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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Patricia
Wohnort: 
Kehl

Bewertungen

Insgesamt 31 Bewertungen
Bewertung vom 20.02.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


ausgezeichnet

Wer glaubt, dass man auf rund 380 Seiten so große Themen wie Karriere, Fremdgehen, Liebe, Homosexualität, Alkoholismus und Depressionen nur streifen und nicht in die Tiefe gehen kann, der irrt gewaltig. Zumindest im Fall des Debütromans von David James Poissant. Diese Familiengeschichte, die an nur einem Wochenende spielt, ist kraftvoll, einfühlsam, radikal, fesselnd und realistisch zugleich.

Richard und Lisa, die kurz vor der Rente stehen, laden ihre Söhne Michael und Thad mitsamt der Partnerin und des Partners in das Sommerhaus der Familie ein. Es soll eine unbeschwerte und friedvolle Zeit zusammen werden, jegliche Probleme, Sorgen und Kritikpunkte an den Anwesenden möglichst vertuscht, ignoriert oder nicht erwähnt werden. Doch die geplante Harmonie und Fassade bricht in sich zusammen, als ein kleiner Junge vor den Augen aller bei einem Unfall ertrinkt. Jeder der sechs anwesenden Familienmitglieder verarbeitet das Erlebte anders. Alte Erinnerungen kommen hoch, verdrängte Schicksale werden wieder präsent und schmerzhafte Wahrheiten können nicht mehr unterdrückt werden.

Binnen kurzer Zeit passiert so unglaublich viel, dass man selbst kurz durchatmen will, um mit der Intensität der Handlung Schritt zu halten. Und dennoch: An keiner Stelle wirkt die Handlung überfrachtet, forciert oder künstlich. Auch die freigewordenen Emotionen sind nachvollziehbar, mehr noch – sie sind greifbar und auf den Punkt gebracht. Als Richards Ehe auf der Kippe steht, er nicht mehr weiß, wie es weitergehen kann oder soll, kommt er zu diesem Fazit: „Das ist hier besser. Es ist Ehe. Es ist Liebe. Liebe schleppt alles Mögliche mit sich, tote Kinder, verwahrloste, Häuser, einen lastenden Ehebruch – und lässt sich dennoch nicht beirren“. Und als Richard, der ein Leben lang ein viel geachteter Professor war, auf seine beiden erfolglosen Söhne schaut, fällt dieser Satz: „Er liebt beide bedingungslos, aber Liebe lässt sich leichter empfinden als Respekt.“

Poissant schreibt nahbar und feinfühlig und überrascht einen Moment später mit einer schonungslosen und wuchtigen Situation. Trotz oder gerade wegen der Defizite jedes Einzelnen, kommt es nicht zum familiären Bruch, sondern zur Einsicht, dass jeder seine Schwächen hat, dass Aufgeben keine Option ist und das Leben intensiv gelebt werden sollte.

Bewertung vom 12.01.2024
Ich, Sperling
Hynes, James

Ich, Sperling


sehr gut

Wer nicht weiß, wie es im spätrömischen Reich in einem Bordell gerochen hat, wie laut es zuging und wie gewalttätig Freier und Herrscher waren, der wird nach nur wenigen Seiten eine sehr genaue Vorstellung davon bekommen. Schon die jungen Jahre des Sperlings beginnen voller Leid gepaart mit Ekel - und sein Leben wird auch lange davon geprägt bleiben. Der Sperling, ein Sklave mit den Fluchtträumen eines Vogels ist der Ich-Erzähler dieses Romans und versetzt den Leser in das 4. Jahrhundert n. Christus. Eine Zeit, in der das Christentum zur Staatsreligion erklärt wurde und Sklaverei fester Bestandteil des Alltags war.
Der Sperling wächst in einem Bordell in Carthago Nova auf, der heutigen Stadt Cartagena in Spanien. Es stinkt nach Fisch, Urin, Blut und Schweiß und das sind noch die angenehmeren Gerüche. James Heynes gelingt es, in diesem fiktionalen Werk das Römische Reich noch einmal aufleben zu lassen mitsamt den damals typischen Mahlzeiten, Verhaltensweisen und Traditionen. Am Leben der Prostituierten teilzuhaben, ist oft grausam, das Lesen wird fast schon von einem stechenden Schmerz begleitet. Es hat mich anfangs etwas Überwindung gekostet weiterzulesen, auch weil viele Szenen sehr detailliert beschrieben werden. Aber es gibt auch die emotionalen, wehmütigen und menschlichen Momente, die Sonnenstrahlen, die in den Garten des Bordells fallen, Momente der Liebe, Solidarität und Kraft.
Auch das härteste Leben hat seine kleinen Glücksmomente, zeigt uns der Sperling, der als alter Mann auf seine Zeit als Sklave zurückblickt – und zwar ohne Gram und Reue.

Bewertung vom 24.10.2023
Das Glück der Geschichtensammlerin
Page, Sally

Das Glück der Geschichtensammlerin


sehr gut

Der Roman erinnert mich an eine moderne Version von Aschenputtel – ganz ohne Kitsch, aber dafür mit bemerkenswerten Erlebnissen, die das Leben geschrieben hat. Aufgeschnappte Wortfetzen auf einer Busfahrt, Gespräche im Schuhladen, Erzählungen beim Backen – all das verwandelt die Hauptfigur Janice zu Geschichten, die sie sammelt und hütet wie einen Diamanten. Das persönliche Schicksal von Janice, einer unglücklich verheirateten Putzfrau, erfährt der Leser zwar erst peu à peu, aber schnell wird klar, dass sie es ein Leben lang schwer hatte und immer diejenige war, die benachteiligt wurde. Jede Beleidigung und Erniedrigung, die ihr widerfährt, fühlt sich auch für den Leser an wie ein Stich ins Herz. Ihre eigene Geschichte ist so dunkel und belastet sie so sehr, dass Janice sie am Liebsten nur für sich behalten würde. – wäre da nicht die zweite Romanheldin: Mrs B.
Das Buch entwickelt sich wie eine neue Bekanntschaft: Erst tastet man sich langsam heran, einiges erscheint oberflächlich, da es noch zu früh für Tiefgang ist, aber das Wesentliche, den Kern entdeckt man – wenn man es denn will – dann doch nach einiger Zeit. So wie das Glück der Geschichtensammlerin eben. Und auch das gefundene Glück hält Janice nicht von ihrer Sammelleidenschaft ab. Auf die Frage, ob sie noch immer Geschichten anderer Leute sammelt, antwortet Janice: „Ich glaube nicht, dass ich damit aufhören könnte. Und ich würde es auch nicht wollen. Ich glaube, in ihren Geschichten findet man das Beste, was Menschen sein können.“

Bewertung vom 22.06.2023
Fünf Sommer mit dir
Fortune, Carley

Fünf Sommer mit dir


gut

Es ist eine dieser romantischen Geschichten, in denen sich wohl fast jede Frau wiedererkennt: Die erste Jugendliebe, diese Liebe, die unendlich, allmächtig und perfekt scheint – doch Jahre später ist sie meist längst passé und nur noch eine schöne Erinnerung. Das ist die Ausgangsbasis für den Roman „Fünf Sommer mit dir“, der in Kanada an einem abgelegenen Seeort spielt. Immer wieder wechseln sich die Kapitel der Gegenwart mit der Vergangenheit ab, wodurch man erst im Laufe der Zeit die Zusammenhänge in der Beziehung zwischen den Romanhelden Percy und Sam nachvollziehen kann.
Der Roman ist so federleicht geschrieben wie ein lauer Sommerabend. Auch wenn absehbar ist, dass es ein Happy Ende geben wird, ist die Lesereise durch die Höhen und Tiefen, die Momente des Leids und des Glücks der Liebenden und Hassenden nicht unangenehm, aber eben doch wenig überraschend. Es ist die ideale Lektüre für den Sommerurlaub am Strand: Keine tiefgehende Literatur, eher eine herzerwärmende Erholung vom stressigen Alltag.

Bewertung vom 20.04.2023
Das Theater am Strand
Quinn, Joanna

Das Theater am Strand


gut

Der Titel des Buches klingt, als würde den Leser eine leichte, sorgenfreie Handlung, die Kultur mit einer Meeresbrise verbindet, erwarten. Schnell wird aber klar, dass dieser Roman auch ernste Themen aufgreift – wie etwa die Folgen des Endes des Ersten Weltkrieges, die gesellschaftliche Rolle von Frauen und Männern zur damaligen Zeit, die Herausforderungen der unterschiedlichen Klassen und Schichten mitsamt ihren Träumen, Hoffnungen und Erlebnissen. Das rund 700 Seiten lange Werk mündet zudem in der verheerenden Zeit des Zweiten Weltkriegs. Zentrale Figur ist von Beginn an Cristabel Seagrave, die früh ihre Mutter verliert, aber ihren Weg trotz liebloser Stiefmutter und vielbeschäftigtem Vater gehen wird. Cristabel ist es auch, die mit der Schaffung eines Theaters am Strand dem Buch seinen Namen gibt. Passend dazu ist der Roman in fünf Akte gegliedert, die jeweils eine bestimmte Zeitspanne umfassen. Aber auch innerhalb der einzelnen Kapitel gibt es Rückblenden, die es dem Leser schwer machen, bei der Vielzahl der Figuren und Handlungssträngen zurechtzufinden.
So spannend es sein kann, das England und später auch das Paris der damaligen Zeit – mitsamt des Kriegsgeschehens und des mühsamen Alltags der Bevölkerung – mitzuverfolgen, die Handlung wird dadurch sehr langatmig und kleinteilig. Wer dicke Schmöker und ein minutiöses Verfolgen der Romanfiguren mag, der vom Schreibstil von Joanna Quinn begeistert sein. Mir persönlich hätte eine straffere Handlung mit weniger Umwegen besser gefallen. Gleichzeitig muss man der Autorin aber zugute halten: Es gelingt ihr, die Leser in die damalige Zeit zu versetzen und ihnen das Leben der Romanheldin Cristabel und ihrem Umfeld mit all seinen Facetten vor Augen zu bringen.

Bewertung vom 19.01.2023
Der Anfang von morgen
Liljestrand, Jens

Der Anfang von morgen


sehr gut

Zeitgenössischer kann ein Roman nicht sein. All die Ereignisse und Probleme, die uns beschäftigen werden darin thematisiert: Allen voran der Klimawandel, aber auch die Folgen der Corona-Krise, die Omnipräsenz der Social Media-Kanäle und die Sorgen und Zweifel von Eltern und Kindern angesichts der immer größer werdenden Herausforderungen unserer Zeit. Und mit „uns“ ist das globale „wir“ gemeint – der Roman spielt zwar in Schweden, aber es geht um die weltweiten Krisen, die die Erdbevölkerung zu schultern hat. Die Realität ist nicht weit entfernt vom Geschehen im Buch: Die Natur zeigt dem Menschen, dass der Klimawandel die Umwelt zerstört, dass viele Horror-Szenarien, von denen man hoffte, sie würden nicht eintreten, nun doch wahr werden oder schon eingetreten sind.
In „Anfang vom morgen“ kommen vier Personen aus ihrer jeweiligen Perspektive zu Wort: Didrik, Melissa, André und Vilja. Vier Menschen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Einstellungen und Charakteren, was sich auch beeindruckend in der Sprache und im Schreibstil niederschlägt: mal jung, mal, rebellisch, mal erwachsen, mal verzweifelt, mal nüchtern, mal emotional. Bei all den unterschiedlichen Haltungen versuchen oder suchen doch alle dasselbe: Die Welt zu retten, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und die erfüllende Form der Liebe. Der Roman wühlt nicht nur durch die Aktualität der Themen und die passenden Charaktere auf, sondern durch die eindringliche und oft auch in Panik versetzende Sprache, die dem Leser zeigt: Es ist fünf vor zwölf oder noch später – wer den Planeten noch retten will, sollte sich auch selbst engagieren und bewusst aktiv werden.

Bewertung vom 12.10.2022
So federleicht wie meine Träume
Turk, Mariko

So federleicht wie meine Träume


sehr gut

So federleicht der Titel klingt, so stark und schwer sind die Fragen, die dieses Buch behandelt: Was passiert, wenn der größte Lebenstraum zerplatzt? Wann beginnt Rassismus? Wie kann man nach einem Verlust wieder Liebe zulassen?
Die Hauptfigur Alina, die japanische Wurzeln hat, wollte es ursprünglich auf die American Ballet School schaffen, doch als sie nach einem Unfall nicht mehr Ballett tanzen kann, bricht für die 16-Jährige eine Welt zusammen. Alles scheint verloren und nichtig. Sie wollte Profi-Tänzerin werden und muss sich nun im wahrsten Sinne des Wortes neu erfinden und nimmt dafür an einem Musical teil. Nach und nach wird ihr Schmerz, nicht mehr professionelle Tänzerin werden zu können, geringer. Stattdessen drängen sich neue Fragen auf. Sind Musicals als Kunstform gering geschätzt als Ballett? Werden weiße Tänzer und Tänzerinnen gegenüber farbigen Menschen bevorzugt? Was ist besser, Gefühle preisgeben oder für sich behalten?
Das Buch zeigt auf, wie wichtig es ist, Träume zu haben, und gleichzeitig, Träume auch gegen andere Ziele und Wünsche eintauschen zu können, wenn das Schicksal es verlangt. Das Leben ist bekanntermaßen kein Wunschkonzert und da hilft es, sich an neue Situationen anpassen zu können, Neues auszuprobieren und vor allem: sich von liebevollen Mitmenschen helfen zu lassen.
Die Botschaft dieses Romans finde ich überzeugend, aber der Schreibstil und die Nebenschauplätze – wie etwa Gerüchteküchen oder Klatsch und Tratsch waren mir stellenweise zu jugendhaft. Die Leichtigkeit des Buches wäre auch dann nicht verloren gegangen, wenn der Ton etwas weniger umgangssprachlich gewesen wäre. Im Gegenteil, die Geschichte hätte an Schönheit und Grazie dazugewonnen.

Bewertung vom 19.07.2022
Wie man sich einen Lord angelt
Irwin, Sophie

Wie man sich einen Lord angelt


sehr gut

Der Leser wird von der ersten Seite an in das England der Jahres 1818 versetzt – vorerst in den ländlichen Südwesten, genauer gesagt nach Dorset – früher auch als Dorsetshire bekannt. Doch der Großteil des Romans spiel im damaligen London der Upper class, mit all seinen Bällen, beeindruckenden Kleidern und Kutschen, den Gepflogenheiten und der angemessenen Wortwahl der damaligen Bourgeoisie des Landes. Die Romanheldin, Kitty Talbot, will nicht, dass sie und ihre vier Schwestern verarmen. Ihre Eltern leben nicht mehr und ihr Vater hat nur Schulden hinterlassen. Daher ist Kittys Plan, sich in die feine Londoner Gesellschaft einzuheiraten. Das Buch schwankt immer wieder zwischen angenehmer, heiterer Romantik und sentimentalem Kitsch, der aber – so muss man fairerweise sagen - der Situation angemessen ist.
Anfangs dachte ich noch, dass es sich bei dem Beschriebenen um Probleme oder Gegebenheiten handelt, die Anfang des 19. Jahrhunderts in der Welt der Lords - oder im Gegensatz dazu - in der Unterschicht aktuell waren: sich zu profilieren, Eindruck zu schinden, mit Geld und Ruhm zu imponieren oder eben – wie die einfachen Leute – über die Runden zu kommen, mit dem Wenigen, das man hatte. Aber schnell wurde mir bewusst, dass es diese Probleme noch heute gibt, wenn auch in anderer Form: Noch immer gibt es weltweit zahlreiche Zweckehen, in denen es eben nicht um Liebe geht, sondern darum, wie man das eigene Leben auf finanzieller oder sozialer Ebene besser meistern oder überhaupt meistern kann. Und es geht auch heute noch darum, sich in der Gesellschaft zu behaupten und die Regeln der jeweiligen Schicht einzuhalten.
Sophie Irwin besticht durch ihre heitere, leichte Erzählweise, durch die die Seiten nur so vorbeirauschen. Ich hätte mir nur gewünscht, dass das Thema Geld und Schulden nicht so oft wiederholt und immer wieder aufgegriffen worden wäre. Dadurch sind die anderen Facetten des Buches in den Hintergrund gedrängt worden.

Bewertung vom 12.05.2022
Der Markisenmann
Weiler, Jan

Der Markisenmann


ausgezeichnet

Selten habe ich ein Buch über die Folgen eines DDR-Schicksals gelesen, dass einerseits so schockierend ist und andererseits so unterhaltsam geschrieben, dass man durchgehend ein Schmunzeln auf den Lippen hat. In der „Markisenmann“ wird die deutsch-deutsche Geschichte aber nur hintergründig erzählt, es dreht sich vor allem um die junge Kim und ihren Stiefvater beziehungsweise ihren echten Vater. Es geht gleichzeitig aber auch um das, was allgemeinhin als Glück bezeichnet wird: Findet man es bei Reichen in Großstädten häufiger als bei sozial Schwachen in abgelegenen Kleinstädten? Woran zerbricht eine bislang glückliche Freundschaft?
Bemerkenswert ist, dass dieses Buch aus der Perspektive der erst 15-Jährigen Kim erzählt wird, die die typischen Sorgen und Interessen einer Heranwachsenden hat, aber auch tiefgehende Gedankengänge und vor allem sehr viel Rückgrat. Nach einem schwerwiegenden Unfall muss Kim ihren Sommerurlaub am Rhein-Herne-Kanal verbringen statt wie geplant in Florida mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Er ist das erste Mal seit Jahren, dass Kim ihren Vater wiedersieht – und das Wiedersehen entpuppt sich nach Anfangsschwierigkeiten als idealer Urlaub, wenngleich ganz anders als erwartet: „Bisher verband ich Ferien mit einem Aufenthalt an einem weißen Strand unter Palmen und mit einem verschwenderischen Buffet. Und nun saß ich morgens mit einem Nutellabrot in der Hand am Rhein-Herne-Kanal und blinzelte übers Wasser, wo Alik auf einem alten Ruderboot herumhampelte“.
All die offenen Fragen, die ganz am Anfang des Buches im Raum stehen, werden erst zum Ende hin beantwortet – und auf den gut 300 Seiten dazwischen sind so viele spannende Erkenntnisse und nachdenkliche Momente eingebaut, dass man die Antworten gerne noch etwas weiter hinausgezögert hätte.

Bewertung vom 15.03.2022
Im Rausch des Aufruhrs
Bommarius, Christian

Im Rausch des Aufruhrs


sehr gut

Die Weimarer Republik – kaum ein Abschnitt in der deutschen Geschichte wird derzeit so oft thematisiert und ist so populär. Vor allem die aufreibenden 20er Jahre sind etwa durch die Serie „Babylon Berlin“ und den Kinofilm „Fabian – Gang vor die Hunde“ sehr präsent. Der Autor nimmt in seinem Buch „Im Rausch des Aufruhrs“ das Jahr 1923 ins Visier. Es ist unfassbar beeindruckend, wie viele Aspekte Bommarius beleuchtet – nicht nur politische. Alle Bereiche kommen darin vor: Wirtschaft, Literatur, Theater, Kino, Journalismus und natürlich gesellschaftliche Fragen und Erkenntnisse.
Verpackt werden diese Informationen mal als Anekdote, mal als Hintergrundgeschichte, mal als Selbstreflexion einer der Helden oder Heldinnen dieser Zeit. Und davon gibt es viele. Der Schriftsteller Kurt Tucholsky kommt ebenso vor wie der Politiker Walter Rathenau, der Künstler Georg Grosz, die Sängerin und Schauspielerin Marlene Dietrich, der Chansontexter Marcellus Schiffer und der Theater- und Filmregisseur Max Reinhardt. Der Leser erfährt viele Details aus dem Leben der damals lebenden Persönlichkeiten - etwa, dass Joseph Goebbels in einer Filiale der Dresdner Bank in Köln arbeitete, obwohl er promovierter Philologe war oder dass ein an den damaligen Reichspräsidenten Ebert adressierter Brief nicht ankommt mit dem Verweis: Adresse fehlt, Empfänger unbekannt. Und auch die Phänomene, die heute meist nur noch als Schlagworte bekannt sind, wie etwa die Hyperinflation, werden anschaulich erklärt: „Alles ist in Bewegung, die Preise aber bewegen sich nicht - sie explodieren. Ein Brot kostet 2.200 Mark, eine Schrippe 90 Mark, ein Stück Blechkuchen 150 Mark.“

Der Vorteil dieses umfassenden Sachbuchs ist gleichzeitig sein Nachteil: Es werden sehr viel Persönlichkeiten und Informationen aufgeführt. Als Leser ist man schnell reizüberflutet. Es ist, als würde man versuchen, ein Lexikon zu lesen. Schnell merkt man, dass derart viele Hinweise in der Kürze nicht zu verarbeiten sind. Ich hätte mir gewünscht, mehr über die ein oder andere erwähnte Person zu erfahren und bestimmte Themen ausführlicher dargestellt zu bekommen. So hätte ich diese spannende, historische Zeit intensiver aus den Augen eines Menschen verfolgen und nachvollziehen können.