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Benutzername: 
Emmmbeee
Wohnort: 
Luzern CH

Bewertungen

Insgesamt 26 Bewertungen
Bewertung vom 25.03.2020
Die Kunst des stilvollen Wanderns - Ein philosophischer Wegweiser
Graham, Stephen

Die Kunst des stilvollen Wanderns - Ein philosophischer Wegweiser


sehr gut

Zeitlose Wanderlust

Wenn einem in Zeiten der unfreiwilligen Isolation durch die Corona-Pandemie ein Buch wie dieses in die Hände fällt und sowieso, wenn man mit 70 nicht mehr wanderfit ist: dann, ja dann ist dieses schmale Bändchen ein kleiner Schatz. Denn so können wir mit Freude, wenn auch nur in Gedanken, die eigenen Wandererfahrungen aus der Versenkung holen und mit Stephen Graham erneut in die Ferne schweifen. So jedenfalls habe ich es empfunden.
Dem Lesenden öffnet sich ein wahres Füllhorn: etwa Anregungen zu den Pausen, dem Trocknen der Kleider nach einem Regenguss, sogar bei Ebbe im Geldtäschchen bis hin zum Wanderlied. Kurz: ein umfassender und wertvoller Begleiter und Ratgeber durch alle Situationen unterwegs.
Ganz speziell finde ich die beiden Kapitel über die Sinnbilder des Wanderns und die Kunst des Müssiggangs. Wie Blumen in die einzelnen Kapitel gestreut sind poetische Stellen, auflockernd und sehr charmant. Auch die philosophischen Passagen sind erfrischend und bereichernd. Mir sagen die klare Sprache, der unkomplizierte Schreibstil, die farbigen Schilderungen ebenfalls sehr zu.
Das Werk mag zwar fast 100 Jahre alt sein, aber der Trend von heute geht durchaus mit ihm konform: sich wieder auf die ursprünglichen Werte besinnen, geerdet sein, ganz besonders das verstärkte Streben zur Nachhaltigkeit. Beim Lesen habe ich öfters an den Jakobsweg gedacht, der ähnliche Anforderungen stellt wie die, von denen der Autor berichtet. Manche Stellen gehen konform mit eigenen Reisetagebuchaufzeichnungen, bei denen ich (und mit mir bestimmt schon viele andere Leser) auf mich allein gestellt war.
Das kleine Format mit unempfindlichem Hardcover und Lesebändchen ist sehr geeignet für das Mitführen im Rucksack.
Ich wage zu behaupten, dass nicht wenige Menschen sich nach der Lektüre auf die ursprüngliche Art der Fortbewegung zurückbesinnen. Gemeint ist, sich vermehrt auf die Socken machen, um zu Fuss das Land zu durchstreifen. Die zahlreichen Tipps und Anregungen mögen zwar teils veraltet sein. Aber sie bilden die Grundlage zur sinnvollsten Ausrüstung.
Und nicht zuletzt: Ist nicht das Leben an sich eine Wanderung, zu der man das richtige Rüstzeug braucht? Im übertragenen Sinn finden wir auch hierzu die eine oder andere Anleitung.

Bewertung vom 28.02.2020
Dankbarkeiten
Vigan, Delphine

Dankbarkeiten


ausgezeichnet

Sich dem Verlieren entgegenstellen

Die bisher selbständige, unabhängige Michka muss sich den geistigen Gebrechlichkeiten des Alters stellen. Dass sie so vieles zu verlieren scheint, bereitet ihr tiefe Ängste. Vor allem sind es Wörter, die ihr abhandenkommen. Das Leben im Seniorenheim mit all seinen Neuerungen fordert sie zusätzlich. Zum Glück kümmern sich zwei junge Leute liebevoll um sie und helfen ihr, einen letzten grossen Wunsch zu erfüllen. Denn Dankbarkeit zu übermitteln, gerade jenen Menschen, die ihr einmal entscheidend geholfen haben, ist Michkas tiefstes Bedürfnis.
Dankbarkeit ist ein problematisches Thema, mit dem wohl schon jeder konfrontiert worden ist. Besonders dann, wenn man dankbar sein MUSS. Hier aber will ein alter Mensch seine Dankbarkeit ausdrücken DÜRFEN.
Immer wieder taucht Delphine de Vigan in die Untiefen der Menschen, in ihre Schwierigkeiten mit dem sozialen Leben, mit sich selbst. Die Leben und Schicksale verschiedener Personen werden vor dem Leser aufgerollt, zarte Fäden werden gesponnen, Sympathien sanft gefördert. Dass abwechselnd aus der Sicht der beiden jungen Helfer Marie und Jerome erzählt wird, hat mir sehr gefallen. Dankbarkeit und Verlust, beide Themen gehen sehr nahe und berühren vor allem Senioren wie mich, bei denen auch schon so manches zu verschwinden scheint… Der Roman zeigt auch deutlich, wie wichtig Anteilnahme ist, allen Menschen gegenüber.
Vigans Übersetzerin Doris Heinemann versteht es, die gepflegte, bilderreiche Sprache der Autorin ins Deutsche zu übertragen und dabei die Spannung zu erhalten, was ja hauptsächlich zum Erfolg eines fremdsprachigen Buches beiträgt. Angenehm finde ich das Lesebändchen, treffend das eine Wort als Buchtitel. Ein positives Zeichen setzt die fröhliche Fotografie auf dem Titelbild.
Danke, Madame Vigan, für Ihr neuestes Werk!

Bewertung vom 28.02.2020
Das kann uns keiner nehmen
Politycki, Matthias

Das kann uns keiner nehmen


ausgezeichnet

Gemeinsame Reise wider Willen

Eigentlich hat Hans die Reise auf das Dach der Welt angetreten, um mit sich allein zu sein und sich seiner Vergangenheit in aller Ruhe zu stellen. Doch dabei kommt ihm der unverschämte Tscharli in die Quere. Auf einem Berg wie dem Kilimandscharo lässt sich so einer Person nur schlecht ausweichen. Wenn noch dazu die Urgewalten der Natur ausbrechen, erst recht nicht. Denn dann muss man zusammenrücken und auf engstem Raum gemeinsam Schutz suchen. Sehr hinderlich sind dabei die anfangs gehegten Vorurteile. Der Weg wird zum Ziel.
Die beiden müssen wohl oder übel ihre Reise gemeinsam weitersetzen. Eine Reise, die aberwitzig, urkomisch, zu Herzen gehend, temporeich und nicht ohne Tragik verläuft. In kurzer Zeit geschieht sehr viel, und ebenso viel Vergangenheit wird offengelegt. Durchwirkt mit bayrischem Sprech und absurden Situationen, gestaltet sich der Roman zu einem Pageturner.
Erheiternd fand ich die Beschreibung mancher Tätigkeiten, beeindruckend die Schilderung der Landschaften und Charaktere. Wenn Nord- und Süddeutsche aufeinandertreffen, sind unterhaltsame Situationen ohnehin zu erwarten. Besonders, wenn sie leicht überzeichnet sind.
Matthias Politycki führt uns nicht nur in geografische Krater, sondern auch in die Untiefen der Seele und der Vergangenheit. Dabei kann der Autor sprachlich aus dem Vollen schöpfen. Nicht umsonst wird er als grosser Stilist und vielseitigster Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnet. Dass er für diesen Roman "um ein Haar in Afrika gestorben wäre", wie es im Klappentext heisst, verleiht dem Werk einen zusätzlichen Touch.
Das Cover liess mich gleich an Hemingway denken, noch bevor ich wusste, worum es ging. Der Golddruck verleiht dem Bild zusätzlich etwas Kostbares. Auf den Umschlagdeckel-Innenseiten sind die Routen aufgezeichnet sowie Landkarten von Tansania und Sansibar. Sehr anschaulich und lebendig, farbig und rasant: Das ist meine Meinung zu diesem Buch. Ich würde es jedem Leser empfehlen.

Bewertung vom 16.02.2020
Der Empfänger
Lenze, Ulla

Der Empfänger


ausgezeichnet

Nirgends mehr daheim

Josef Klein wird 1949 aus amerikanischer Haft in seine Heimat Deutschland abgeschoben. Er kommt in ein notleidendes Land zu seinem Bruder Carl und dessen Frau Edith. Da er über den Grund seines Gefängnisaufenthaltes nicht offen sein kann, schwelt bald ein tiefes Misstrauen zwischen den Brüdern. Schliesslich standen sie in den vergangenen Jahren auf jeweils feindlichen Seiten.
Vorurteile prägen den Alltag. Wie so oft, sieht sich jeder auf der Seite der moralisch Besseren. Auf der Seite derer, die das einzig Richtige getan haben. Und so ist Josef auch in seiner Heimat nicht willkommen. Er wandert Jahre später wiederum aus, wieder über den grossen Teich.
Doch vor 25 Jahren träumten sie noch von einer Zukunft in den Vereinigten Staaten. Carl wurde durch einen Unfall am Auswandern gehindert und musste im Rheinland zurückbleiben. Josef schaffte es und fand Arbeit in einer New Yorker Druckerei. Er wurde zu Joe, zum Amateurfunker (der Buchtitel ist ein Hinweis), geriet in rassistische und Nazi-Gruppierungen. Doch ehe er so richtig in der Neuen Welt angekommen war, brach der 2. Weltkrieg aus, und alles änderte sich grundlegend. Denn ein Funker wird gerade in Kriegszeiten schnell der Spionage verdächtigt.
Ulla Lenze hat die Handlung am Leben ihres Onkels ausgerichtet. Mit Spannung und Farbe schildert sie eine Menge Stories rund um die Leitgeschichte. Immer wieder legt sie das Innere und die Überlegungen der Personen offen. Hilfreich, wenn nicht notwendig sind die zeitlichen Hinweise zu Beginn der einzelnen Abschnitte. Denn die Rückblicke sind nicht leicht durchschaubar.
Als Leser kann man sich dem Thema nicht entziehen. Es geht sehr nahe, gerade wenn man selbst zu den Emigranten gehört. Mich hat auch der Schreibstil sehr angesprochen. Lenze hat es verstanden, mit Leben und Drive ein interessantes Schicksal zu zeichnen. Sie hat auch den Familiennamen Klein gut gewählt, denn es ist die Geschichte des kleinen Mannes, der in turbulenten Zeiten ungewollt zwischen sämtliche Stühle gerät.
Das heutige Geschehen in Amerika zeigt, wie aktuell der Roman ist. Denn nationalistisch gesinnte Politiker sind dort nach wie vor tätig, offener denn je. Die Unterteilung des Coverbildes samt den verschwommenen Stellen geht auf die Zerrissenheit des Heimkehrers Josef sehr deutlich ein. Ich empfehle das Buch allen geschichtlich Interessierten.

Bewertung vom 12.02.2020
Rote Kreuze
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


sehr gut

Vermeintlich alte Schuld

Tatjana Alexejewna dachte, sie hätte vor 30 Jahren einen Mann in den Tod geschickt, indem sie ihren eigenen Ehemann aus einer quasi Todesliste löschte. Diese Schuld verfolgte sie in die eigene Verhaftung und ins Straflager hinein. Nun ist sie 90 und alzheimerkrank. Ihre gesamte Familie ist in der Stalinzeit umgekommen. Es gibt vieles, das sie jahrzehntelang gequält hat und das sie jetzt ihrem neuen Wohnungsnachbarn Alexander erzählt. Denn das Langzeitgedächtnis funktioniert noch gut.
Ich hätte mir gewünscht, etwas mehr vom jungen Mann und seiner Familie zu erfahren. Doch auch so ist dieser Roman ein wichtiges Zeitzeugnis einer Welt, die uns meist wenig bekannt ist, die Russlands in den Nachkriegsjahren, aber auch ein wenig der heutigen Zeit.
Viel Schockierendes wurde bereits von Alexander Solschenizyn aus dem GULAG erzählt. Dieser Bericht ergänzt ihn beinahe nahtlos. Die grosse Tragik des Inhalts besteht darin, dass das Rote Kreuz sich bemüht hat, Nachrichten zu übermitteln und den Gefangenenaustausch voranzutreiben, dass aber Molotow jede Beantwortung der Gesuche verbot. Und dass sich der Staat bis heute bemüht, alle Erinnerungen an die furchtbare Zeit auszulöschen.
Der Text ist zwar zügig geschrieben und durchaus ansprechend mit fremdartig klingender Lyrik durchsetzt. Doch die kursiv gesetzten Stellen verleiten zum Querlesen, besonders die angeführten Briefe und Telegramme. Doch ist es ein sehr nahegehender Roman, von Ruth Altenhofer in ein modernes, lebendiges Deutsch übersetzt. Und das ist nicht unwichtig.
Auf den letzten Seiten ist ein Interview mit Sasha Filipenko wiedergegeben. Er erklärt, wie er seine Recherchen vorangetrieben hat und wie weit seine eigene Grossmutter als Vorbild und Modell gedient hat.
Ein Buch, das all jenen gefallen wird, die sich gern etwas tiefer über die Geschichte Europas begeben.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.02.2020
Nach Mattias
Zantingh, Peter

Nach Mattias


sehr gut

Vom Mut, positiv zu bleiben

Mattias ist tot. Lange weiss man nicht, woran er gestorben ist, aber sein Tod reisst eine schmerzhafte Lücke ins Leben einiger Menschen. Die einzelnen Kapitel sind mit den Namen von acht Personen übertitelt. Wie Satelliten haben sie ihn umkreist, dabei aber nicht immer direkte Kontakte mit ihm gehabt. Nach und nach erfährt der Leser, dass und wie jeder mit Mattias zu tun hatte.
Doch wird der Tote selbst nur indirekt beleuchtet, vielmehr das Leben dieser am Rand Beteiligten. Dabei tut sich Überraschendes vor uns auf. Aber es ist durchaus kein Trauerbuch. Ein Gedanke durchzieht den Roman: dass es Mut braucht, um weiterhin positiv zu denken. Dabei wirkt der tote Mattias im Nachhinein als Vorbild.
Peter Zantingh hat den Roman spannend gestaltet, farbig und lebendig malt er die einzelnen Gestalten. Von Jenny Ehlers übersetzt, ist das Buch ein Pageturner, der nahe geht. Zwischendurch gibt es philosophische Passagen, und einige Weisheiten werden dem Leser mitgegeben. Wer nur will, kann für sich selbst Mut aus dem Text schöpfen. Ich möchte mehr von Zantingh lesen.
Das Coverbild ist in guter Diogenes-Tradition gestaltet, ansprechend und vielschichtig deutbar.

Bewertung vom 01.02.2020
Die Bagage
Helfer, Monika

Die Bagage


ausgezeichnet

Wenn Schönheit ein Unglück ist

Die Autorin ist im vorliegenden Roman ihren Wurzeln nachgegangen und schildert hauptsächlich das Leben ihrer Grossmutter im hintersten Teil eines Dorfes im Bregenzerwald. Von hohen Bergen eingegrenzt, schränkt das Tal auch den geistigen Horizont seiner Bewohner ein. So kann die schöne Maria trotz grosser Armut nur auf Neid und Missgunst stossen, denn die Frauen müssen mitansehen, wie ihre Männer der jungen Mutter von vier Kindern nachsteigen. Noch dazu zieht Marias Ehemann 1914 in den Krieg, und sie muss sich nun selbst gegen alle Nachstellungen zur Wehr setzen. Zum Glück stehen die Kinder ihr tatkräftig zur Seite. Niemand kann jedoch verhindern, dass selbst der Pfarrer von der Kanzel nur aufgrund von Vermutungen gegen die Frau wettert und das Kreuz an ihrem Haus abmontieren lässt.

Monika Helfer rekonstruiert das Leben ihrer Grossmutter aus den Erzählungen ihrer Tante Kathe. Über die eigene Mutter konnte sie wenig erfahren, weil diese gestorben ist, als die Autorin noch ein Kind war. Doch deren Geschwister zeichnet sie in wenigen Sätzen deutlich genug. Wenn auch mehrmals ein Zeitsprung vollführt und vorgegriffen wird, ist es doch immer klar, warum der Wechsel notwendig war.

Die kräftige, bodenständige Sprache in diesem Roman kommt mir vor wie Vorarlberger Dialekt, wenn man ihn 1:1 in die "Schreibe" überträgt. Die Autorin scheut sich auch nicht, in einem Absatz Ausdrücke mehrmals zu wiederholen, denn genauso wird auf dem Land gesprochen. Auch ganze Sätze werden zur Bekräftigung gebetsmühlenartig repetiert, und das gibt dem Buch eine tiefe Eindringlichkeit. Obwohl Viel- und mitunter Schnellleserin, habe ich den Text langsam erkundet und jedes Wort genossen.

Dieses Buch widmet Helfer ihrer eigenen Bagage. Ich kann mir gut vorstellen, dass in einer Kleinstadt wie Hohenems ein Schriftstellerehepaar mit vier Kindern (besonders in ihren Anfängen als Familie) von kulturfernen Leuten so betrachtet worden ist. Auch wenn der Ehemann einer der erfolgreichsten österreichischen Autoren ist und Monika Helfer sich einen sehr guten Namen erschrieben hat.
Das Coverbild vermittelt den Eindruck einer scheuen Braut, die sich zu schützen versucht. Sehr passend, finde ich.
Den Roman empfehle ich allen, die mehr über das Leben in kleinen Bergdörfern wissen wollen – und vor allem natürlich allen Helfer-Köhlmeier-Fans.

Bewertung vom 13.01.2020
Eine fast perfekte Welt
Agus, Milena

Eine fast perfekte Welt


sehr gut

Die Suche nach dem perfekten Leben

Die italienische Autorin Milena Agus schildert in ihrem Roman das Leben und die Bemühungen von Ester, Felicita und Gregorio, dreier Generationen einer Familie auf der Suche nach dem bestmöglichen Leben. Ester will nur noch weg von ihrem Dorf auf Sardinien, hinüber aufs Festland, und nimmt dafür sogar die Hochzeit mit einem ungeliebten Mann in Kauf. Enttäuscht kehrt sie nach Jahren wieder auf die Insel zurück. Ihre Tochter Felicita hält es aber auch nicht im Dorf. Sie zieht in die Hafenstadt Cagliari, wo sie aus Abfällen Modeschmuck herstellt und ihren Sohn grosszieht. Der scheint bereits als Ungeborener unschlüssig, ob er überhaupt auf diese Welt kommen möchte. Von seinem adligen Vater hat er die Liebe zur Musik, besonders zum Jazz, geerbt und will in Amerika leben. Wo er auch bald enttäuscht wird.
So tun sich für den Leser eine Menge Widersprüche auf. Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Leben, Streben nach dem Vollkommenen, Perfekten. Ein aussichtsloses Unterfangen, wie wir alle wissen. Die mittlere Generation, verkörpert durch Felicita, scheint die einzig zufriedene zu sein. Nicht umsonst hat die Autorin ihr diesen Namen verliehen: "Glück".
"Wie schafft man es bloss, an einem solchen Ort zu leben?" ist der Grundtenor dieser Geschichte voller skurriler Begebenheiten und stiller Weisheiten. Es geht wohl nur durch Zufriedenheit mit dem Gegebenen und wenn es sein muss, auch ohne Liebe. Denn die Liebe scheint ebenfalls nur Felicita auszuströmen, ohne jedoch wiedergeliebt zu werden. Höchstens von ihrem Sohn Gregorio.
Seit ich selbst dort war, weiss ich, dass Sardinien ein steiniges, hartes Land zum Leben ist. Aber Mailand und New York sind es, im übertragenen Sinn, nicht weniger. Mir gefällt die geradlinige, schlichte Sprache, plastisch und schnörkellos. Sehr farbig sind die Personen gezeichnet, nachvollziehbar ihr Verhalten. Nur was eigentlich Gregorios Vater will, hat sich mir nicht erschlossen. Er dümpelt etwas im Trüben, und seine Beweggründe hätten für meinen Geschmack etwas deutlicher gezeichnet werden können.
Am gestrigen Sonntag hab ich das Buch von Anfang bis Ende gelesen. Die süffige, plastische Sprache, die kurzen Kapiteln, die schnörkellose und sehr farbige Zeichnung der Personen, die Handlung mit ihrem Drive haben mich sehr angesprochen. Ich möchte gern mehr von dieser Autorin lesen.

Bewertung vom 19.12.2019
Sweet Sorrow
Nicholls, David

Sweet Sorrow


sehr gut

Ein Buch zum Geniessen

Der Teenager Charlie Lewis begegnet eines Sommers der jungen Fran Fisher. Er verliebt sich Hals über Kopf in sie und gerät dadurch eher widerwillig in eine Hobby-Theatergruppe. Dass ausgerechnet "Romeo und Julia" gespielt wird, ist quasi bereits eine Schlussfolgerung im Handlungskonzept.
Charlie hat durch die Trennung seiner Eltern bereits einiges zu verdauen und möchte eigentlich nur ein wenig Geld verdienen und den Sommer geniessen. Doch die erste Liebe wirft ihn aus den Schienen. Jahre später, kurz vor seiner Hochzeit, wird er mit der Frage konfrontiert, ob es nicht richtiger wäre, seine Braut zu verabschieden, um mit Fran sein Lebensglück nicht zu verpassen.
Charlie ist schon deshalb eine sympathische Person, weil seine Überlegungen und Handlungen gut nachvollziehbar sind. Die Trennung der Eltern ist auch eine weit verbreitete Tatsache. Man kann ebenfalls Fran gut verstehen, denn so oder ähnlich läuft es meistens ab. Und auch, dass Liebende sich Jahre später wieder begegnen und vor Entscheidungen stehen, kommt häufig vor.
Einfühlsam herausgearbeitet sind die mehrfachen Situationen des Zweifelns, auch in den Rückblicken. Da gelingen Nicholls starke Szenen und überraschende Wendungen. Etwas gestört hat mich aber die Langatmigkeit, besonders bei der Beschreibung der Theaterproben. Das ist vielleicht, weil Nicholls selbst Schauspieler ist und ihm an der Vermittlung der Darstellung auf der Bühne besonders viel liegt. Viele der schier endlos scheinenden Passagen liessen sich bestimmt stark reduzieren. Die Handlung gewinnt dadurch an Tempo und Verve. Andrerseits: Nicholls Sprache ist bilderreich, zart und schön. Ein Genuss. Trotz der 500 Seiten habe ich bis zum Schluss durchgehalten. Als ehemalige Radiomoderatorin schätze ich ausserdem sehr, dass die Handlung von Musik begleitet wird und so ein Plus an Farbe, Zeitgeist und Leben erhält.
Allein von der Optik und vom Titel her hätte ich das Buch nicht zu meiner Lektüre gewählt. Aber sweet im Sinn von süsslich ist der Stoff keineswegs gearbeitet. Und der Name des Autors bürgt für Qualität.
Meine Empfehlung: Der Roman ist nicht für jeden Leser und eignet sich nicht zum blossen Verschlingen. Es ist vielmehr ein Buch für gewisse Zeiten, und vor allem: für GENUG Lesezeit.

Bewertung vom 17.11.2019
Drei
Mishani, Dror

Drei


gut

Erst belogen, dann ermordet

Drei Frauen in Israel fühlen sich nacheinander zum liebenswerten, einfühlsamen Rechtsanwalt Gil hingezogen: Orna, alleinerziehend, leidet unter der Trennung von ihrem Mann, der längst anderweitig liiert ist. Da versucht sie, per Onlineplattform ihrer Einsamkeit zu entfliehen. Die Lettin Emilia hat mit Hingabe Gils Vater gepflegt, fühlt sich nach dessen Tod verloren im fremden Land und hätte ein Zusatzeinkommen bitter nötig, beispielsweise als Putzkraft für seinen Sohn. Und da ist noch Ella, ausgepowerte Mutter von drei Kindern. Sie lernt Gil in einem Café kennen, wenn auch mit anderen Absichten. Alle drei führt er in eine kleine Mietwohnung, zwei von ihnen tötet er und kann lange Zeit unentdeckt bleiben.
Warum Gil die Frauen ermordet, hat sich mir nie erschlossen. Ihr Tod hat ihm keinen Nutzen gebracht, ausser den, dass seine Frau von seinen Seitensprüngen erfahren könnte. War es die Freude am Schwindeln, dass er die Frauen derart in seine Lügengeschichten eingesponnen und damit erobert hat? Irgendwie nicht ganz logisch.
Der Roman hat pro Frau einen eigenen Abschnitt, wobei das letzte Drittel stilistisch etwas anders ausgefallen ist. Die Besonderheit besteht darin, dass teilweise die Futur-Form für diesen Teil des Textes verwendet wurde, was aber auf mich etwas unbeholfen und keineswegs flüssig wirkte. Darin habe ich mich nicht so gut zurechtgefunden und das Konzept nicht gleich durchschaut. Gegen Ende erfährt man den Grund dafür dann schon, aber bis dahin hat es bei mir keinen grossen Anklang gefunden.
Einen besonderen Vorzug habe ich im Text nicht gefunden, wenngleich der Roman durchaus Spannung und Tempo aufweist und in einer schönen Sprache übersetzt ist. Es ist Dror Mishani auch zweifellos gelungen, die Psyche der Frauen und Gils Manipulationen glaubhaft darzustellen. Gil selbst bleibt aber weitgehend ein nebulöser Charakter. Das ist schade, denn der Leser will wissen, welches die wahren Gründe für die Morde sind. Vielleicht erschliesst sich uns das in der angekündigten Verfilmung. Ich hoffe es.