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bedard

Bewertungen

Insgesamt 65 Bewertungen
Bewertung vom 09.06.2025
Frau im Mond
Jarawan, Pierre

Frau im Mond


ausgezeichnet

Auf den Spuren der Großeltern
Die Zwillingsschwestern Lilit und Lina el Shami sind bei ihrem Großvater Maroun in Montreal, Kanada, aufgewachsen. Ihre Großmutter haben sie nie kennengelernt. Eine alte Postkarte weckt jedoch Lilits Interesse, und sie beginnt, sich für die Geschichte ihrer Familie zu interessieren. Anders als ihre Schwester hat sie die Freiheit, in den Libanon zu reisen und sich intensiv mit den Spuren ihrer Vorfahren auseinanderzusetzen.

Wie schon in seinem sehr lesenswerten Debütroman „Am Ende bleiben die Zedern“ erzählt Pierre Jarawan eine Geschichte, in der Bürgerkrieg und Flucht eine wichtige, aber nicht alles bestimmende Rolle spielen. Neben den tragischen Ereignissen, die auch in diesem Roman viel Raum bekommen, geht es auch um Hoffnung, Zuneigung und Verbundenheit.

Positiv herauszuheben ist dabei die wenig bekannte Lebanese Rocket Society, die bereits 1966 eine Weltraumrakete zündete – im krassen Gegensatz zu der furchtbaren Explosion im Hafengebiet von Beirut genau 54 Jahre später. Gelegentlich etwas weitschweifig erzählt, ist der Roman passend in drei Stufen gegliedert, wie die Zündstufen einer Rakete, und die Kapitel folgen einem Countdown von fünfzig abwärts. Allerdings wird die Geschichte nicht strikt chronologisch erzählt, sondern in Zeitsprüngen, was etwas Aufmerksamkeit erfordert – insbesondere, wenn die Geschichte des Libanons noch relativ unbekannt ist.

Der dritte Roman des Autors zeichnet sich dadurch aus, dass den Lesenden ein Bild des Libanons und seiner Menschen vermittelt wird, das über die Kriegsberichterstattung in den Medien hinausgeht. Lesenswert!

Bewertung vom 31.05.2025
Der Einfluss der Fasane
Strubel, Antje Rávik

Der Einfluss der Fasane


ausgezeichnet

Aufstieg und Fall in der Kultur- und Medienlandschaft

Hella Renata Karl ist Feuilletonchefin einer Berliner Zeitung und sorgte kürzlich mit einem vernichtenden Artikel über den Theaterintendanten Kai Hochwerth für dessen Karriereende. Nach seinem spektakulären Suizid in der Sydney Opera in Australien brach ein Shitstorm über Hella herein. Anfangs hoffte sie noch, dass die Wogen sich schnell glätten würden, doch schließlich wurde sie von ihrer Zeitung freigestellt. Die gleichen Menschen, die von ihr eine Steigerung der Auflage gefordert hatten und sie erst zum Verfassen des reißerischen Artikels getrieben hatten, ließen sie jetzt im Stich. Für Hella, die ihr ganzes Leben ihrer Karriere untergeordnet hat, ist das nicht hinnehmbar. Nach ersten Zweifeln, ob sie tatsächlich Schuld am Tod Hochwerths trägt, beginnt sie, um ihre Rehabilitation zu kämpfen. Sie nutzt ihre Kontakte, um entlastende Informationen zu sammeln.
Da die Handlung ausschließlich aus Hellas Perspektive und ihren Gedanken erzählt wird, offenbaren sich hier auch unangenehme Charakterzüge. Hella denkt voller Verachtung über die Menschen, die ihr nützlich sind, und hat keinerlei Skrupel, sie für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Auch in ihrem Privatleben lässt sie keine echte Nähe zu. Obwohl sie seit Jahren mit T. zusammenlebt, dessen Name nur abgekürzt wird, steht für Hella die sexuelle Beziehung im Vordergrund. Als sie schließlich doch mehr Nähe und Unterstützung sucht, ist es bereits zu spät.
Die Buchpreisträgerin von 2021 überzeugt auch in ihrem neuesten Roman sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Besonders beeindruckend ist, dass der Lesefluss trotz der vielen eleganten und anspruchsvollen Formulierungen nicht beeinträchtigt wird. Die Charaktere, vor allem Hella und Kai Hochwerth, werden langsam entwickelt. Ihr familiärer Hintergrund ist vergleichbar: Beide haben sich in einem Bereich hochgearbeitet, zu dem sie ursprünglich keinen Zugang hatten. Trotz des anklagenden Zeitungsartikels pflegen sie in der Vergangenheit eher einen freundschaftlichen Umgang. Sympathieträger sind beide nicht unbedingt, doch im Gegensatz zu Hochwerth hat sich Hella keiner wirklichen Verfehlung schuldig gemacht.
Der Kulturbetrieb wird vielleicht etwas zu plakativ dargestellt, obwohl ähnliche Vorfälle von Machtmissbrauch in der Realität hinreichend bekannt sind.
„Der Einfluss der Fasane“ ist ein lesenswerter Roman, der sowohl sprachlich anspruchsvoll als auch angenehm leicht zu lesen ist. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die sich aus eigener Kraft eine bemerkenswerte Karriere aufgebaut hat – in einer Welt, in der Ruhm und Absturz eng beieinanderliegen.

Bewertung vom 31.05.2025
Echokammer / Ein Fall für Benjamin & Tong Bd.1
Johnsrud, Ingar

Echokammer / Ein Fall für Benjamin & Tong Bd.1


ausgezeichnet

Spannender, brandaktueller Auftakt einer Polit-Thriller-Trilogie

Fünfunddreißig Tage vor der Parlamentswahl in Norwegen werden durch Zufall Hinweise auf ein bevorstehendes Attentat mit Rizin gefunden. Die aus Oslo stammende Polizistin Liselott Benjamin muss mit dem zwielichtigen Martin Tong, einem in der Vergangenheit anerkannten Anti-Terror-Ermittler, möglichst unauffällig das Schlimmste verhindern.
Parallel dazu arbeitet das Team um Christina Nielsen daran, ihr als Spitzenkandidatin der Arbeiterpartei zum Sieg zu verhelfen. Unterstützt wird sie dabei von Jens Meidell, der ihr als juristischer Berater zur Seite steht.

Der erste Fall für Benjamin und Tong zählt in zwei Parallelsträngen in einer Art Countdown bis zur Wahl herunter. Sehr glaubwürdig werden die Vorgänge hinter den Kulissen im Wahlkampf beschrieben, die politischen Ränkespiele und das Bedienen von Ängsten und Vorurteilen bei potenziellen Wählern.
Beängstigend vorstellbar ist die Bedrohung durch rechtsextreme Terrorgruppen, die soziale Medien sehr effektiv nutzen und bereit sind, durch Giftgasanschläge skrupellos Menschenleben zu opfern.

Der persönliche Hintergrund der Hauptprotagonist:innen spielt zwar eine Rolle, wird der Gesamthandlung aber wohltuend untergeordnet.

Echokammer ist ein gutgeschriebener, beklemmend realistischer Auftakt einer Reihe, die ich sicher weiterverfolgen werde.

Bewertung vom 22.05.2025
Ein ungezähmtes Tier
Dicker, Joël

Ein ungezähmtes Tier


ausgezeichnet

Gut konstruiert und wendungsreich

Der mittlerweile achte Roman von Joël Dicker ist ähnlich aufgebaut wie seine bisherigen Bücher. Im Mittelpunkt stehen zwei Paare: Sophie und Arped Braun, verheiratet, zwei Kinder, Anwältin und Banker. Karine und Greg Liegean, Verkäuferin und Polizist. Zwei Familien mit unterschiedlichen Lebensstilen, mit ihren jeweiligen Geheimnissen, die sich anfreunden.

Sophie feiert demnächst ihren vierzigsten Geburtstag und scheint alles zu haben, was als erstrebenswert gilt. Doch wie immer bei Joël Dicker ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint.

Am 2. Juli 2022 findet ein minutiös geplanter, spektakulärer Raubüberfall auf einen Juwelier statt. Dieser Überfall ist der Zeitmesser in dem Roman.

In Zeitsprüngen nähert sich der Autor in teils sehr kurzen Kapiteln aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Auflösung. Mal spielt die Handlung kurz vor dem Raub, mal danach und sie geht sogar um Jahre zurück in die Vergangenheit.
Nach bekanntem Muster hat Joël Dicker einen sehr spannenden, wendungsreichen Roman geschrieben, der sehr angenehm zu lesen ist.

Vielleicht nicht sein bestes Buch, aber trotzdem sehr clever konstruiert. Für mich verdient der Roman damit immer noch eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 22.05.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


sehr gut

Der Schein muss gewahrt werden

1983 steht die Konfirmation des Erzählers Daniel Hormann bevor, außerdem freut er sich auf den anstehenden Schüleraustausch. Doch dann bekommt er zufällig mit, dass seine Eltern kurz vor der Pleite stehen und seine materiellen Wünsche wohl nicht erfüllbar sind.

Die Atmosphäre der 1980er Jahre in einer Kleinstadt in der BRD wird sehr authentisch anhand vieler kleiner Details vermittelt. Die Musik, Fernsehshows, Autos und Kleidung und natürlich der Wunsch, nach außen den Schein zu wahren. Darin sind Daniels Eltern wahre Meister. Obwohl ihnen buchstäblich das Wasser bis zum Hals steht, ignorieren sie ihre finanzielle Situation hartnäckig. Selbst die Großmütter sollen nicht mitbekommen, wie es wirklich um sie steht. In einem weiten Bogen zurück in die Vergangenheit geht es auch um deren Geschichte, das Kennenlernen der Eltern und schließlich die unaufhaltsame Abwärtsspirale. Fern jeder Realität weigern sich Daniels Eltern aber, sich mit den Gegebenheiten abzufinden.

Anders als die mir bisher bekannten Kriminalromane des Autors handelt es sich hier um eine Familiengeschichte. Trotz der zeitlichen Sprünge lässt sich der autofiktionale Roman sehr gut lesen und weckt Erinnerungen an die 1980er Jahre. Insbesondere, dass um jeden Preis der Schein gewahrt werden musste und Wohlstandssymbole sehr wichtig waren.

„Bis die Sonne scheint“ ist kein Wohlfühlroman, aber eine durchaus realistische Familiengeschichte mit tragischen, aber auch humorvollen Elementen.

Bewertung vom 01.05.2025
Dunkle Momente
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


sehr gut

Der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit

Der Roman „Dunkle Momente“ erzählt die fiktive Geschichte der Strafverteidigerin Eva Herbergen, die nach einer langen Karriere ihre Anwaltszulassung zurückgeben will. Vor etlichen Jahren hat sie aus privaten Gründen einem vermeintlichen Routinefall nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die vielleicht vonnöten gewesen wäre. Für die katastrophalen Folgen trägt sie zwar keine Verantwortung, trotzdem haben Schuldgefühle ihr weiteres Handeln als Strafverteidigerin bestimmt. Um für ihre Mandant:innen die bestmögliche Lösung herbeizuführen, überschreitet sie dabei die Grenzen einer üblichen Mandatswahrnehmung.

In diese Rahmenhandlung eingebettet sind neun Fälle, die auf Basis real stattgefundener Verbrechen und anschließender Strafverfahren konstruiert wurden. Dabei wird weniger die eigentliche Anklage und das anschließende Verfahren dargestellt, das Hauptaugenmerk wird auf die Vorgeschichte und die Motive gelenkt. Was auf den ersten Blick eindeutig scheint, sieht durch einen Twist in der Handlung plötzlich ganz anders aus.

Der Roman ist in einfacher, klarer Sprache verfasst und lässt sich problemlos auch für juristische Laien lesen. Trotzdem vermittelt die Autorin einen guten Einblick in juristische Fragestellungen, die nicht unbedingt allgemein bekannt sind. Dieses neu erworbene Wissen kann dazu beitragen, Unmut und Unverständnis über die Rechtsprechung vorzubeugen.
Opfer und Täter, Schuld und Unschuld, das sind keine Gegensätze mehr, da gibt es Überschneidungen. Und Recht und Gerechtigkeit sind keinesfalls deckungsgleich.
Das ist durchaus spannend zu lesen, das Buch regt zum Nachdenken und Hinterfragen eigener Positionen an und eignet sich damit besonders als Diskussionsgrundlage mit anderen Lesenden.

Die Rahmenhandlung um Eva Herbergen fand ich weniger gelungen, sie wirkte zu konstruiert auf mich. Die Fälle hätten gut für sich alleine stehen können, das hätte auch die Möglichkeit zu längeren Lesepausen eröffnet. Obwohl mir fast alle zugrundeliegenden Straftaten und Verfahren bereits bekannt waren, ist mir die Aneinanderreihung nach dem fünften Fall zu viel geworden.

Trotz dieser Kritikpunkte würde ich den Roman weiterempfehlen, weil mir die Auswahl und Darstellung der Fälle gefallen hat und sich der Roman gut lesen lässt.

Positiv hervorzuheben ist das gelungene Cover, das man aber erst nach Beendigung des Romans richtig zu würdigen weiß.

Bewertung vom 01.05.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


gut

Leben in einer fiktiven Kleinstadt von 1935 -1945. Konnte mich nicht ganz überzeugen.

Der fiktive Ort Ginsterburg und die dort lebenden Menschen stehen exemplarisch für eine nicht sonderlich bemerkenswerte Kleinstadt während der NS-Zeit. Die Handlung wird in Zeitsprüngen erzählt: 1935, 1940 und 1945. Im Mittelpunkt stehen die verwitwete Buchhändlerin Merle und ihr Sohn Lothar, der Journalist Eugen und dessen Familie und der Blumengroßhändler Otto Gürckel sowie dessen Zwillingssöhne Bruno und Knut.

Der Roman beschreibt den Alltag in Ginsterburg mit den politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Veränderungen: Während Merle und Eugen dem neuen Gedankengut durchaus kritisch gegenüberstehen, gehört Otto eindeutig zu den Gewinnern. Schnell ist er in der Partei aufgestiegen, profitiert wirtschaftlich im großen Stil und wird schließlich Kreisleiter. Ohne Otto geht in Ginsterburg gar nichts mehr. Seine beiden Söhne tragen früh und voller Inbrunst die braune Uniform, sie terrorisieren ihre Umgebung. Besonders der sensible Lothar hat unter ihnen zu leiden. Doch auch er findet schließlich Gefallen an den Unternehmungen der Hitlerjugend, kann seinen Traum, Pilot zu werden, verwirklichen und wird für herausragende Verdienste ausgezeichnet.

In Ginsterburg scheinen die Menschen lange Zeit relativ unberührt von den politischen Geschehnissen und dem Krieg zu sein. Es wird ausgeblendet, man laviert sich so durch, passt schon auf, wer was hören darf, aber es lehnt sich niemand auf. Wenn man nicht sowieso begeistert von der neuen Zeit ist oder profitiert.
Jüdische Mitbürger sind zwar plötzlich nicht mehr da, aber das scheint kein großes Thema zu sein. Und schließlich treffen die Bomben auch Ginsterburg.

Die Verfolgung Homosexueller, Euthanasie und Vernichtung sogenannten unwerten Lebens, die Verfolgung von Roma und Sinti – all das fließt unterschwellig in den Roman ein.

Nach Beendigung des Romans bin ich zwiegespalten. Einerseits ist es dem Autor wirklich gut gelungen, diese fiktive Kleinstadt mit ihren Bewohner:innen darzustellen. Gerade diejenigen, die keine Nationalsozialisten waren, haben geschwiegen und nicht Stellung bezogen. Deshalb fällt es schwer, hier Sympathieträger zu finden. Mit dem Wissen von heute sind viele der beiläufig und nur kurz gestreiften Szenen unfassbar grausam und erschreckend.
Auf der anderen Seite gibt es die Nationalsozialist:innen, deren Charakterzeichnung mir etwas zu plakativ war. Berechnend, auf den eigenen Vorteil bedacht, kalt und brutal. Das gilt für beide Geschlechter und jedes Alter.
Insgesamt habe ich zu den Charakteren wenig Zugang gefunden. Berührt hat mich eigentlich nur Uta, die über den fast sicheren Tod ihres jüdischen Ehemannes langsam den Verstand verloren hat.
Und ich habe einen Hinweis vermisst, dass zumindest zwei Charaktere nicht ausschließlich fiktiv sind, sondern zumindest ihre Rolle während des Krieges real ist. Dieser Umstand hat mich irritiert.

Eine uneingeschränkte Empfehlung für dieses Buch auszusprechen fällt mir schwer. Das Thema ist hochaktuell und es lassen sich durchaus Parallelen aufzeigen. Der Roman ist auch gut geschrieben und die Zeitsprünge sind gut gewählt. Trotzdem habe ich mir bei den Charakteren mehr Tiefe und Entwicklung erhofft. Und tatsächlich sind mir die Verbrechen der Nationalsozialisten zu leise und unterschwellig in die Handlung eingeflossen. Gut informierte Leser:innen werden die Hinweise verstehen, aber das sollte nicht vorausgesetzt werden.

Bewertung vom 09.04.2025
Das Herz kennt keine Demenz
Ayag, Jim

Das Herz kennt keine Demenz


ausgezeichnet

Unterhaltsamer Einblick in den Alltag der Langzeitpflege
In leichtem Ton berichtet Jim Ayag von seinem Werdegang und schildert den Alltag im Pflegeheim. Auf Umwegen hat er die Altenpflege als seine Berufung entdeckt, obwohl er genau diesen Berufszweig für sich immer als unvorstellbares Tätigkeitsfeld abgelehnt hat. Damit nicht genug, ausgerechnet die Arbeit mit dementen Menschen liegt ihm besonders am Herzen.

Anhand vieler Einzelbeispiele vermittelt er ein stimmiges Bild von den Menschen und Situationen, mit denen er zu tun hat. Frau Tippelkamp ist der Name, den er für alle Bewohnerinnen verwendet, obwohl es sich nicht um eine einzelne Person handelt.

Jim Ayag verschweigt nicht, dass es auch unangenehme und schwierige Situationen gibt, aber er betont die Anteile, die meist nicht gesehen werden. Altenpflege ist eben nicht nur Körperpflege, es gibt viele berührende Momente, auch wenn der Zeitdruck enorm ist.

Wichtig ist, die Menschen mit ihrer Biografie und in ihrer aktuellen Verfassung ernst zu nehmen und Mitgefühl zu haben. Er gibt etliche Beispiele, die im Umgang mit dementen Menschen aus Unwissenheit zu Problemen führen, die es nicht geben müsste. So ist es nicht notwendig, in Erzählungen Fehler zu korrigieren oder ständig zu widersprechen. Damit verunsichert man einen desorientierten Menschen zusätzlich. Gerade Angehörigen fällt es aber schwer, das zu akzeptieren.

Neben der Schilderung der Arbeit mit den zu Pflegenden wirbt Jim Ayag auch für ein anderes Miteinander der Beschäftigten in der Pflege. Gegenseitige Wertschätzung der unterschiedlichen Professionen sowie der geleisteten Arbeit der Kolleg:innen müssen an die Stelle von Geringschätzung und Abwertung treten.

Die Überalterung der Gesellschaft mit der sicheren Zunahme von pflegebedürftigen und dementen Menschen wird zu einem riesigen Problem in der Betreuung führen, wenn nicht aktiv gegengesteuert wird. Ein anderes Bewusstsein und mehr Wertschätzung für Menschen am Ende des Lebens ist eine zentrale Forderung in diesem Buch.

Mich haben etliche Beispiele und Forderungen in diesem Buch sehr nachdenklich gestimmt, bei anderen musste ich lachen, weil ich ähnliche Situationen erlebt habe.

Als Einstieg in das Thema und für Angehörige, die betroffen sind, kann ich dieses Buch uneingeschränkt empfehlen. Es ist kein wissenschaftliches, trockenes Sachbuch, sondern ein leicht lesbarer Einblick eines Praktikers in den Alltag der Langzeitpflege.

Bewertung vom 11.03.2025
Ordnung für immer
Borgeest, Gunda;Thorbrietz, Dr. Petra

Ordnung für immer


sehr gut

Übersichtlicher, umfassender Ratgeber, besonders für Neueinsteiger:innen
Der neue Ratgeber von Stiftung Warentest verspricht auf seinem Cover Aufräumroutinen, die glücklich machen und im Titel Ordnung für immer.
Tatsächlich beinhaltet das Buch nicht nur einen kurzen Überblick, welche positiven Auswirkungen ein ordentlicher, nicht überfrachteter Haushalt auf das ganze Leben hat. Natürlich gibt es die detaillierten Tipps und Anleitungen zum kurzfristigen Ausmisten, Ordnen und langfristigen Aufrechterhalten des gewünschten Zustandes. Darüber hinaus wird aber sehr ausführlich die Psychologie der Ordnung behandelt. Wer sich also intensiver mit dem Thema befassen möchte, kommt hier auf seine Kosten. Allen anderen ist diese Auseinandersetzung vielleicht zu ausführlich. Abschließend gibt es eine Reihe von Tests, Tipps und Tabellen, die in erster Linie helfen sollen, Routinen und langfristige Erfolge sicherzustellen. Dazu gehört auch die Umsetzung in einem Haushalt mit mehreren Personen, insbesondere bei Familien mit kleinen Kindern. Allerdings ist dieser Bereich relativ kurz abgehandelt.

Empfehlen würde ich den sehr übersichtlichen, umfassenden Ratgeber Menschen, die sich intensiv mit dem Thema befassen möchten und dabei eine klare Struktur mit hilfreichen Tabellen und Anleitungen bevorzugen. Allerdings sollte auch ein tiefergehendes Interesse an den Ursachen vorliegen, da diesem Thema viel Raum gewidmet ist. Enttäuscht werden vermutlich Leser:innen sein, die sich wirklich neue Strategien erhoffen, da vieles bereits bekannt ist.

Bewertung vom 05.01.2025
Das Parfüm des Todes
Hsiao, Katniss

Das Parfüm des Todes


gut

Debüt mit Licht und Schatten

Yang Ning lebt in Taipeh und arbeitet als Tatortreinigerin. Nach einem dramatischen Ereignis in ihrem Leben hat sie ihren außergewöhnlich ausgeprägten Geruchssinn verloren. Nur der intensive und abstoßende Geruch des Todes lässt ihn vorübergehend zurückkehren. Als sie eines Nachts alleine in dem Büro der Agentur ist, nimmt sie ohne Rücksprache einen Auftrag an und führt ihn sofort alleine durch. Nichtsahnend, dass sie Spuren eines gewaltsamen Todes vernichtet und ins Visier der Polizei gerät. Sie beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, um sich zu entlasten.

Das schöne Cover und die Inhaltsbeschreibung versprechen einen spannenden Thriller, der eine Mischung aus Patrick Süskinds „Parfum“ und Thomas Harris' „Das Schweigen der Lämmer“ erwarten lässt. Tatsächlich finden sich etliche Elemente daraus auch in diesem Debütroman. Dazu gehören sehr detaillierte Informationen zu den verschiedenen Komponenten, die einen Duft ausmachen und die Bedeutung des menschlichen Geruchs für die soziale Akzeptanz. Hier sind deutliche Parallelen zu Süskind erkennbar. Auch Hannibal Lecter findet seine Entsprechung in dem älteren Cheng Chunjin, einem begnadigten Serienmörder, der Yang Ning leitet, ohne dabei seine Bedrohlichkeit zu verlieren. Hier findet ein ähnliches Katz- und Mausspiel wie im Schweigen der Lämmer statt.
Trotz des interessanten Schauplatzes, einer sehr speziellen Hauptprotagonistin und einem letzten Endes gut konstruierten Plot konnte mich der Roman nicht restlos überzeugen. Das liegt zum einen an den realistischen, sehr detaillierten Beschreibungen der Tatorte, die mir zu extrem waren. Zudem hatte ich trotz des am Ende des Romans angefügten Personenverzeichnisses anfangs Schwierigkeiten, die Namen richtig zuzuordnen. Auch die Charaktere sind mir lange Zeit fremd geblieben. Erst im letzten Drittel habe ich einen wirklichen Zugang zu dem Roman und vor allem zu dem Schreibstil der Autorin gefunden, der deutlich anspruchsvoller ist als in dem Genre üblich.

Eine Leseempfehlung auszusprechen fällt mir ausgesprochen schwer. Über weite Strecken konnte mich der Roman nicht fesseln, aber ich kann mir aufgrund des Schreibstils im letzten Drittel durchaus vorstellen, ein weiteres Buch der Autorin zu lesen. Ich würde gerne 3,5 Sterne geben, da das nicht möglich ist, runde ich hier auf drei ab.