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leukam
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Baden-Baden

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Insgesamt 96 Bewertungen
Bewertung vom 02.09.2025
Schlee, Ann

Die Rheinreise


sehr gut

Eine Reise zu sich selbst
Ann Schlee, 1934 in den USA geboren, lebte die meiste Zeit ihres Lebens in England. „Die Rheinreise“ war ihr erster Roman für Erwachsene und stand in seinem Erscheinungsjahr auf der Shortlist für den Booker Prize. Nun, über vierzig Jahre später, erscheint das Buch bei Dumont in einer schön gestalteten Ausgabe erstmals auf Deutsch.

Der Roman spielt Mitte des 19. Jahrhunderts, ist aber 1981 erschienen und das überrascht bei der Lektüre. Schafft es doch die Autorin, nicht nur die damalige Welt authentisch und lebendig darzustellen und die Atmosphäre jener Zeit genau zu treffen, nein, auch in Ton und Stil erinnert das Buch an viktorianische Romane.

Wir begleiten die englische Familie Morisson auf einer Reise mit dem Dampfschiff von Baden-Baden bis nach Köln. Das sind der anglikanische Reverend Charles und seine kränkelnde Frau Marion mitsamt der 17jährigen Tochter Ellie. Mit dabei ist auch die ledige Schwester des Reverends, Charlotte, eine Frau mittleren Alters. Sie war bis vor kurzem die Haushälterin eines mittlerweile verstorbenen älteren Mannes und hat von diesem etwas Geld geerbt. Damit könnte sie sich ein unabhängiges Leben leisten, etwas, das Charlotte nicht kennt. Denn ihr bisheriges Dasein stand stets im Dienst anderer. Und diese Rolle fällt ihr auch hier wieder zu. Sie darf sich um das Gepäck kümmern, Marion hilfreich zur Seite stehen und für Ellie die Gouvernante sein.

Doch dann in Koblenz sieht sie einen Mann, der ihrer Jugendliebe ähnlich sieht. Obwohl ihr gleich bewusst ist, dass er es nicht sein kann, erschüttert sie diese Begegnung aufs Äußerste. Längst verdrängte Gefühle und Erinnerungen kommen hoch. Da ihr Bruder jene Jugendliebe nicht für standesgemäß hielt, kam es nicht zu einer Heirat.

Nun hat, zu ihrem Entsetzen, dieser seltsame Fremde dieselbe Reiseroute wie sie. Obwohl sie jeden Kontakt mit ihm meiden will, so taucht er doch immer wieder in ihrer Nähe auf. Bis in ihre Träume hinein verfolgt er sie.

Sehr genau beschreibt Ann Schlee den seelischen Aufruhr, in dem sich ihre Protagonistin befindet. Der Schmerz um die verlorene Liebe, um ihr vertanes Glück lässt sie aufbegehren gegen die ständige Bevormundung und Gängelung. Sie fragt sich, wer sie eigentlich ist. Bisher wurde sie definiert über andere, als Schwester, Schwägerin, Tante, usw. Doch wo bleiben ihre Wünsche und Bedürfnisse?

Der Roman endet hoffnungsvoll. Charlotte wird nicht, wie geplant, bei ihrem Bruder einziehen, sie sieht ihre Zukunft „in jenem geweißelten Cottage, in dem sie sich still ausbreiten, von einem Raum in den anderen gehen, sich selbst finden und erkennen konnte, unverbildet durch den Druck, den andere auf sie ausübten.“

Die Geschichte spielt 1851, drei Jahre nach der Märzrevolution, in der sich die Bürger auflehnten gegen die Obrigkeit, mehr Freiheit und Rechte forderten. Darauf weist die Autorin explizit hin in einer Art Vorwort. Das ist der historische Hintergrund, der sich kaum, bis auf ein überraschendes Ereignis, auf die Handlung und die Figuren auswirkt.

Aber was sich im Innern der Hauptfigur abspielt, ist auch eine Revolution, wenn auch eine leise.

„ Die Rheinreise“ ist ein ruhig erzählter Roman, ohne größere Handlung. Der Schwerpunkt liegt auf der komplexen Gefühlswelt der Protagonistin und den zwischenmenschlichen Beziehungen, was von der Autorin präzise und psychologisch stimmig dargestellt wird. Dies alles in einer schönen, bilderreichen Sprache und einem äußerst eleganten Stil.

Eine lesenswerte Wiederentdeckung!

Bewertung vom 27.08.2025
Lühmann, Hannah

Heimat


gut

Jede Menge Diskussionsstoff
Jana und Noah sind mit ihren beiden kleinen Kindern aufs Land gezogen. Der Traum vom eigenen Haus ließ sich in der Stadt nicht verwirklichen, obwohl beide nicht schlecht verdient haben. Aber einfach dürfte es auch hier nicht werden, denn Jana hat ihren Job in der Agentur gekündigt, nachdem ihre Chefin wenig begeistert auf ihre dritte Schwangerschaft reagiert hat.
Außerdem fühlt sich Jana fremd in der Neubausiedlung, in der sie die Einzige zu sein scheint, die ihre Kinder ganztags in der Kita lässt. Nein, Jana ist nicht heimisch geworden in ihrer neuen Heimat. Das ändert sich erst, als sie Karolin kennenlernt, eine Frau, die ganz locker ihren großen Haushalt managt, sich vorbildlich um ihre fünf Kinder kümmert und dabei noch auf Instagram ihre Bilderbuchfamilie präsentiert. Und die glücklich zu sein scheint in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter. Aber Karolin hat auch einen Mann, der sich kümmert, einen richtigen „ Versorger“.
Dieser Clemens ist so ganz anders als Noah. Der befindet sich schon länger auf dem Rückzug, ist kaum mehr daheim und wenn, dann nicht ansprechbar. Jana fühlt sich von ihm im Stich gelassen, ganz konkret bei den häuslichen Pflichten und bei der Kindererziehung, aber auch emotional. „ Sie hatte das Gefühl, dass ihre Beziehung zunehmend verstummte.“ Kein Wunder, dass sie fasziniert ist von ihren neuen Bekannten und deren heiler Welt.
Sie verfolgt schon beinahe obsessiv Karolins Insta-Kanal, und ist glücklich, als sie immer mehr zum inneren Zirkel von Karolin Zugang findet. Sie freut sich über die Einladung zum „ Mama-Lesekreis“, auch wenn ihr die Themen anfangs suspekt sind : „Kita-freie Erziehung“ oder „keine Impfpflicht für Kinder“.
Obwohl sich hinter der vermeintlichen Idylle Brüche und Widersprüche verbergen, so gerät Jana doch immer stärker in den Dunstkreis ihrer neuen Freunde, die sich auch ganz offen politisch rechts verorten. Und bald steht sie gemeinsam mit anderen Frauen an einem Parteistand der AfD und kämpft gegen die Einrichtung eines Asylbewerberheims in der Innenstadt.
Hannah Lühmann greift in ihrem zweiten Roman ein aktuelles Thema auf. Die sog. „ Tradwives“, die auf Social Media sehr erfolgreich ihr traditionelles Familienleben inszenieren und damit ein konservatives Rollen- und Gesellschaftsbild propagieren. In den USA gibt es diesen Trend schon länger, politisch meist im rechten Spektrum angesiedelt. Und auch in Deutschland passt diese Bewegung in das traditionelle Wertesystem der rechten Parteien.
Warum moderne Frauen anfällig werden können, ihr Heil in der Hausfrauen- und Mutterrolle zu finden, das zeigt Hannah Lühmann exemplarisch an ihrer Protagonistin. Denn Jana kennt den Spagat zwischen Job und Familie, weiß, wie viel Kraft der kostet und wie wenig Unterstützung frau dabei erfährt. Gleichzeitig kann der Alltag mit den eigenen Kindern befriedigender sein als mancher langweilige Bürojob.
Dabei zeichnet die Autorin ihre Hauptfigur als unsichere und überforderte Frau, die ihre alten Werte zunehmend in Frage stellt. Ihr früheres Leben mit Mann und Job existiert nicht mehr, bei Karolin und deren Umfeld findet sie Unterstützung und Gemeinschaft.
Der Autorin gelingt es sehr gut, diese langsame Veränderung von Jana an vielen kleinen Episoden erfahrbar zu machen. Dabei schwingt untergründig etwas Unheimliches und Bedrohliches mit. Dazu passt das überraschende Ende, das viele Fragen aufwirft.
Der Roman liest sich süffig, so dass man die knapp 170 Seiten in einem Rutsch durchlesen kann. Etwas mehr Seiten hätte ich dem Buch gewünscht, angesichts der Fülle an Themen.
Auch wenn manche Figuren etwas blass bleiben, so z.B. Janas Mann Noah, dessen Rückzug kaum erklärt wird, andere eher Klischees entsprechen wie Janas Hippiemutter, so gelingt der Autorin doch ein authentisches Bild bestimmter sozialer Milieus.
Der Roman überzeugt weniger mit sprachlicher Brillanz und literarischer Finesse. Dafür greift er viele aktuelle Fragen auf und bietet jede Menge Diskussionsstoff. Ein Lob noch für das tolle Cover, das kongenial das Thema illustriert.

Bewertung vom 26.08.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


gut

Zwischen den Welten
Die Autorin Yuko Kuhn, 1983 geboren, hat sich für ihren Debutroman von ihrer eigenen Familiengeschichte inspirieren lassen. Wie ihre Ich-Erzählerin Aki ist sie als Tochter einer japanischen Mutter und eines deutschen Vaters in München aufgewachsen.
Die Großmutter ist im fernen Japan im hohen Alter gestorben , doch es dauert Monate, bis ihre Tochter Keiko in Deutschland davon erfährt. Aber die Nachricht dringt kaum mehr ins Innerste der Tochter, denn diese ist dement. Aki beschließt eine letzte gemeinsame Reise mit ihrer Mutter in deren frühere Heimat. Wohl wissend, dass dieses Unterfangen auch scheitern kann. Aber sie hofft, dass die Rückkehr ins Elternhaus, die Muttersprache, das Essen und die vertraute Umgebung in ihrer Mutter etwas wachrufen.
Dieser neuntägige Besuch bei der japanischen Familie ist die Rahmenhandlung des Romans, immer wieder unterbrochen von Erinnerungen an die Vergangenheit.
Als junge Frau ist Aki nach Deutschland ausgewandert, so sehr hat sie eine zuvor unternommene Europareise beeindruckt. Sie lernt die Sprache, verdient sich ihren Unterhalt mit Aushilfsjobs und begegnet ihrem zukünftigen Mann. Karl ist einige Jahre jünger als sie und stammt aus einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie. Doch er hat massive psychische Probleme. Das Paar bekommt zwei Kinder. Aber die Ehe zerbricht und die Geschwister wachsen bei der Mutter auf.
Es ist eine Kindheit zwischen den Welten. Besonders groß ist der Kontrast zwischen der bescheidenen Lebensweise daheim bei der Mutter und dem pompösen Lebensstil der Großeltern, die sich auch nach der Trennung um ihre Enkel kümmern. Sie sind großzügig mit Geschenken, aber die Atmosphäre im Haus ist kühl. Keiko fühlt sich nie richtig akzeptiert und Aki hat deshalb auch stets Vorbehalte gegen ihre Großeltern.
Die Mutter versinkt immer mehr in einer Depression, fühlt sich ständig müde und oftmals außerstande, für ihre Kinder da zu sein. Ausdruck dafür ist eine ständig wiederkehrende Geste: Die Mutter sitzt da, die Hände vor dem Gesicht, so, als wolle sie die Außenwelt ausblenden.
Die einzige Freude scheint sie noch im Singen zu finden. Jahrzehntelang ist Keiko Mitglied in einem Chor.
Ansonsten ist sie nie wirklich angekommen in der neuen Heimat. Aki hat lange ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Mutter. Als Kind ist ihr das Anderssein peinlich, hätte lieber eine Mutter, die nicht auffällt, sondern so ist, wie die ihrer Freundinnen. Als Erwachsene kümmert sie sich zwar fürsorglich um die zunehmend verwirrter werdende Frau, hat aber nicht immer die Geduld dazu. Bei dieser letzten gemeinsamen Reise lernt Aki ganz neue Seiten an ihrer Mutter kennen. Sie entdeckt, wie sie war als junge Frau, klug und voller Neugierde auf das Leben. Und sie stellt sich die Frage, „… warum meine Mutter geworden ist, wie sie ist, ob ihr Unglück schon in ihr war, bevor sie nach Deutschland gekommen ist.“ Oder war es die gescheiterte Ehe oder der Alltag in der Fremde?
Auffallend ist der fragmentarische Erzählstil, der es dem Lesenden nicht leicht macht. In unendlich vielen kurzen Einzelszenen, die keiner Chronologie entsprechen, erzählt die Autorin ihre Geschichte. Erst nach und nach ergibt sich daraus ein Gesamtbild. Nicht alles wird restlos geklärt, wie im richtigen Leben. Auch dort muss man mit Leerstellen auskommen.
Der Erzählstil ist nüchtern, auch und gerade wenn es um emotional berührende Themen geht.
Anfänglich hatte ich meine Schwierigkeiten mit den Figuren. Nicht immer hatte ich Verständnis für ihr Verhalten, fand sie zu ich- bezogen und ungerecht. Doch im Grunde ist es positiv, dass die Ich-Erzählerin die Situation so ehrlich und ungeschönt darstellt, niemanden schont, auch nicht sich selbst. Denn das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie ist belastend, ebenso wie der Alltag mit einem erst depressiven, dann dementen Menschen. Das alles wird nachvollziehbar dargestellt.
Die titelgebenden „Onigiri“, Reisbällchen, sind nicht nur das Lieblingsessen von Aki. Sie tauchen an verschiedenen Stellen im Roman auf und stehen sinnbildlich für Liebe und Zuwendung. An ihnen lässt sich das veränderte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ablesen. Ist Aki bei der Geburt ihres ersten Kindes noch enttäuscht, dass ihre Mutter zu müde war, um ihr die gewünschte Leibspeise zuzubereiten, so macht Aki in Japan für ihre Mutter zum ersten Mal selbst Onigiri.
Die Reise nach Japan war für Aki nicht nur die Möglichkeit, eine andere Seite ihrer Mutter zu entdecken, sondern auch eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln.
„ Onigiri“ ist ein berührender Roman über eine komplizierte Mutter-Tochter- Beziehung, über das Leben zwischen den Kulturen und nicht zuletzt über Demenz. Eine zum Teil für mich fordernde und schmerzhafte Lektüre.

Bewertung vom 21.08.2025
Erne, Andrea

Wieso? Weshalb? Warum? Kernreihe, Band 58 - Unsere Gefühle


ausgezeichnet

Ein Muss für jedes Kinderzimmet
Meine Enkelkinder besitzen schon eine stattliche Anzahl Bücher aus der bewährten „Wieso? Weshalb? Warum?“- Reihe und es war für mich gar keine Frage, diesen neuen Band hinzuzufügen . Seine eigenen Gefühle benennen und einordnen zu können, ist enorm wichtig für die gesunde Entwicklung von Kindern.
In zahlreichen Alltagssituationen wird aufgezeigt, wie viele unterschiedliche Arten von Gefühlen es gibt und warum sie wichtig und hilfreich sind. Es geht um kindliche Konflikte, um angenehme und weniger angenehme Gefühle; Freude, Wut, Traurigkeit oder Angst. Identifikationsmöglichkeiten bieten die Szenen rund um den kindlichen Alltag, der mit vielen ansprechenden Szenen illustriert wird. So lernen Kinder nicht nur, ihre eigenen Gefühle zu akzeptieren, sondern auch, sie bei anderen wahrzunehmen. Dabei helfen die Bilder, die mit ausdrucksstarker Mimik und Körperhaltung deutlich machen, wie sich die Figur fühlt. Aber nicht nur Kinder kennen Gefühle; dass auch Erwachsene unter ihnen leiden können, wird ebenfalls angesprochen, so z.B. die Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen oder die Depression eines Vaters.
Strategien, wie mit unliebsamen Emotionen umzugehen ist, werden empfohlen , ebenso, wer einem dabei helfen kann.
Auch bei diesem Band laden jede Menge Klappen zum weiteren Entdecken ein. Besonders gelungen ist die integrierte Gefühlsuhr zum Drehen , bei der das Kind seine aktuelle Gefühlslage anzeigen kann.
Dieses Buch ist ein Muss für jedes Kinderzimmer und eignet sich außerdem sehr gut für den Einsatz im Kindergarten. Denn es lädt geradezu ein, um miteinander über seine Gefühle ins Gespräch zu kommen.

Bewertung vom 14.08.2025
Kornmüller, Jacqueline

6 aus 49


gut

„Flirt mit dem Glück“
In bitterer Armut ist sie aufgewachsen, die Großmutter von Jaqueline Kornmüller. Eine solche Armut, von der sie immer sagte, „ so eine Armut, wie ich sie als Kind erlebt habe, gehört verboten.“
Geboren wurde Lina an einem Dreizehnten im Jahr 1911 in einem Dorf in Niederbayern. Aufgewachsen ist sie mit 10 Geschwistern, zu denen noch vier Pflegekinder kamen. Schon mit dreizehn Jahren tritt sie ihre erste Arbeitsstelle an. Erste Erfahrungen im Hotelgewerbe macht sie in München und von dort führt es sie mit der neu gewonnenen Freundin Maria nach Garmisch. Wieder in ein Hotel, in ein sehr renommiertes. Hier verkehren die Großen der deutschen Filmindustrie, u.a. auch Zarah Leander.
Die Arbeit im Hotel gefällt Lina, doch sie will nicht länger Angestellte sein. Und als sich die Möglichkeit bietet, eine schöne Villa zu pachten, greift sie zu. Gemeinsam mit Freundin Maria betreibt Lina fortan das kleine Hotel „Amalie“. Es folgen harte und arbeitsame Jahre, die aber von Erfolg gekrönt sind. Lina ist mit Leib und Seele Hoteliersfrau, immer bereit, immer gastfreundlich.
Doch Lina vergisst nie ihre Herkunft, die bitteren Jahre der Armut. Das mag mit ein Grund gewesen sein für ihre Leidenschaft für das Lotto- Spiel. Woche für Woche füllt sie den Lottoschein aus, und tatsächlich hat sie einmal einen Sechser. Doch der Gewinn spielt im Buch und in Linas Leben gar keine so große Rolle.
Wichtiger ist vielmehr Linas unerschütterlicher Optimismus und ihr Vertrauen in das Glück. Dabei erwartet sie nichts Weltbewegendes; ihr Glück liegt in den kleinen Dingen.
Nur in der Liebe hat Lina kein Glück. Ein „ Zufallsgast“, von dem sie glaubt, er bliebe ein Leben lang, entpuppt sich als nicht verlässlich. Lina wird weiterhin ihre Tochter allein großziehen. Aber immer treu an ihrer Seite ist Freundin Maria, ein Leben lang.
Die Regisseurin und Autorin Jaqueline Kornmüller erzählt in 49 (!) kurzen Kapiteln vom Leben ihrer Großmutter. Bei ihr ist sie aufgewachsen, sie war ihr „ persönlicher Sechser im Lotto“. Und diese Liebe und Verbundenheit zwischen Großmutter und Enkelin ist in jeder Zeile zu spüren.
Die Autorin erzählt episodenhaft, umkreist das Leben ihrer Großmutter, erzählt aber auch von sich, von ihrer Kindheit in der „ Amalie“, von ihrem Erwachsenwerden.
Dabei wird der historische Hintergrund nicht ausgeklammert. So erfährt der Lesende z.B. von der unrühmlichen Vergangenheit von Garmisch- Partenkirchen, dem Geburtsort der Autorin. Weil Hitler die Winterolympiade wollte, wurden 1935 die verfeindeten Dörfer Garmisch und Partenkirchen zusammengelegt. Der Ort blüht auf, die Touristen kommen in Scharen, die „ Luftdeppen“, wie es im Buch heißt. Und die Nazis haben hier, wie andernorts , das Sagen. Auch davon erzählt Jaqueline Kornmüller in eindrücklichen Szenen. Ihre kritische Haltung zu ihrem Geburtsort zeigt sich u.a. darin, dass sie von ihm nur als „ Bindestrich“ spricht.
Auch sonst pflegt die Autorin einen eigenwilligen Erzählstil, mit vielen kurzen Sätzen und Wiederholungen. Viele Figuren erhalten keinen eigenen Namen sondern heißen „ die Kanaille“, „ der Durchreisende“, „ der Zufallsgast“ oder einfach „ Du“. Und die Mutter der Autorin wird im Buch nur „ Linas Tochter“ genannt. Der Fokus liegt eindeutig auf Lina.
Das aussagekräftige Coverbild, fast nur in Blau gehalten, bis auf die gelbe Schrift, hat die bekannte Illustratorin Kat Menschik gestaltet. Sie fasst sehr anschaulich den Inhalt zusammen. Vor dem Hintergrund einer blühenden Berglandschaft stehen zwei lächelnde Frauen, Hand in Hand, hinter ihnen das Hotel „Amalie“. Und zwischen all dem schweben sechs Lottokugeln.
„6 aus 49“ ist eine liebevolle Hommage an eine starke und beeindruckende Frau, die mit Zuversicht und Selbstvertrauen ihr Leben gemeistert hat.

Bewertung vom 05.08.2025
Gestern, Hélène

Rückkehr nach St. Malo


sehr gut

Intensive Spurensuche
Héléne Gestern, Jahrgang 1971, ist eine französische Schriftstellerin und Literaturdozentin. Nach „ Der Duft des Waldes“ ist dies ihr zweiter auf Deutsch erschienener Roman. Auch hier spielen wieder alte Photographien und Recherchen in Archiven eine wichtige Rolle.
Hauptfigur und Ich- Erzähler Yann de Kérambrun, ein knapp fünfzigjähriger Geschichtsprofessor, kehrt zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters in das Familienanwesen nach Saint-Malo zurück. Nach der Scheidung von seiner Frau braucht er eine Auszeit; die Ruhe hier an der bretonischen Küste soll ihm den nötigen Abstand geben. Das Haus ruft Erinnerungen an seine Kindheit hervor, an unbeschwerte Sommer am Meer, gemeinsam mit seinem mittlerweile verstorbenen Zwillingsbruder.
Im Büro seines Vaters stößt Yann auf die Archive des Familienunternehmens, auf alte Konten- und Notizbücher seines Urgroßvaters Octave. Dieser, ein visionärer Maschinenbauingenieur, war fasziniert von dem technischen Fortschritt und hatte den Ehrgeiz, sichere und schnelle Schiffe zu bauen. So legte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Grundstein für eine expandierende Reederei, die bis heute im Familienbesitz ist.
Yann selbst wollte als junger Mann nichts mit dem Familienbetrieb zu tun haben, was das Verhältnis zu seinem dominanten Vater zusätzlich belastete.
Je tiefer Yann in die familiäre Vergangenheit eintaucht, desto mehr Fragen stellen sich ihm. Und am Ende kommt er nicht nur einem Familiengeheimnis auf die Spur, sondern kann auch Frieden schließen mit seinem Vater.
Hélène Gestern lässt sich Zeit für ihre Geschichte. Bis ins Detail gehend lässt sie den Lesenden an Yanns Recherchearbeit teilhaben, die über das familieneigene Archiv hinausführt. Dabei bekommt man nicht nur einen intimen Einblick in familiäre Konflikte, sondern auch in betriebliche Abläufe.
Gleichzeitig erleben wir den Heilungsprozess eines Mannes in der Krise. War der Ich- Erzähler bei seiner Ankunft noch erschöpft und verzweifelt, wusste nicht, wie es weitergehen soll, so kann er nach diesem Jahr in St. Malo wieder offen nach vorne schauen. Dazu beigetragen hat sicher auch die Begegnung mit einer Frau.
Aber auch das Meer hat eine wesentliche Rolle für seine Gesundung gespielt. Es fordert ihn heraus, schenkt ihm Kraft und Ruhe. Wie die Autorin das Meer und die Küstenlandschaft beschreibt, ist Nature Writing vom Feinsten. Hier werden alle Sinne des Lesers angesprochen.
Der Originaltitel des Romans lautet „ Cézembre“, wie die kleine Insel im Ärmelkanal, nordwestlich von Saint-Malo, „ diesem Gesteinsbrocken, der je nachdem Paradies oder Hölle gewesen war, Schlachtfeld oder Heiligtum, Festung oder Friedhof.“
Beim Blick aus dem Fenster hat Yann dieses Eiland täglich vor Augen, und für seine Familie, aber auch für die Weltgeschichte, hat Cézembre eine wichtige Rolle gespielt. Lebten früher Einsiedler dort, später Mönche, so wurde im 19. Jahrhundert die Insel zur Festung ausgebaut. Diese Festung war im Zweiten Weltkrieg Teil des Atlantikwalls und auf Cézembre waren deutsche Soldaten stationiert. Nachdem Saint-Malo von den Alliierten eingenommen war, wurde die Insel Ziel intensiver Luftangriffe. Cézembre war eine der am stärksten bombardierten Orte im Zweiten Weltkrieg, weshalb sie danach jahrzehntelang für Besucher gesperrt war.
Kursiv gedruckte Passagen, immer wieder im Text verstreut, erzählen von Menschen, die einst auf der Insel lebten, von Mönchen, Sträflingen und Soldaten. Kursiv gedruckt kommen aber auch Familienmitglieder aus der Vergangenheit zu Wort.
So wechselt die Autorin gekonnt die Zeiten und die Perspektiven, was dem Roman zusätzliche Tiefe gibt.
Hèléne Gestern überzeugt mit literarischer Virtuosität, mit einer wunderschönen Sprache, die die Faszination dieser Region einfängt, mit glaubwürdigen Charakteren und mit einer fesselnden Familiengeschichte.
„ Rückkehr nach St. Malo“ ist allerdings ein Roman, für den man einen langen Atem braucht, nichts für ungeduldige Leser. Doch wer sich auf das ruhige Erzähltempo einlässt und sich von den vielen Details nicht abschrecken lässt, wird belohnt mit einer atmosphärisch dichten Geschichte, die einen immer stärkeren Sog entwickelt.

Bewertung vom 28.07.2025
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


sehr gut

Invasive Arten
Kristina Hauffs dritter Roman führt uns in ein idyllisches Tal mitten im Schwarzwald. Hier lebt Lisa mit ihrem Mann Simon und der beinahe erwachsenen Tochter. Und hier ist sie auch aufgewachsen, als Kind einer Hoteliersfamilie. Doch das Hotel „ Zum alten Forsthaus“ hat seine besten Tage längst hinter sich. So vieles ist marode und gehörte dringend renoviert; auch erfüllt das Haus längst nicht die Standards, die heutige Touristen erwarten. Nur noch die alt gewordenen Stammgäste verirren sich hierher. Lisa, die neben ihrem Job im örtlichen Tourismusbüro die Buchhaltung des Hotels erledigt, würde gerne neu durchstarten. Doch Vater Carl will das Zepter nicht aus der Hand geben. Außerdem hofft er immer noch darauf, dass Sohn Felix seine Nachfolge antritt.
Eines Tages quartiert sich Daniela, eine einsame Fremde, im Hotel ein. Sie macht einen hilfesuchenden Eindruck und Lisa nimmt sich ihrer an. Dank Lisas guter Vernetzung im Ort findet Daniela bald eine Wohnung und Anschluss im Chor. Und als Carl Hilfe benötigt im Hotel, da bietet sich die Neuangekommene an und macht sich schnell unentbehrlich.
Doch etwas stimmt nicht mit ihr. Was kann man ihr tatsächlich glauben? Nicht alles, was sie erzählt, erweist sich als wahr. Und warum wendet sich plötzlich die beste Freundin von Lisa ab? Weshalb verhält sich Simon auf einmal höchst sonderbar?
Ganz subtil spinnt die fremde Frau ihre Intrigen, spielt die Menschen gegeneinander aus und manipuliert sie.
Lisas bisher scheinbar gefestigte Welt gerät ins Wanken und sie muss alles auf den Prüfstand stellen.
Durch die Geschehnisse werden die Brüche und Risse, die schon zuvor in den Beziehungen bestanden haben, offensichtlich.
Simon steckt mitten in einer Sinnkrise. Es nervt ihn immer mehr, dass Lisa ständig im väterlichen Hotel aushilft und sich kaum für seine Arbeit interessiert. Und in seinem Beruf als Förster macht ihm der Klimawandel zu schaffen.
Aber es ist nicht nur Daniela allein, die die Menschen in ihrem Umfeld manipuliert und für ihre eigenen Interessen benützt. Auch Vater Carl weiß, wen er für seine Zwecke ausbeuten kann. Lisas Pflichtbewusstsein und ihre Hoffnung auf väterliche Anerkennung sorgen dafür, dass sie immer sofort herbeieilt, wenn er sie braucht. Und auch auf die Liebe und Unterstützung seiner Lebensgefährtin Margaret kann er vertrauen. Sie managt das ganze Hotel, trotzdem bekennt er sich in der Öffentlichkeit, als verheirateter Mann, nicht zu ihr.
Spannung und Tiefe bekommt der Roman durch die Vielfalt der Perspektiven. Außer der Hauptfigur Lisa bekommt man auch die Sichtweisen von Simon, Carl und Margaret zu lesen. Nur Daniela wird von außen betrachtet, wobei sich jeder sein eigenes Bild von ihr macht.
Der Roman entwickelt gleich einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Anfänglich irritiert, ist man bald entsetzt, wie perfide die Manipulationen hier ablaufen. Auch wenn man früh ahnt, aus welcher Richtung die Bedrohung kommt, so fragt man sich doch, welchen Plan die Fremde verfolgt.
So wie der Titel schon auf das Bedrohliche verweist, das in eine vermeintliche Idylle eindringt, findet Kristina Hauff ein weiteres starkes Bild, das diesen Eindruck verstärkt. Simon beobachtet in seinem Wald einen Schakal, ein Tier, das normalerweise nicht im Schwarzwald heimisch ist. Durch den Klimawandel dringen verstärkt invasive Arten ein, verdrängen heimische Tiere und Gewächse und verändern so unsere gewohnte Lebenswelt.
Mit Daniela ist eine gewissermaßen „ invasive Art“ ins „ schattengrüne Tal“ eingedrungen und die Bewohner dort müssen ihr gewohntes Leben neu überdenken und sich verändern. Lebenslügen werden aufgedeckt, Geheimnisse kommen ans Licht,
Der Roman überzeugt nicht nur mit psychologischer Spannung, sondern auch mit Atmosphäre. Stimmungsvolle Landschaftsbilder lassen den Schwarzwald in all seinen Schattierungen lebendig werden.
Nach dem für mich enttäuschenden „ In blaukalter Tiefe“ konnte die Autorin hier an das Niveau ihres Erstlings herankommen.
„ Schattengrünes Tal“ ist ein fesselnder Unterhaltungsroman, den ich gerne empfehle.

Bewertung vom 03.07.2025
Willbrand, Klaus;Razumovych, Daria

Einfach Literatur


sehr gut

Einladung an alle
Auch ich habe mir mit Interesse auf Instagram die Videos angeschaut, in denen ein freundlicher älterer Herr sehr fundiert die Fragen einer jungen Frau beantwortet hat, Fragen nach literarischen Vorlieben, nach den wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts, nach über- und unterschätzten Autoren und viele mehr. Klaus Willbrand hieß der Mann, der sich sein ganzes Leben intensiv mit Literatur beschäftigt hat. Er war gelernter Buchhändler und Antiquar und hat über zwanzig Jahre lang ein gut sortiertes Antiquariat in Köln, in der Nähe der Universität, geführt. Anfang 2024 steht er vor der Frage, ob er sein Geschäft, das schon während der Corona-Pandemie in Schieflage geriet, schließen muss. Da hat seine junge Kundin und Freundin Daria Razumovych, eine Germanistin und Social Media-Expertin, die Idee, Videos mit Buchempfehlungen auf TikTok und Instagram hochzuladen. Nicht nur sein Antiquariat erhielt neuen Zulauf, nein, innerhalb kürzester Zeit wurde Willbrand als „ältester Bookfluencer Deutschlands“ bekannt. Er begeisterte über 150.000 Follower mit seiner Leidenschaft für gute Literatur und widerlegte das Vorurteil, das Buch sei ein aussterbendes Medium.
Klaus Willbrand ist im Januar im Alter von 83 Jahren gestorben und posthum erscheint nun sein Vermächtnis. „ Einfach Literatur“ heißt das Buch, das er gemeinsam mit Daria Razumovych geschrieben hat und das kein verbindlicher Kanon sein will, sondern ein „ Literaturverführer“, wie es auf der Rückseite heißt.
Es ist eine Mischung aus Biografie und literarischen Empfehlungen.
Schon sehr früh fand Klaus Willbrand Zugang zu Büchern. Mit fünf Jahren musste er wegen seinem starken Asthma ins Krankenhaus, wo er sich aus Langeweile selbst das Lesen beibrachte. Der Grundstock für eine lebenslange Leidenschaft war gelegt. Sein Weg führte ihn in den Buchhandel, zeitweise auch in die Verlagswelt. Dabei machte er Bekanntschaften mit Schriftstellern wie Heinrich Böll, den er auch als Mensch schätzen lernte oder Rolf Dieter Brinkmann, mit dem ihn bis zu dessen frühen Tod eine enge Freundschaft verband. Mit dem Dichter H.C. Artmann zog er um die Häuser. „ Das hatte wenig mit Literatur zu tun“, bekennt Willbrand freimütig. In seine Erinnerungen flicht er einige Anekdoten ein, die den Lesenden schmunzeln lassen. So hat er z.B. einmal Günter Grass vor den Kopf gestoßen, weil er kein Autogramm von ihm wollte.
Es war kein bürgerliches Leben, das Klaus Willbrand geführt hat. Immer wieder beginnt er etwas völlig Neues. So gönnt er sich auch ein dreijähriges Lesesabbatical. In dieser Zeit unternimmt er nichts, außer lesen. Dabei legt er sich „ eine literarische Basis“ an, von der wir alle nun profitieren dürfen.
Zwischen den unterhaltsamen Geschichten aus seinem Leben folgen Abschnitte über die Literatur, beginnend mit der deutschsprachigen, dann der angloamerikanischen und endend mit der französischsprachigen Literatur. Alle drei Großkapitel schließen mit einer langen Liste der wichtigsten Schriftsteller und Schriftstellerinnen.
Romane aus dem asiatischen und dem afrikanischen Raum sucht man hier allerdings vergebens. Ein kleines Manko, das aber durch die Art, wie Klaus Willbrand Bücher und Autoren vorstellt, ausgeglichen wird. Kurz und prägnant, dabei immer fundiert und respektvoll schreibt er über die einzelnen Werke und deren Schöpfer, greift Besonderheiten heraus, so z.B. die Ironie und die elegante Sprache bei Thomas Mann, die Hellsichtigkeit Kafkas und an Joseph Conrad schätzt er dessen Auseinandersetzung mit anderen Kulturkreisen. Hans Fallada will er nicht als Unterhaltungsschriftsteller abgestempelt sehen. Virginia Woolf gesteht er „ ewige Bedeutung“ zu und an Proust führt für ihn kein Weg vorbei.
Eine Leseliste mit deren bedeutendsten Werken findet sich bei einigen Schriftstellern
Bei vielen der angesprochenen Bücher werden bei mir Leseerinnerungen wach und nicht bei wenigen habe ich Lust bekommen auf eine Zweitlektüre. Andere wiederum stehen schon seit langem auf meiner unendlichen Leseliste und bei manchen wurde erstmals mein Interesse geweckt. So ist das Buch nicht nur für Menschen, die Zugang zu guter Literatur finden möchten, sondern auch für Literaturkenner lesenswert.
„ Einfach Literatur“ ist eine Einladung an alle, die das weite Reich der Literatur für sich entdecken wollen. Denn: „Am Ende des Tages heißt es: lesen, lesen, lesen

Bewertung vom 22.05.2025
Labba, Elin Anna

Das Echo der Sommer


sehr gut

„ Der See stand in ihrem Zuhause“
Die schwedisch-samische Journalistin Elin Anna Labba hat für ihr Sachbuch über die Zwangsumsiedlung der Sami den wichtigsten schwedischen Buchpreis erhalten. Nun legt sie mit „ Das Echo der Sommer“ ihren ersten Roman vor. Auch hier geht es um ein leidvolles Kapitel in der Geschichte ihres Volkes. Schon seit Jahrzehnten werden samische Dörfer für die Energieversorgung des Landes geflutet.
Der Roman setzt ein im Jahr 1942. Die dreizehnjährige Ingá macht sich wie jedes Jahr gemeinsam mit ihrer Mutter Rávdná und ihrer Tante Ánne von ihrem Winterquartier auf in ihr „ Sommerland“, ein Dorf an einem See in Nordschweden. Doch ihr Dorf ist schon beinahe ganz im See versunken.Die Regierung hat den Staudamm erhöht, weil die Städte im Süden des Landes mehr Strom brauchen. Auch ihre Torfkote steht schon zur Hälfte unter Wasser. Sie versuchen mit dem Boot noch einige Dinge aus ihrem einstigen Zuhause zu retten. Aber das Wasser steigt schnell. Auch das Grab ihres Vaters, das auf einer erhöhten Insel liegt, versinkt in den Fluten.
Es ist nicht das erste Mal, dass Rávdná und Ánne eine neue Kote bauen müssen. Schon früher hat sie der Staudamm gezwungen, weiterzuziehen, weiter oben am Fjäll zu siedeln.
Rávdná ist zornig. Als Witwe hat sie keine Rentierherde, mit der sie umherziehen muss. Sie lebt vom Fischfang und sie will endlich ein festes Zuhause. Doch der schwedische Staat möchte nicht, dass die Samen sesshaft werden. „ Der Staat hält es für das Beste, wenn sie ihr ursprüngliches Leben beibehalten und weiter mit ihren Rentierherden umherziehen. …Die natürlichen Eigenschaften der Lappen sind für die Sesshaftigkeit nicht gemacht.“
Aber Rávdná gibt nicht auf. Trotz fehlender Genehmigung baut sie sich ein kleines Häuschen und als Jahrzehnte später, wir sind dann Ende der 1960er Jahre, die Staumauer wieder erhöht werden soll, schließt sie sich mit anderen zusammen zum gemeinsamen Protest. Aber aller Widerstand nützt nichts. Erneut wird ihr Zuhause von den Fluten verschlungen.
Die Autorin zeigt uns hier drei starke Frauen aus zwei Generationen, die völlig unterschiedlich mit den Schwierigkeiten ihres Lebens umgehen. Während Rávdná sich gegen das Unrecht zur Wehr setzt, verschließt sich ihre Schwester immer mehr, wird immer stiller, bis sie schließlich stirbt, und Inga arrangiert sich notgedrungen mit den neuen Gegebenheiten.
Wir erfahren in diesem Roman sehr viel über die alte Kultur der Samen, ein Leben in und mit der Natur. Allerdings auch darüber, wie viel sich verändert hat. Dorfgemeinschaften werden auseinandergerissen, ihre Lebensgrundlage immer mehr zerstört. Gleichzeitig wird ihr Volk diskriminiert und ausgegrenzt. Das Winterquartier z.B. ist eine erbärmliche Barackensiedlung ohne Strom am Rande der Stadt. Der indigenen Bevölkerung wird, wie überall, ihre Heimat, ihr Lebensraum weggenommen, ohne ihre Einwilligung und ohne Entschädigung.
Auch hier zeigt sich eindrucksvoll, dass für die Gier der Industrienationen nach Wohlstand andere, Ärmere, bezahlen müssen.
Dabei ist der Roman unglaublich poetisch. Gerade die Passagen, in denen der See selbst zu Wort kommt, wirken wie Gedichte. Die vielen eingestreuten samischen Ausdrücke, die sich meist aus dem Kontext erschließen, stören keineswegs, sondern lassen die Geschichte noch authentischer wirken.
„ Das Echo der Sommer“ ist ein Roman, der Einblick bietet in eine faszinierende Kultur, gleichzeitig ein aufrüttelndes und schmerzhaftes Buch.

Bewertung vom 18.04.2025
Carr, Garrett

Der Junge aus dem Meer


ausgezeichnet

Irische Erzählkunst vom Feinsten



„ Wir waren ein zäher Menschenschlag, geformt vom Leben mit dem Atlantik. Ein paar Tausend Männer, Frauen und Kinder, die sich an die Küste klammerten und versuchten, trocken zu bleiben. Unsere Stadt war nicht einfach nur eine Stadt, sie war eine Notwendigkeit und ein Schicksal.“
Der irische Autor Garrett Carr wählt eine ungewöhnliche Erzählperspektive für seinen Debutroman „ Der Junge aus dem Meer“. Die Wir- Perspektive bezieht den Leser mit ein und lässt ihn selbst zu einem Beobachter der Geschehnisse werden.
Schauplatz ist eine kleine Stadt an der Westküste Irlands. Hier wird eines Tages im Jahr 1973 ein Baby in einem halben Fass am Strand gefunden. Der ganze Ort ist fasziniert von diesem mysteriösen Fund, diesem „ Geschenk aus dem Meer“. Und so sind alle dankbar, als sich der Fischer Ambrose und seine Frau Christine des Kindes annehmen. Sie adoptieren den kleinen Jungen und geben ihm den Namen Brendan. Das Ehepaar hat schon einen Sohn, den zweijährigen Declan, und der reagiert höchst ungehalten mit einem „ Warum“ auf den Eindringling. Für ihn ist das Baby ein Störfaktor, der schleunigst wieder verschwinden soll. Und an dieser Haltung wird er sehr lange festhalten.
Auch zwischen Christine und ihrer unverheirateten Schwester Phyllis gibt es Reibereien. Die ältere Schwester fühlt sich benachteiligt, weil sie sich um den knurrigen alten Vater kümmern muss und kritisiert gerne an Christine herum.
Die Jahre gehen vorüber. Declan verfolgt eifersüchtig die Entwicklung seines jüngeren Bruders; beide gehen, älter geworden, getrennte Wege. Und Ambrose und seine Frau werden von Geldsorgen geplagt. Mit seinem kleinen Boot ist Ambrose bald nicht mehr konkurrenzfähig und muss immer weiter aufs Meer hinausfahren, um überhaupt noch einen Fang zu machen.
Zwanzig Jahre begleiten wir nun das Leben dieser Familie. Im Zentrum steht dabei die Rivalität der beiden Brüder und ihr Kampf um die Liebe des Vaters.
Gleichzeitig werden wir aber auch Zeugen der gesellschaftlichen Entwicklung im Ort. Die meisten Einwohner leben vom Meer; sie heuern entweder auf einem Fischkutter an, finden Arbeit in der Fischfabrik oder transportieren mit Lastwagen den Fang durchs Land. Die Arbeit ist hart und gefährlich, doch die meisten haben ihr Auskommen. Aber nun mit dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU, im Jahr 1973 ändert sich vieles. Während die irischen Bauern unbedingt in die EWG eintreten wollen, möchten die irischen Fischer ihre Gewässer auf keinen Fall mit anderen teilen. Unter den neuen Bedingungen gibt es bald keinen Platz mehr für kleine Fischer wie Ambrose. Und Ambrose muss einen Weg finden, wie er weiter für seine Familie sorgen kann. „ In Ambroses Jugend hatte Geldmangel noch ausgesehen wie in den Geschichtsbüchern: Arme Leute hatten damals keine Elektrizität, kein Bankkonto, keine Zähne, aber sie hatten auch keine Schulden, sie lebten jenseits des Geldes, …, unterstützt von Verwandten und der Gemeinschaft. Aber solche armen Leute gab es nicht mehr; alle hatten jetzt Geld, nur eben nicht genug. Geldmangel war zu etwas Bösartigem geworden,…Er machte sich im Kopf breit und ließ einen keine Ruhe,…Und es war fast unmöglich, darüber zu sprechen.“
Der Autor erzählt mit sehr viel Wärme und Humor eine sehr irische Geschichte. Es ist ein besonderer Menschenschlag, der hier lebt, geprägt von der kargen Landschaft und der Unberechenbarkeit des Meeres. „ Generation um Generation von Horizontbeobachtern, die lieber in eine wortlose Unermesslichkeit blickten als auch nur eine Sekunde lang in ihr Inneres.“ Einerseits wortkarg, andererseits immer für eine gute Geschichte zu haben. Und über allem das verbindende „ Wir“ , einer Gemeinschaft, die Anteil nimmt und zusammenhält.
„ Der Junge aus dem Meer“ ist ein wunderbarer Roman mit unverwechselbaren Figuren, voller Atmosphäre und unverhoffter Wendungen, sprachlich auf hohem Niveau. Es ist zu wünschen, dass der Autor seinem Debut noch viele Bücher folgen lässt.