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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Tasha
Wohnort: 
Braunschweig

Bewertungen

Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 15.06.2023
Tunnel
Krüger, Grit

Tunnel


ausgezeichnet

3000 Euro. So viel braucht Mascha, für das Ferienlager ihrer Tochter, die Heizkosten und ihre Fortbildung. Und deswegen nimmt sie die Stelle als Pflegehelferin an, auch wenn sie weiß, dass sie das nicht für lange machen möchte, dass es nichts mit ihren Träumen, mit ihr selbst zu tun hat. Aber hier hat sie ein Dach über dem Kopf und muss keine Deckenhöhle mit Teelichtofen für sich und Tinka bauen. Für eine Weile sitzt die Huhn vom Amt ihr nicht mehr im Nacken. Hier kann sie sogar heimlich Enders unterbringen, den ehemaligen Seemann und ihren Tröster, der sie auffängt, auch wenn er selbst zu kämpfen hat. Tinka fährt Roller in den Gängen und Mascha hilft dem alten Tomsonov heimlich einen Tunnel im Keller zu graben. Aber führt dieser auch in irgendeine Art von Freiheit?

Grit Krüger erschafft in ihrem Debütroman "Tunnel" den ganz eigenen Mikrokosmos des Pflegeheims, in dem Mascha mit ihrer Tochter strandet. Krüger gibt dabei nicht nur Mascha eine Stimme, sondern lässt auch Tinka, Enders und Tomsonov zu Wort kommen. Und durch dieses Ineinandergreifen der Perspektiven entsteht ein Mosaik, in welchem uns die Wünsche, Ängste und Bedürfnisse der verschiedenen Charaktere aufgezeigt werden. Es wird deutlich wie erwachsen Tinka agieren muss, wie unsicher sie sich in der Bindung zur Mutter fühlt und wie sie versucht das zu kompensieren, was in ihrem Leben fehlt. Auch Enders, der stets zu geben versucht, auch wenn er selbst am seinen Grenzen ist, hat mich sehr beeindruckt. Hochspannend fand ich die feinen Nuancen im Zusammenspiel der Figuren und habe sehr mit ihnen gefühlt und gelitten.

Ein großes Lob an Grit Krüger für diese große Beobachtungsgabe und das Erschaffen der authentischen Figuren.

Bewertung vom 11.05.2023
Mutters Stimmbruch
Mevissen, Katharina

Mutters Stimmbruch


ausgezeichnet

Mutter ist nicht mehr jung und ihr Körper funktioniert nicht mehr wie früher. Ihre Zähne schmerzen und sind lose und es wird schwer sich um das Haus und den Garten zu kümmern. Die Kinder sind lange schon weg, rufen drei Mal im Jahr an.

Aber Mutter hat ihre neun Sprachen und da steckt noch immer viel Leben in ihr. Sie lässt sich ihre Zähne ziehen, verlässt auch das Haus und die Verantwortung, die damit verbunden ist. Sie badet oben ohne im Schwimmbad, singt eine Arie vom Dreimeterbrett und beginnt eine Affäre mit der Stimme der Telefonauskunft und durchläuft einen Stimmbruch, der sie wieder zu sich selbst bringt.

Auf den ersten Seiten war ich mir etwas unsicher, was ich von „Mutters Stimmbruch“ halten soll, doch schnell hatte mich Katharina Mevissens ungewöhnliche Protagonistin in ihren Bann geschlagen. Heldinnen jenseits der fünfzig sind in Literatur noch immer eher selten und meistens kommen ihnen festgelegte Rollen zu. Umso erfrischender war es, hier über eine gealterte Frau zu lesen, die sich nicht in die Konventionen einfügt, die ihre Kämpfe auszufechten hat, aber nicht unglücklich ist und sich gegen alle Konventionen stellt. Familie ist für Mutter sehr in den Hintergrund getreten, weshalb die Bezeichnung oft fast unpassend wirkt. Ihr Körper macht ihr Schwierigkeiten, aber sie sieht ihn nicht als Feind und sie lebt ihre sexuellen Bedürfnisse ohne Scham aus. Versuchen, sie in die Spur zu bringen begegnet sie mit oft überraschender Vehemenz, schreckt auch vor Gewalt nicht zurück. Metaphern mischen sich mit der Realität, um die Lebenswirklichkeit dieser Figur abzubilden, die oft etwas Archaisches hat, fast wie ein Naturwesen anmutet, um dann wieder allzu menschlich zu sein. Für mich purer Lesegenuss.

Bewertung vom 04.05.2023
Felix
Brüns, Holger

Felix


ausgezeichnet

Es ist Mitte der achtziger Jahre. Tom wohnt in einer WG in Göttingen und absolviert seinen Zivildienst im Krankenhaus. Er engagiert sich politisch, genießt das Klima in seinem Freundeskreis, das geprägt ist von Diskursen über gesellschaftlich relevante Themen, wie den Ausstieg aus Atomenerige oder Wohnraumdebatten. Im Krankenhaus trifft er Felix, der zwei Jahre älter ist und ebenfalls in der autonomen Szene aktiv. Tom ist vom ersten Augenblick an fasziniert von ihm, denn Felix verkörpert für ihn viel von dem, was auch sein eigenes Lebensgefühl ausmacht. Er lebt in einer politisch sehr aktiven WG, ist fest in die Szene eingebunden.

Felix ist mit Katja zusammen, aber das steht der Entwicklung seiner Beziehung zu Tom nicht im Weg. Tom verliebt sich in Felix, in ihm kommt der Wunsch auf, ihn für sich zu haben, aber gleichzeitig sperrt er sich gegen dieses Besitzdenken, das seinen sonstigen Überzeugungen nicht entspricht. Und es funktioniert: Tom und Felix finden einen Weg zusammen zu sein, ohne sich gegenseitig einzuengen, auch wenn Tom dabei immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen hat und in seinem Freundeskreis das Gefühl aufkommt, Felix nutze ihn aus.

Dann kommt Felix der Verdacht, er könne sich mit HIV infiziert haben und als sich dieser Verdacht nach dem Test bestätigt, ändert sich die Situation des Paares. Sie ziehen zusammen und Tom wird immer mehr von Felix vereinnahmt. Sei Leben kreist um die Zweisamkeit und Felix‘ Bedürfnisse, während seine eigenen Interessen in den Hintergrund treten. Felix verlangt nicht direkt Aufopferung von ihm, aber natürlich hängt das Damoklesschwert der Krankheit immer über ihnen und Tom weiß nicht, wie viel Zeit er noch mit dem Menschen hat, den er liebt.
Er zieht sich aus der Szene zurück, sieht seine Freunde immer seltener und gibt seinen großen Traum, Schauspieler zu werden beinahe auf. Doch nach und nach kommt ihm ein Verdacht, der sein gesamtes Leben ins Wanken bringen könnte.
Sehr detailliert beschreibt Volker Brüns das politische Leben in Göttingen in den achtziger Jahren und lässt diese Zeit vorm Auge der Leser*innen auferstehen. Ich habe die Geschichte von Felix und Tom mit großem Interesse gelesen, fand es äußerst spannend, wie Felix‘ kaum wahrnehmbare Manipulationen Tom immer mehr in die Ecke drängen. Die Sprache ist besonders am Anfang eher nüchtern beschreibend und ich hätte mir manchmal einen etwas tieferen Einblick in Toms Gefühlswelt gewünscht. Insgesamt aber ein äußerst lesenswerter Roman, dessen Themen gerade wieder aktuell sind. Schon der zweite Roman aus dem Albino Verlag, der es mir total angetan hat. Ich werde das Programm auf jeden Fall im Auge behalten.

Bewertung vom 20.01.2023
Camanchaca
Zúniga, Diego

Camanchaca


sehr gut

Ein junger Mann ist mit der neuen Familie seines Vaters auf dem Weg zur peruanischen Grenze. Er gehört nicht wirklich dazu, so wie er generell noch nicht seinen Platz im Leben gefunden hat. In Chile lebt er mit seiner Mutter zusammen, die er liebt, die aber auch übergriffig ist und ihn nicht loslassen kann. Er hat Träume, kämpft dafür, aber es scheint, als hielte ihn etwas zurück. Im Gepäck hat er nicht nur seine schlechten Zähne, die in der Stadt an der Peruanischen Grenze behandelt werden sollen und sein Übergewicht, sondern auch Erinnerungen. Und daran haben Leser*innen teil, wenn sie bruchstückhaft in sehr kurzen Absätzen und Kapiteln beschrieben und manchmal nur angedeutet werden.

Diego Zúñigas „Camanchaca“ arbeitet mit kleinen Blitzlichtern, Bruchstücken von Situationen und den Gefühlen, die sie auslösen und webt damit doch einen zusammenhängenden Teppich aus Emotionen, die tief berühren. Als Leser*in ist man stets gefordert mitzudenken, um zu verstehen, in welcher der erzählten Zeiten man sich gerade befindet.

Ein ums andere Mal musste ich schlucken ob der Erlebnisse, die der Protagonist wegstecken musste. Da ist seine Mutter, die darauf besteht, dass er in ihrem Bett schläft, der Onkel, den vielleicht sein Vater bei einem Unfall getötet hat. Und die Tatsache, dass der Vater die Familie verlassen und eine neue gegründet hat. Camanchaca heißt auch der Nebel, der typisch ist für die Küste von Chile und so bleiben auch manche von den Ereignissen nebulös, lassen Interpretationsspielraum. Der Protagonist befindet sich in einem Niemandsland. Noch nicht verloren, aber dennoch haltlos, ohne sicheren Hafen.

Trotz seiner Kürze und der extrem knappen Abschnitte fiel es mir nicht immer leicht „Camanchaca“ zu lesen, und es hat mir viel Konzentration abverlangt. Aber die Erzählung hat eine enorme Stärke, die in Erinnerung bleibt.

Bewertung vom 20.01.2023
Matrix
Groff, Lauren

Matrix


sehr gut

"Sie kommt allein aus dem Wald geritten. Siebzehn Jahre alt, im kalten feinen Märzregen, Marie aus Frankreich. [..] Dass man sie vor die Hunde geworfen hat, muss sie erst noch beweinen." S. 9

Lauren Groff erweckt in ihrem Romen "Matrix" eine Marie de France zum Leben, die trotz wiedriger Umstände im lebensfeindlichen 12. Jahrhundert ihren Weg geht und Einfluss gewinnt.
Sie ist ein uneheliches Kind der Krone, groß und keine Schönheit und somit für die Heirat ungeeignet. Ausgerechnet die von ihr verehrte Königin Eleonore mit dem ungezähmten Herzen beschließt, dass sie den Hof von Aquitanien verlassen muss und schickt sie in ein abgelegenes Kloster im trüben England, das von Krankheit und Armut gezeichnet ist.
Marie hat zunächst das Gefühl, sie habe ein frühes Grab gefunden. Doch sie gibt nicht auf, verbündet sich mit ihren Schwestern, sucht sich Vertraute und verhilft dem Kloster zu Reichtum und Ansehen. Selbst gegen die Krone verteidigt sie es schließlich.
Groff zeigt Marie, die in der Dichterin Marie de France ein reales Vorbild hat, als eine starke Frau, die in einer von Männern dominierten Welt ein Sanktuarium für die Frauen schafft, die ihrem Kloster angehören. Sie ist klug, queer und eigenwillig, weiß sich in jeder Situation zu helfen und nutzt ihre Macht nicht aus.
Mit einer unglaublich starken und weiblich geprägten Sprache erschafft Groff eine Welt, in der Männer keine Rolle spielen, das Patriarchat zwar existiert, aber in der Welt des Klosters seinen Einfluss nur in sehr geringem Maße ausüben kann. Frauen sind es, die ihr Leben prägen: Eleonore, mit der sie eine Hassliebe verbindet, Nest die sich ihrer Lust annimmt und sie befreit und Wulfhild, die wie eine Tochter für sie ist.
Es war auf gewisse Art befreiend, diesen Roman zu lesen, in dem selbst im 12. Jahrhundert eine Frau sich selbst verwirklicht. Auch wenn Krankheit, Krieg und Tod eine große Rolle spielen, hat der Roman stark dystopische Züge. Groffs Sprache hat Kraft, trägt einen durch die Seiten, auch wenn ich mir manchmal einen etwas dichteren Plot gewünscht hätte. Dennoch hätte ich sehr gern mehr von diesen Geschichten, die historische weibliche Figuren so stark in den Mittelpunkt stellen.

Bewertung vom 18.01.2023
Anleitung ein anderer zu werden
Louis, Édouard

Anleitung ein anderer zu werden


ausgezeichnet

Ein anderer zu werden - inwieweit kann das funktionieren? Diese Frage lotet Édouard Louis in seinem Roman aus. Was macht unsere Identität aus, inwieweit können wir sie durch unsere Handlungen und Entscheidungen beeinflussen und mit welchen Konsequenzen ist es möglich ein altes Ich abzustreifen?
Eddy wächst auf dem Dorf bei Amiens auf, in einem heruntergekommenen Haus, in einer Familie in der das Geld knapp ist und die Unterhaltung aus dem Fernseher kommt. Die Kinder in seiner Schule quälen ihn, weil er anders wirkt als sie, ihnen fremd vorkommt und auch in seiner Familie fühlt Eddy sich nicht zugehörig. Erst als er Elena trifft, die Unmengen von Büchern liest, gebildet ist und sich für Kultur interessiert, sieht er einen Ausweg. Er wird von ihr und ihrer Familie aufgenommen, passt sich ihr an. Eddy wird zu Édouard, interessiert sich für Literatur und Kultur, versucht aufzuholen, was er in der Kindheit gelernt hat, trifft sich mit Männern, verliebt sich, beginnt zu studieren. Doch die Scham und der Wunsch auszubrechen bleibt sein ständiger Begleiter. Das Dorf ist noch zu nah, seine Rache nicht vollständig, wenn er es nicht schafft, das Dorf hinter sich zu lassen, allen zu zeigen, dass er es geschafft hat, auszubrechen.
Und so lässt er auch Elenas Familie hinter sich, geht nach Paris, schafft es, an der École normale aufgenommen zu werden und schließt Freundschaften, findet Menschen, die ihm als Wegbegleiter und Vorbild dienen, sucht nach Anerkennung und Ruhm, in immer höheren Kreisen, in dem Wunsch seiner Vergangenheit zu entkommen, von dem Wunsch beflügelt endlich Glück zu empfinden.
„Hatte ich begriffen, dass man, wenn man sich verändert nicht nur zu jemand anderem wird, sondern, dass man nicht mehr wie die anderen ist, dass man sie wegstößt, sie hinter sich lässt, ihnen gnadenlos den Rücken kehrt? Wurde ich zu einem Menschen, den man hassen musste?“ (S. 160)
Es hat mich erschüttert zu lesen, wie radikal Édouard Louis mit seinem alten Leben bricht, welche Anstrengungen er unternimmt, um immer wieder aus den Identitäten zu entfliehen in die er zunächst hineingeboren wurde, die er später für sich selbst geschaffen hat. Häufig ist es Wut und Scham, sogar Selbsthass, der ihn mit Altem brechen lässt, nur um sich in der neuen Welt in die er sich hineingekämpft hat nach kurzer Zeit wieder allein und nicht zugehörig zu fühlen. Er ist ein Chamäleon, kann sich anpassen und dennoch ist da tief in ihm ein zutiefst vulnerabler, aber auch wahrhaftiger Kern, der es ihm nicht erlaubt, vollkommen mit dem zu brechen, was ihn ausmacht. So wird er immer wieder zurückgerissen von lebensferner Dekadenz und von Lebensstilen, die ihm nur zum Schein entsprechen. Seine Handlungen scheinen bisweilen narzisstisch, wenn er offen zugibt, dass er Menschen liebt, weil sie ihm etwas nützen und gleichzeitig ist da dennoch eine tiefe Liebe zu spüren, selbst für seinen Vater, der fast nur Verachtung für ihn übrig hatte. Immer noch ist der Wunsch nach Verständigung da, wenn er diesen direkt anspricht und eine tiefe Sehnsucht nach der Geborgenheit, die er bei Elena empfunden hat.
„Anleitung ein anderer zu werden“ ist eine zutiefst persönliche Schilderung eines Prozesses von dem fast jede*r vermutlich irgendwann träumt. Was aber bedeutet es, diesen Traum tatsächlich in die Tat umzusetzen? Louis beschreibt die inneren Verluste, die Zerrissenheit, die dieser radikale und unvermeidliche Bruch mit sich bringt. Ein Buch, das mich gefesselt und mir an vielen Stellen Unwohlsein bereitet hat, und das ich doch jedem empfehle zu lesen.

Bewertung vom 18.01.2023
Hohe Berge
Stamm, Silke

Hohe Berge


ausgezeichnet

Zu denken, dass es mühsam werden wird, ein Buch zu lesen, das ausschließlich in Infinitivsätzen geschrieben ist. Trotzdem auch neugierig zu sein und das Thema, eine Skiwanderung in den Alpen aus Sicht einer Frau mittleren Alters spannend zu finden. Auf den ersten Seiten noch öfter über die Satzkonstruktionen zu stolpern und dann in einen wunderbaren Lesefluss zu kommen und die Erzählweise zu lieben. Mit der Protagonistion zu fühlen, die sich anfangs als einzige Frau in ihrer geführten Gruppe aus sechs Personen behaupten muss. Die Dynamiken innerhalb dieser Gemeinschaft mit Spannung zu beobachten. Zu lieben wie detailreich die Geschichte erzählt ist, wie gut man*frau sich das Gefühl einer Abfahrt nach einem mühsamen Aufstieg vorstellen kann oder das karge Leben auf den Hütten, die Kälte, die klare Luft.
Achtung für die Protagonistin zu empfinden, die an ihre Grenzen kommt, die Hürden meistert, klug und widerstandsfähig ist und immer ganz bei sich bleibt. Auch die unterschwellige Bedrohung zu spüren, die von den Bergen ausgeht, zu wissen, dass es Abgründe gibt, Lawinen, Unfälle keine Seltenheit sind.
Sich schließlich zu wünschen, dass "Hohe Berge" von Silke Stamm noch mehr Seiten hätte, weil es einen so hineingezogen hat, dass eins diese Gruppe jetzt nicht mehr verlassen möchte. Sich ein bisschen so zu fühlen, als sei man dabei gewesen bei dieser Überquerung und hätte ebenfalls etwas geschafft.
Sich vorzunehmen, es weiterzuempfehlen, weil es so besonders und fesselnd war

Bewertung vom 02.11.2022
Erbgut
Scheiflinger, Bettina

Erbgut


sehr gut

Johanna bekommt ihr Kind mitten im Krieg, während eines Fliegerangriffs. Gerade noch hört sie von der Hebamme, dass es ein Junge ist, dann muss sie hinunter in den Keller. Und dort in der Dunkelheit fällt ihr auf, dass sie ihr Neugeborenes in der Küche zurückgelassen hat.
Die Ich-Erzählerin ist das zweite Wunschkind ihrer Eltern. Sie kommt zu früh, wird trotzdem ersehnt und erwartet. Ihre Mutter strahlt.
Sophia möchte die Geborgenheit des Krankenhauses mit ihrem Kind nicht verlassen, auch wenn ihr Ehemann auf ihre Rückkehr drängt. Ihr Kind wird gewickelt, sie kann die Nächte durchschlafen.
Drei sehr unterschiedliche Erfahrungen von Mutterschaft und doch wird sich herausstellen, dass alle drei Frauen miteinander verbunden sind. Sofia und Johanna sind die Großmütter der Ich-Erzählerin und um sie und ihre Töchter Rosa und Frieda, sowie Johannas Sohn Arno dreht sich Bettina Schleiflingers „Erbgut“. Dabei erhaschen wir von den vielseitigen Lebenserfahrungen der Protagonist*innen nur kurze Augenblicke. Wie kleine Blitzlichter lässt die Autorin die Szenen aufleuchten, so dass Lesende erst nach und nach die Zusammenhänge begreifen und die zeitliche Abfolge selbst erschließen müssen. Die Autorin verlangt uns hier einiges ab und es gibt wenig Hilfestellung, wenn man von einer Zeitebene in die andere geworfen wird, wobei Themen wie Mutterschaft, Verlust eines Kindes, Partnerschaft und Selbstfindung durch alle Generationen immer wieder auftauchen.
Ich hatte Schwierigkeiten mich auf diese Erzählweise einzulassen, habe mir mit Bleistift einen kleinen Stammbaum auf die erste Seite des Buches gezeichnet, den ich immer wieder konsultierte. Im Nachhinein denke ich, dass es vermutlich besser gewesen wäre, sich durch die Erzählung treiben zu lassen, eher darauf zu achten, welche Elemente durch die Generationen immer wiederkehren, welche Gefühle von Scham, Verlustängsten und Enttäuschung sich durch alle Generationen ziehen, vermutlich sogar vererbt werden. Hierfür war mir dann aber die Themenfülle häufig zu groß und die Wechsel zwischen den kurzen Einblicken gerieten so schnell, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich in die Personen einzufühlen. Einiges ist dennoch hängengeblieben und wirkt nach, wie die starken Anfangsszenen oder Johannas Geschichte, die mit der Verachtung der anderen Dorfbewohner leben muss, nachdem ihr Mann als Nationalsozialist verurteilt wurde. Auch Arno und sein Aufbegehren gegen den strengen Vater bleiben mir in Erinnerung. Es war spannend, den Charakteren immer wieder in unterschiedlichen Altersstufen zu begegnen
Auch hat der Roman Gedanken darüber bei mir angestoßen, welche Erfahrungen wir von unseren Elterngenerationen übernehmen, ohne darüber zu wissen. Welche Ängste und Wünsche wir vielleicht in uns tragen, die nicht unsere eigenen sind.
Auch wenn mir die formelle Umsetzung also Probleme bereitet hat, fand ich das Konzept des Romans überaus spanend.

Bewertung vom 28.09.2022
Die Summe des Ganzen
Uhly, Steven

Die Summe des Ganzen


ausgezeichnet

Padre Roque de Guzmán sitzt im Beichtstuhl seiner Pfarrkirche in Madrid und harrt der Sünder und Sünderinnen, die ihn aufsuchen werden. Die meisten von ihnen kennt er und weiß, was sie auf dem Herzen haben. Da ist José María, der immer wieder Bordelle besucht und seine Frau betrügt. Oder Señóra Barros, mit ihrer Wut auf ihren toten Mann. Er legt ihnen Vaterunser und Rosenkränze auf und erteilt die Absolution.

Doch an diesem Tag sitzt ein junger Mann auf der anderen Seite des Gitters, dessen Sünde offenbar so ungeheuerlich ist, dass er sie nicht gleich beichten kann. Erst nach weiteren Besuchen kristallisiert sich heraus, um das es geht. Lucas Hernández fühlt sich zu seinem Nachhilfeschüler hingezogen, der noch ein Kind ist. Und seine Geständnisse erinnern den Padre zum ersten Mal seit langer Zeit daran, dass auch er selbst nicht ohne Sünde ist, wecken Begierden in ihm, die lange unter der Oberfläche schlummerten.

„Die Summe des Ganzen“ von Steven Uhly greift ein wichtiges Thema auf, über das sich schwer sprechen lässt und über das von der katholischen Kirche schon viel zu oft ein Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Es ist manchmal fast unerträglich, sich hier in der Gedankenwelt eines Päderasten zu finden, dessen Rechtfertigungen und Verharmlosungen zu lesen. Gleichzeitig wird in Uhlys Roman auch das unerträgliche Leid deutlich, das durch diese Menschen und ausgelöst wird. Und das noch dadurch vertieft wird, dass ihre Taten verschleiert werden und wurden.
Trotz der Kürze der Geschichte werden hier auch noch andere Themen verhandelt, wie die Frage ob Rache jemals gerechtfertigt sein kann und wie ein Mensch, der unerträgliches erlebt hat, wieder in ein lebenswertes Leben zurückfinden kann. Was braucht es, damit ein Mensch, dessen Leben bis in die Grundfesten erschüttert wurde, wieder Frieden finden kann?
Ich habe den Roman mit großer innerer Anspannung gelesen und muss mich letztlich vor der Kunstfertigkeit verbeugen, mit der die Geschichte aufgebaut wurde und durch die erst nach und nach klar wird, was wirklich die Hintergründe sind. Es macht wütend zu lesen, auf welche Weise Taten vertuscht werden, auch wenn man sich der Gefahr bereits bewusst ist.
Meiner Meinung nach ist es eine der Aufgaben von Literatur, mutig auf Missstände hinzuweisen und diese aufzudecken und das geschieht hier in eindrucksvoller Weise. Gleichzeitig eine Geschichte, die mich sprachlich überzeugt hat, und die menschlichen Abgründe, aber auch tiefes Leid mit großer erzählerischer Kraft darstellt. Absolute Empfehlung.

Bewertung vom 18.09.2022
Bleib, solang du willst
Florian, Ilinca

Bleib, solang du willst


sehr gut

Martha muss feststellen, dass ihr Ehemann als Partner und Vater ein Versager ist und gleich mehrere Affairen gleichzeitig hat. Gemeinsam mit ihrem acht Monate alten Sohn Emil zieht sie bei ihrer älteren Schwester Charlotte in Berlin ein. Martha und Charlotte könnten gegensätzlicher nicht sein. Während Martha Jazzgesang studiert, sich von ihrem Herzen leiten lässt und ein wenig zum Chaos neigt, ist Charlotte eine perfekt organisierte business Frau.
Anfangs hatte ich die Befürchtung, dass hier zwei Lebensentwürfe gegeneinder ausgespielt werden, aber das hat sich nicht bewahrheitet. Zunächst begegnen sich die Schwestern mit Respekt und erkennen, was die jeweils andere leistet. Leider entfernen sie sich dann eher voneinander, als Charlotte mehr und mehr in Marthas Leben eingreift. Martha muss sich emanzipieren und als Mutter und Künstlerin wieder ihren eigenen Weg gehen. Diese Selbstbehauptung fand ich absolut glaubhaft dargestellt. Es wurde deutlich, wie selbst scheinbar selbstverständliche Dinge, wie ein Vorstellungsgespräch oder ein einzelner Auftritt der jungen Mutter eine planerische Meisterleistung abverlangen. Gleichzeitig wird klar, wie sehr Martha ihren Sohn dennoch als Bereicherung empfindet. Am Ende gibt es eine schmerzhafte Wendung, mit der ich nicht gerechnet habe.
Der Ton den Ilinca Florian anschlägt, ist leicht und locker, ohne sprachliche Experimente und macht die Geschichte sehr zugänglich. Auch wenn ich mir letztlich gewünscht hätte, dass die beiden Schwestern für sich einen Weg ohne Vorhaltungen und mit größerer Nähe finden, ein angenehmes Leseerlebnis.