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Erfurt

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Insgesamt 43 Bewertungen
Bewertung vom 24.07.2025
Sußebach, Henning

Anna oder: Was von einem Leben bleibt


ausgezeichnet

Tiefgründige Ahnenforschung

Anna Raesfeld, verw. Vogelheim, geb. Kalthoff, wurde 1867 geboren. Nicht nur wegen der Epoche, in der sie lebte, hatte sie es nicht leicht, auch als junge Lehrerin in Cobbenrode im Sauerland mit Anfang zwanzig - nicht einmal volljährig, ohne Mann - war das Leben damals alles andere als einfach. Als sie 1932 stirbt, wird sie zweifache Mutter sein und zwei Männer geheiratet haben.

Die Titelfigur Anna ist nicht einfach ein fiktiver Charakter, der so gelebt haben könnte, sondern die Urgroßmutter des Autors. Henning Sussebach hat Annas Leben recherchiert. Die zahlreichen Lücken, auf die er gestoßen ist, füllt er mit Vermutungen und Deutungen, wie er Annas Leben sieht oder eben gerne gesehen hätte, lässt aber gleichzeitig Platz für Spekulationen und kritische Gedanken zu. Wo allzu wenig in Erfahrung zu bringen war, bringt er die Jahreszahlen mit realen Geschehnissen aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Verbindung. Ihm ist damit ein besonders außergewöhnliches Buch gelungen, zu dem mir kein vergleichbares Werk einfällt.
Hier wurde einer Person Leben eingehaucht, von der es keine Zeitzeugen mehr gibt und auf eine gleichzeitig nüchterne wie auch emotionale Weise den eigenen Ahnen auf die Spur gegangen.

Bewertung vom 24.07.2025
Knecht, Doris

Ja, nein, vielleicht


ausgezeichnet

Mutmacher

Über 50 Jahre alt, vom Vater ihrer beiden Kinder mehr als zehn Jahre getrennt, als Schriftstellerin arbeitend mit einem Hund, einem kleinen Häuschen in der österreichischen Provinz und einer Wohnung in der Stadt - so oder so ähnlich könnte die kurze und nüchterne Beschreibung der namenlosen Erzählerin dieses Buches lauten. Neu dabei sind, ein wackelnder Zahn, der nicht nur Schmerzen bereitet, sondern auch nicht mehr zu retten ist und ein alter Liebhaber von früher, wo sich wohl beide Seiten noch nicht entschieden haben, ob die alten Gefühle aufgewärmt werden können oder nicht.

Doris Knecht gelingt auf humorvolle und trotzdem ehrliche Art und Weise von den Vor- und Nachteilen des Älterwerdens zu erzählen. Obwohl die Schattenseiten deutlich ausgeführt werden, bekommen sie nicht genügend Raum, um das Leben der Protagonistin traurig oder in irgendeiner Form negativ erscheinen zu lassen. Die ungeschminkte Wahrheit lädt an vielen Stellen zum Schmunzeln ein, zieht die alltäglichen Probleme der durchschnittlichen Frau über 50 aber keineswegs ins Lächerliche und macht Mut. Denn von einer Person verlassen worden zu sein, bedeutet nicht automatisch alleine sein. Und für diejenigen, die sich zwischen "Ja" und "Nein" nicht gleich entscheiden können, reicht für den Moment auch erst mal ein "Vielleicht".

Bewertung vom 11.07.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Parallelwelten

Antonia liebt Jakob. Nach dem Zusammenziehen wollen sie den nächsten Schritt wagen und ein gemeinsames Kind haben. Aber es läuft alles anders, als sie es sich vorgestellt hatten, ihr Weg führt über Kinderwunschbehandlung und Hormone und endet trotzdem nicht mit einem Baby.
Und dann wacht Antonia auf und hat ein Neugeborenes auf ihrem Bauch liegen, knapp über der Kaiserschnittnarbe. Der Mann neben ihr ist aber nicht Jakob, sondern Adam, ihre Jugendliebe. Dabei kann sie sich weder an die Schwangerschaft oder die Geburt noch an ihr gemeinsames Leben erinnern.

"Im Leben nebenan" erzählt die Geschichte einer jungen Frau, deren Gegenwart vom Kinderwunsch geprägt ist. Ungeschönt und trotzdem einfühlsam lässt Autorin Anne Sauer die Leser an Antonias Gefühlswelt teilhaben. Diese Kapitel wechseln sich mit Antonias Leben als frisch gebackener Mutter ab. Dieses Buch zeigt nicht nur eine Perspektive, sondern beleuchtet mehrere Seiten des Mutterseins. Besonders geschickt ist die Verwebung der beiden Parallelwelten ineinander, von der man sich eine Auflösung am Ende erhofft.
Dieses Buch hat mich tief berührt. Es schlägt sich thematisch nicht auf eine Seite, sondern lässt viel Spielraum für Interpretationen zu und regt nachhaltig zum Nachdenken - auch über das eigene Leben - an.

Bewertung vom 17.06.2025
Myers, Benjamin

Strandgut


sehr gut

Starke Charaktere

Earlon "Bucky" Bronco lebt mit seinen knapp über 70 Jahren zurückgezogen und ohne größere gesellschaftliche Kontakte in Chicago. Sein ständiger und einziger treuer Begleiter sind seine quälenden Hüftschmerzen. Mit Opioiden versucht er sich und seine Leiden weitestgehend zu betäuben. Einziger Lichtblick: er wurde von einer kleinen Soul- verrückten Gemeinde in England zu einem Weekender eingeladen, um seine beiden jahrzehntealten Songs vor Publikum zu spielen.

Titel und Cover passen hier eins zu eins zur gediegenen Stimmung, die dieses Buch vermittelt. Unaufgeregt und entschleunigend erzählt Autor Benjamin Myers die Geschichte von Bucky, der im "Alten England" auf die jüngere Dinah trifft. Beide sind auf ihre Art und Weise gezeichnet vom Leben, haben einschneidende Erfahrungen gemacht und das Vertrauen in sich und ihre Umgebung ein Stück weit eingebüßt. Wer Spannung sucht, ist hier falsch. Was aber nicht heißt, dass dieser Roman langweilt, aber sein Tempo passt sich seinen charakterstarken Figuren an und schirmt den Alltagsstress ab. "Strandgut" erzählt von verpassten Chancen und gibt trotzdem die Hoffnung darauf, Frieden mit sich selbst schließen zu können.

Bewertung vom 13.06.2025
Reid, Taylor Jenkins

Atmosphere


ausgezeichnet

Gefühlsfeuerwerk

Als Astrophysikerin ist es für Joan Goodwin der größte Traum Astronautin zu werden. Anfang der 1980er Jahre ist das für Frauen noch ein Ding der Unmöglichkeit. Und doch schafft sie es als eine der ersten Frauen im Programm der NASA für einen Spaceshuttle-Flug aufgenommen zu werden. Dies verlangt physisch und psychisch das Maximum von ihr ab. Privat ist sie eigentlich ungebunden, wäre da nicht ihre kleine Nichte Frances, für die sie wie eine zweite Mutter ist.

"Atmosphere" ist ein Feuerwerk der Gefühle! Taylor Jenkins Reid gelingt gleich mit dem Einstieg ins Buch eine unheimliche Spannung aufzubauen, die so nicht über das gesamte Buch zu halten ist. Das ist aber auch nicht schlimm, denn man erfährt in Rückblicken zu wenigen Jahren zuvor, wie Joans Weg bei der NASA sich entwickelt hat und was sie in diese anfänglich beschriebene Ausnahmesituation gebracht hat. Dabei ist in dieser fiktiven Biografie der historisch-wissenschaftliche Hintergrund verwoben mit einer besonderen und tiefsinnigen Liebesgeschichte. Aufregende Momente wechseln sich mit detailreich recherchierter und doch allgemein verständlicher Raumfahrt und emotionalen Situationen ab. Dieses Buch war für mich das erste von dieser Autorin, aber mit Sicherheit nicht das letzte!

Bewertung vom 13.06.2025
Kullmann, Katja

Stars


sehr gut

Anders sein

Carla Mittmann ist nicht so ganz zufrieden mit ihrem Leben - aber eben auch nicht gänzlich unzufrieden. Sie arbeitet in Teilzeit im Büro eines Möbelunternehmens. Als Nebenerwerb hat sie nach ihrem Philosophiestudium begonnen online maßgeschneiderte Horoskope an den Mann oder die Frau zu bringen.
Als eines Morgens ein Pflasterstein durch ihre Fensterscheibe fliegt, bringt dieser - und die damit verbundene Botschaft - eine Lawine in ihrem Leben ins Rollen.

Dieses Buch ist anders. "Stars" erzählt die Geschichte einer auf den ersten Blick ganz normalen Frau, nicht mehr ganz jung, aber zu jung um sich alt zu nennen. Aber trotzdem ist sie anders als die Mehrheit. Die Offenheit und Direktheit mit der die Protagonistin über sich selbst erzählt, machen das Buch besonders. Ebenso die Thematik im Bereich von Astrologie und Horoskopen, wobei diese keinesfalls romantisiert, sondern auch kritisch hinterfragt werden, ist ein Alleinstellungsmerkmal. Zu Beginn hat mir zunächst noch etwas die Spannung gefehlt. Ich war überfahren von den vielen Kuriositäten, gepaart mit den philosophischen Aussagen und Gedankengängen der Carla Mittmann. Nach und nach kam ich aber besser in den Text und wurde für mein anfängliches Durchhaltevermögen belohnt. Ich hadere allerdings noch mit dem Ausgang des Buches. Ohne zu viel zu verraten, bin ich mir unschlüssig, ob das Ende die entsprechende Auflösung bietet, die man sich zu den Ereignissen am Anfang von "Stars" wünscht. Trotz allem hat mir dieses etwas andere Lesevergnügen viel Freude bereitet!

Bewertung vom 13.06.2025
Grandl, Peter

Reset


ausgezeichnet

Brillant

Ein Flugzeug wird im deutschen Luftraum entführt. Die Terroristen erschießen den Co-Piloten und wollen die Maschine in das Münchner Flughafengebäude krachen lassen. Ein Oberst der Luftwaffe soll die Maschine vorher abfangen, um schlimmeres zu verhindern, was bedeuten würde alle 176 Passagiere in den Tod zu schicken. Wie wird er sich entscheiden?
Und dann stellt sich heraus, dass das alles Fake ist. Die Nachrichten berichten über Detonationen von Atombomben, was nationale Sicherheitslagen auslöst - und niemand weiß mehr was er glauben kann und was nicht.

Peter Grandl hat mit "Reset" eine schaurige Vision gezeichnet, was KI unter Umständen alles auslösen und zerstören kann. Ähnlich wie die Pandemie lähmt ein Computervirus die ganze Welt, legt privates Leben, Regierungen und selbst das Militär lahm. Dabei reißt die Spannung im Buch, beginnend von der ersten Seite, nie ab. Man lernt verschiedene Personen, ihre besonderen Charakterzüge und ihren Umgang mit der unsichtbaren Bedrohung kennen. Man muss sagen, dass die Handlung leider nur wenig konstruiert ist und damit umso realer möglich erscheint. Dieser Thriller führt dazu, die eigene Abhängigkeit von Technik im Allgemeinen und computerbasierter Intelligenz im Besonderen kritischer zu sehen und zu hinterfragen. Ein genauso erschreckend wie brillantes Buch!

Bewertung vom 26.05.2025
Dunlay, Emily

Teddy


ausgezeichnet

Zwischen Glamour und Geheimdienst

Teddy stammt aus gutem Hause. Ihre texanische Familie hat es sowohl zu viel Geld geschafft, als auch Einfluss in der Politik. Nur Teddy bleibt hinter den Erwartungen, die an ihre Person gestellt werden, zurück. Doch dann heiratet sie überraschend David, der für einige Zeit nach Rom gehen soll, um im diplomatischen Dienst für den amerikanischen Botschafter zu arbeiten. Was Teddy als Chance auf das europäische Glamour-Leben sieht, endet für sie im Desaster mit Verstrickungen zum Geheimdienst.

Ich bin begeistert von diesem Buch! Aus meiner Sicht vereint es alles, was ein aufregender Sommerroman bieten sollte: starke Charaktere, sommerliches Setting und eine Handlung, die den Spannungsbogen aufrecht erhält. Autorin Emily Dunlay hat mit ihrer Hauptfigur Teddy eine kontroverse Person geschaffen, in die ich mich gut einfühlen konnte. Dass die Geschichte in den 1960er Jahren spielt, macht zusätzlich nochmal einen besonderen Reiz aus und gibt eine außergewöhnliche Atmosphäre. Besonders erwähnenswert ist auch die Haptik des Buches selber, das sowohl vom Cover auf dem Schutzumschlag als auch dem Hardcover in Metallicoptik besonders edel und hochwertig wirkt.

Bewertung vom 23.05.2025
Moore, Georgina

Die Garnett Girls


sehr gut

Tragische Familie

In jeder normalen Familie gibt es mal Streit und Unstimmigkeiten. Die Garnetts sind aber keine normale Familie. Das Verhältnis zwischen Mutter Margo und ihren drei erwachsenen Töchtern ist immer angespannt, obwohl oder vielleicht gerade weil zu jeder Gelegenheit sehr viel Alkohol fließt. Vater Richard ist weg, keiner weiß wirklich wo er ist oder was er macht. Obwohl Margo sich für ihre Töchter gute Partner wünscht, scheint die jüngst stattgefundene Verlobung von Imogen mit William auch nicht ins Schwarze getroffen zu haben.

Was nach einem leichten Sommerbuch aussieht, wartet inhaltlich mit einer viel komplexeren Geschichte als ursprünglich gedacht auf. "Die Garnett Girls" erzählt die Familiengeschichte rund um die drei Schwestern Imogen, Sasha und Rachel. Auch wenn mir die Charaktere der Figuren nur wenig sympathisch waren, hat Autorin Georgina Moore sie sehr authentisch dargestellt. Es geht im wesentlichen um schwierige innerfamiliäre Beziehungen, verletzten Stolz und das mühsame Wahren einer Fassade, die an allen Ecken und Enden bröckelt. Stetes Allheilmittel ist der Alkohol, zu dem nahezu alle Figuren in allen Kapiteln gerne und häufig greifen.
Ein tiefgreifendes Buch über eine tragische Familie, das doch noch Luft nach oben gehabt hätte.

Bewertung vom 15.05.2025
Mommsen, Janne

Das Licht in den Wellen


ausgezeichnet

Ein Leben lang

Die Insel Föhr im Norden Deutschlands ist für Inge mehr als nur Heimat, sie gibt ihr Halt und Rückzugsort zugleich. Und dennoch hat sie nach dem Krieg dort keine Perspektive. Mit Anfang 20 macht sie sich auf die Reise nach New York, weit weg von Familie, Freunden und ihrem Zuhause.
Heute, mit fast 100 Jahren, reist sie mit Enkelin Swantje auf gleichem Weg über den Atlantik in die Stadt, die ihr alles gegeben und gleichzeitig alles genommen hat und spricht über ihre ältesten Geheimnisse.

"Das Licht in den Wellen" ist ein Buch, das mit voller Empathie die Lebensgeschichte und persönlichen Schicksale einer starken Frau erzählt, die auf ein bewegtes langes Leben zurückblickt.
Janne Mommsen setzt dabei eine unaufgeregte und gleichzeitig tief emotionale Art und Weise ein, um die ergreifende Geschichte der jungen Inge zu verdeutlichen. Sie musste sich dem gesellschaftlichen Druck und ihren eigenen Gefühlen beugen, hat sich deshalb in unbekanntes Fahrwasser begeben und am Ende für sich gewonnen. Die beiden Zeitstränge - damals und heute - lockern die Erzählung angenehm auf und sorgen dafür, dass die einzelnen Passagen nicht zu langatmig werden. Einige Stellen hätten für mich kürzer gehalten sein können, aber die angedeuteten Geheimnisse aus der Vergangenheit machen immer wieder neugierig auf den Fortgang der Geschichte.