viel Persönlichkeiten und Informationen aufgeführt. Als Leser ist man schnell reizüberflutet. Es ist, als würde man versuchen, ein Lexikon zu lesen. Schnell merkt man, dass derart viele Hinweise in der Kürze nicht zu verarbeiten sind. Ich hätte mir gewünscht, mehr über die ein oder andere erwähnte Person zu erfahren und bestimmte Themen ausführlicher dargestellt zu bekommen. So hätte ich diese spannende, historische Zeit intensiver aus den Augen eines Menschen verfolgen und nachvollziehen können.

Bewertung vom 08.11.2021
Im Winter Schnee, nachts Sterne. Geschichte einer Heimkehr
Geda, Fabio;Akbari, Enaiatollah

Im Winter Schnee, nachts Sterne. Geschichte einer Heimkehr


sehr gut

Wie wenig ich bisher über Afghanistan wusste, hat mir dieses Buch gezeigt. Meine Afghanistan-Kenntnisse beschränkten sich auf Schlagzeilen aus den Nachrichten wie „Abzug aus Afghanistan“ oder „erneuter Anschlag der Taliban“. Erst durch „Im Winter Schnee, nachts Sterne“ lernte ich die Seiten Afghanistans kennen, die das Land ausmachen - mitsamt seiner Kultur und den Traditionen, seinem Volk und die für die Region typischen Landschaften.
Das Buch erzählt nicht nur die bewegende Lebensgeschichte von Enaiatollah Akbari, der im Alter von 10 Jahren allein von Afghanistan nach Europa geflohen ist, es bringt dem Leser auch auf eine sensible und unaufdringliche Weise die weichen und schönen Seiten Afghanistans und dessen Geschichte näher sowie die unendliche Liebe einer Mutter und den unmessbaren Wert von Familie und Freunden.
Der junge Enaiat – so heißt die Hauptfigur im Buch - schreibt über all das Leid, das er auf seiner Flucht erfahren hat, aber ganz ohne sich zu beschweren, ohne auf Mitleid aus zu sein. Enaiat ist ein Kämpfer, ein Optimist, der lieber das Gute in der Zukunft sieht als das Schlechte, das ihm in der Vergangenheit widerfahren ist. Wie schwer es als Flüchtling ist, ohne Geld, Familie, Sprachkenntnisse und vor allem ohne jegliche Hilfe und Rückhalt von anderen in einer neuen Heimat Fuß zu fassen, macht Enaiat deutlich und nachvollziehbar.
Obwohl ihn mehrere Schicksalsschläge immer wieder zurückgeworfen haben, siegt auf lange Sicht seine Dankbarkeit dem Leben gegenüber. Selbst als seine Mutter durch einen unverschuldeten Unfall stirbt, sieht er nicht das, was er verloren, sondern das, was ihn bereichert hat und schreibt: „Deshalb danke ich ihr für all die Male, die sie mir als Kind den Mund abgewischt hat, mir etwas gekocht und erlaubt hat, den Topf mit dem Löffel auszukratzen. Für die Dinge, die sie mir damals gesagt und so beigebracht hat, wie man sich im Leben verhält. Aber auch für jede, die ich nicht verstanden habe und aus denen ich bis heute nicht schlau werde, und für jene, mit denen ich nicht einverstanden war.“
Ein berührendes Buch, das vor allem uns Europäern vor Augen hält, wie gut es uns geht.

Bewertung vom 27.08.2021
Das letzte Bild
Jonuleit, Anja

Das letzte Bild


ausgezeichnet

Marguerite setzte alles daran, endlich im Leben anzukommen – und bezahlte dafür mir ihrem Leben. Dieses Buch ist aber weit mehr als nur ein Roman über einen mysteriösen Kriminalfall: Es geht um die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkriegs, um die Suche nach verlorenen Verwandten und ihrer Lebensgeschichte, aber vor allem um das Gefühl, sich endlich an einem Ort dieser Welt geborgen zu fühlen. Ausgangspunkt ist das Rätsel der Isdal-Frau, im Buch Marguerite genannt, das auf einer wahren Geschichte basiert. 1970 wurde in Norwegen eine Frauenleiche gefunden und bis heute ist nicht vollständig geklärt, wer diese Frau war und wie es zu ihrem Tod kam.
Der Autorin gelingt es, Zeitsprünge, Rückblicke und Perspektiven in ihren Roman einzubauen, ohne dass der Leser dadurch den Überblick verliert. Die Zusammenhänge fügen sich letzten Endes wie ein Puzzle, auch wenn anfangs der Eindruck entsteht, es wird nie ein vollständiges Bild ergeben. Was mich an diesem Buch aber am Meisten fasziniert hat, ist die Leichtigkeit, mit der die komplexen Zusammenhänge erzählt werden. Was gut 50 Jahre her ist, fühlt sich an wie die Gegenwart, mit detaillierten Beschreibungen und emotionalen Dialogen.
Wie viel Recherchearbeit hinter der Geschichte steckt, zeigt der Anhang des Buches: Jonuleit, die für ihren Roman auch nach Norwegen gereist ist, listet darin auf, wie umfangreich ihr Material für das Buch war und wie präzise sie den Fall analysiert hat: Sie stützte sich unter anderem auf Zeugenaussagen, Sachinformationen, untersuchte Widersprüche und erstellte ein Bewegungsprofil. Offene Fragen blieben dennoch übrig und wurden mit dem gefüllt, was einen guten Roman ausmacht: mit der überzeugenden Vorstellungskraft des Schriftstellers. Absolut lesenswert.

Bewertung vom 12.06.2021
Die fremde Spionin / Die Spionin Bd.1
Müller, Titus

Die fremde Spionin / Die Spionin Bd.1


ausgezeichnet

Ich war überzeugt davon, dass mich kein Buch über die deutsch-deutsche Geschichte mehr überraschen, geschweige denn faszinieren könnte. Ich sollte mich irren.
Der erste Teil der Trilogie von Titus Müller „Die fremde Spionin“ ist nicht nur spannend und mitreißend, sondern liefert auch historische Details über das DDR-System, über die ich bislang kaum etwas oder gar nichts wusste, wie etwa die KoKo: Die Kommerzielle Koordinierung, deren Ziel es war, außerhalb des Staatsplanes Devisen zu besorgen.
Die Hauptfigur des Romans, die in Ost-Berlin lebende Ria Nachtmann, kennt lange Zeit nur das Bild der DDR, das die sozialistische Staatsführung preisgibt. Als sie aber als Sekretärin im Ministerium für Außenhandel angestellt wird, erfährt sie schnell und viel über die politischen Vorgänge und Machenschaften zwischen Westen und Ost. Sie wird - aus einem privaten und sehr nachvollziehbaren Grund - Spionin für den BND, was ihr Leben weit stärker verändern wird als sie es sich jemals vorgestellt hätte.
Rias Alltag mitsamt ihren Ängsten, Hoffnungen und Sehnsüchten ist so greifbar beschrieben wie der allgegenwärtige Mangel an Alltagsprodukten in der DDR. Auch der Gegensatz von BRD und DDR wird sprachlich so gut veranschaulicht, dass geradezu der Eindruck entsteht, eine untertitelte Fotoreportage vor sich zu haben. Und was mich besonders beeindruckt hat: Titus Müller gelingt es, historische Zusammenhänge und Erklärungen so geschickt in den Text einzubauen, dass dadurch nie der Lesefluss, geschweige denn die Spannung, dieses thrillerhaften Romans unterbrochen wird.
Kommenden Sommer wird der zweite Band veröffentlicht, 2023 der dritte. Ich zähle jetzt schon die Tage, bis es soweit ist.

Bewertung vom 05.04.2021
Stürme des Lebens / Die Insel der Wünsche Bd.1
Jessen, Anna

Stürme des Lebens / Die Insel der Wünsche Bd.1


sehr gut

Tine Tiedkens weiß, wie anstrengend, ermüdend und erniedrigend das Leben in den ärmsten Hamburger Vierteln Ende des 19. Jahrhunderts ist. Der stechende Hafengeruch, der nie enden wollende Hunger, die bittere Erkenntnis, den Anforderungen ihrer Eltern nicht zu genügen.
Die Heldin des Romans leidet und kämpft, fällt hin und steht wieder auf, sie lässt sich nie nicht unterkriegen und verfolgt die Hoffnung auf ein besseres Leben mit einer beeindruckenden Mischung aus Naivität, Ehrgeiz und Sehnsucht.
In Anna Jessens Roman „Die Insel der Wünsche“ bekommt der/die Leser*in einen tiefen Einblick in den Alltag des Blumenmädchens Tine – ihr Leid, ihre Niederlagen, ihre bitteren Erfahrungen sind so nachvollziehbar, dass das Lesen oftmals schmerzt – aber gleichzeitig sorgen Tines Erfolgserlebnisse, der Geruch der Blumen in ihrem Korb und ihr Streben nach Glück für die hellen und lebenswerten Momente.
Tine gelingt es, den ärmlichen Verhältnissen zu entkommen und sich auf Helgoland einen respektablen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen, ganz ohne dabei abzuheben und ihre Vergangenheit zu vergessen. Vielmehr schätzt sie das, was ihr geschenkt wird: die Welt zu erkunden, Liebe zu erfahren und ein ansehnliches Leben zu führen.
Für meinen Geschmack driftet der Roman jedoch oft in zu romantische Phrasen und langatmige Passagen ab – ein Hauch mehr nordischer emotionaler Kühle und würziger Kürze hätten dem Buch gutgetan.

Bewertung vom 06.01.2021
Ein Fluch so ewig und kalt / Emberfall Bd.1
Kemmerer, Brigid

Ein Fluch so ewig und kalt / Emberfall Bd.1


sehr gut

Es ist eine perfekt konstruierte magische Welt - und gleichzeitig doch nicht. Die Welt voller Zauberer, Prinzen, Soldaten und Ungeheuern ist nämlich weitaus realer, als man sie sich in Fantasy-Büchern vorstellt. Schon nach wenigen Seiten wird der Leser selbst Teil des Königreiches von Emberfall. Und wie es sich für ein Königreich gehört, steht das traditionelle Ringen von Gut und Böse an der Tagesordnung – mit einem Unterschied: Immer wieder gibt es Berührungspunkte zum realen Alltag und einigen Bewohnern in Washington D.C. Erstaunlicherweise stört das Überschreiten der Welten aber den Lesefluss nicht im Geringsten.
Der Leser kämpft mit Prinz Rhen und der bürgerlichen, aus Washington D.C. stammenden Harper, gegen den unsäglichen Fluch der Zauberin Lilith. Auf dem Schloss des Prinzen passt alles zu dieser verwunschenen, dem Fluch ausgelieferten Stimmung: Die üppigen Essenvorräte, die sich von selbst wieder auffüllen, die Musik, die sich Tag für Tag automatisch wiederholt und durch die Räume hallt, die Gegenstände, die - selbst, wenn sie zu Bruch gehen - alsbald wieder intakt auf ihrem ursprünglichen Platz stehen.
Obwohl vom ersten Augenblick kein Zweifel daran besteht, dass das Gute gewinnen wird, so behält sich die Autorin doch die ein oder andere Überraschung und unerwartete Wendung vor. Wer der Corona-Realität für einige Zeit entkommen will, gelingt das mit „Ein Fluch so ewig und kalt“ problemlos.

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