Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ulrikerabe
Wohnort: 
Österreich

Bewertungen

Insgesamt 195 Bewertungen
Bewertung vom 29.03.2022
Erschütterung
Everett, Percival

Erschütterung


sehr gut

Zack Wells ist Paläontologe und lehrt an der Universität. Er ist mit Meg verheirate, das Ehepaar hat eine zwölfjährige Tochter, Sarah. Die Paarbeziehung hat sich auseinandergelebt. Obwohl Zack eher ein griesgrämiger Eigenbrötler ist, hat er einen besonderen Draht zu seiner Tochter. Doch dann häufen sich zunächst kleine Vorkommnisse, Sarah wirkt unaufmerksam, vergesslich, sie beginnt schlecht zu sehen. Die Diagnose Batten-Syndrom erschüttert Zachs Grundfesten. Sarah wird immer mehr in ein dementes Stadium entschwinden und nie das Erwachsenenalter erreichen.

Zeitgleich mit Sarahs ersten Krankheitssymptomen passiert Zack noch etwas Seltsames: Eingenäht in einem aus zweiter Hand erstandenem Kleidungsstück findet er einen handgeschriebenen Zettel mit einem Hilferuf. Bei seinen Recherchen stößt er auf verbrecherische Machenschaften, entführte mexikanische Frauen, die als Arbeitssklavinnen gehalten werden.

„Ich hatte eine Familie, Frau und Tochter, Meg und Sarah.“

Der US-amerikanische Schriftsteller Percival Everett zeigt in seinem Roman Erschütterung einen Mann, dessen Welt durch ein unaufhaltsames und unabänderliches Ereignis vollkommen verändert wird. Mit dem Wissen, dass die Tochter unheilbar erkrankt ist, macht sich ein Mann auf, hinaus aus seiner ganz eigenen Komfortzone, hinaus aus seiner akademischen Nische. Er weicht der Wirklichkeit aus. Die eigene familiäre Tragödie und die damit verbundene Verzweiflung und Hilflosigkeit stößt in ihm etwas an, sich für die Rettung der entführten Arbeiterinnen zu engagieren.
Das Buch ist kunstvoll erzählt, die Abschnitte oft unterbrochen mit Wissenssplittern zu paläontologischen Funden, Schachzügen, Zeilen aus den Kindertotenliedern. Vielschichtig, tiefgehend, beeindruckend, völlig ohne Pathos und zum Ende hin unglaublich spannend.

Bewertung vom 09.10.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


sehr gut

Eine Familie in Rumänien, beide Eltern haben keine Arbeit, die Kinder Manuel und Angelica wenige Perspektiven. Da beschließt die Mutter Daniela, heimlich, zu gehen. Nach Italien, um dort als Altenpflegerin zu arbeiten. Bald verabschiedet sich auch der Vater. Manuel, der zu dieser Zeit ein pubertierender Jugendlicher ist, findet keinen Halt. Bis ein Unfall seine Mutter wieder zurück zur Familie führt.
Marco Balzano spricht hier für viele Frauen, für viele Familien, die ein ähnliches Schicksal teilen wie Daniela und ihre Kinder. „Wenn ich wiederkomme“ hat ein wichtiges und notwendiges Thema zum Inhalt. Die Arbeitsmigration osteuropäischer Frauen hinterlässt eine Leere in den Familien. Sie selbst arbeiten und leben weiterhin in prekären Verhältnissen, oft schwarz, über- und unterqualifiziert gleichermaßen, von der Hand in den Mund, dem Wohlwollen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ausgeliefert. In Italien hat sich offenbar sogar das Wort „Italienkrankheit“ etabliert, welches die physischen und psychischen Belastungen der Pflegerinnen zusammenfasst. Mehr dazu kann man auch im Nachwort des Autors zum Buch lesen.
„…keiner kümmert sich um die, die sich kümmern…“
In diesem Roman erfahren wir von Manuel, Daniela und Angelica, wie sie mit diesem Leben zurechtkommen müssen. Daniela muss wohl so sein, nach außen hin abweisend, um ihre Schuldgefühle zu verbergen. Damit macht sie es aber der Leserin auch nicht leicht, mit ihr mitzufühlen. Mit ihrem Fortgehen sichert Daniela zwar finanziell die Zukunft ihrer Kinder ab, die emotionale Leere lässt sich dadurch nicht füllen. Entfremdet kehrt sie wieder, es ist ein schwieriger Annäherungsprozess, die Distanz und Sprachlosigkeit vorherrschend. Die Entfernung ist für die Leserin allzu deutlich, das mag mit ein Grund sein, warum ich zwar die Personen und ihr Handeln nachvollziehen kann, ich aber nicht berührt wurde.

Bewertung vom 09.10.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


sehr gut

Glasgow 1980, die Familie Bain lebt in prekären Verhältnissen. Agnes Bain hat zwei Kinder aus erster Ehe. Ihr Mann „Big Shug“ ist Taxifahrer und einer der nichts anbrennen lässt. Shuggie ist der gemeinsame Sohn. Alle hausen sie bei Agnes‘ Eltern, die es nicht verwunden haben, dass Agnes ihren soliden katholischen Mann gegen einen unzuverlässigen Draufgänger eingewechselt hat. Nichts von dem was sich Agnes erträumt hat, ist eingetreten. Als die Familie von Glasgow in den tristen Bergbauort zieht und Shug Agnes und die Kinder im Stich lässt, wendet sich Agnes immer mehr und mehr dem Alkohol zu.
„Shuggie Bain“ und der Autor Douglas Stuart haben eine ähnliche Geschichte. In dem Roman verarbeitet der schottische Autor seine eigene Kindheitsgeschichte. Und das mit einer Eindringlichkeit und berührender Sprache. Nicht von ungefähr hat Stuart für dieses Buch den Man Booker Prize 2020 erhalten.
Es ist trist, es ist schonungslos, es ist berührend. Aber es erschlägt einen nicht mit der Betroffenheitskeule. "tell it like it is" und das sprachlich gekonnt, wenn Stuart erzählt. Mit dem Versuch der Übersetzerin den Glasweger Ton zu treffen habe ich mich arrangiert.
„Glück is dat Einzige, was uns ausse Bredullje hilft.“
Vom Glück kann keine Rede sein, mitten in der Ära Thatcher. Die Menschen trifft die volle Härte dieser Regierung einer strikten Wirtschaftspolitik. Arbeitslosigkeit, mangelnde Ausbildung, keine finanzielle Absicherung, schlicht Chancenlosigkeit, die vor allem Frauen und Kinder betrifft. Das wöchentliche Hangeln von „Stütze zu Stütze“. Agnes Bain gerät in einen Kreislauf von Alkohol, Depression, sozialer Isolation und ein Umfeld, das ganz genauso ist.
Im Grunde interessiert sich niemand für Menschen wie Agnes. Sie sind peinlich, unangenehm, nichts wo man anstreifen möchte, sprichwörtlich. Mit ihnen ist kein Staat zu machen. In der Ära Thatcher bestimmt nicht. Selbst in der Familie ist sich jeder selbst der Nächste. Die Tochter Catherine entkommt früh durch Heirat den Verhältnissen und zieht nach Südafrika. Alexander vergibt sich die Chance auf ein Kunststudium, schafft aber letztlich auch den Absprung. Der einzige Halt, der Agnes bleibt ist Shuggie. Schon als Kind lernt der Junge mit den Stimmungsschwankungen der Mutter umzugehen, Geld auf die Seite zu legen, damit Agnes nicht alles in Bier und Schnaps umsetzt. Dazu ist Shuggie „anders“, feinfühlig, auch körperlich nicht. „männlich genug“. Auf seinen schmalen Schulten lastet eine große Verantwortung für seine alkoholkranke Mutter. Es ist ein Roman über eine sehr intensive Mutter-Sohn-Beziehung. Letztlich ist aber auch die allergrößte Liebe eines Kindes zur Mutter machtlos gegen die toxische Spirale der Sucht.

Bewertung vom 26.08.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


sehr gut

Benjamin, Nils und Pierre, nach langen Jahren der Abwesenheit fahren die drei Männer zum letzten Mal zu ihrem ehemaligen Sommerhaus. Es war der letzte Wunsch ihrer Mutter, dass deren Asche dort am See verstreut wird. Die Brüder haben sich voneinander entfernt. An diesem Ort der Kindheit kommen sie wieder zutage: unverarbeitete Konflikte, ungesagte Erinnerungen.
Der schwedische Schriftsteller Alex Schulmann erzählt in seinem Debütroman von den „Überlebenden“, von der Vergangenheit bis ins Heute und vom Heute in Rückwärtsschritten, bis sich jetzt und damals annähern.
Wie wuchsen diese Jungs auf? Die Eltern waren Alkoholiker, Akademiker jedoch ohne jeglichen Ehrgeiz und Antrieb. Ein ständiges Schwanken zwischen dem Überschwang des Vaters und der herablassenden Gefühlskälte der Mutter. Es bahnt sich etwas in diesem letzten Sommer damals in dem roten Holzhaus am See. Etwas das so einschneidend ist, dass auch die schon längst erwachsenen Brüder davon zehren.
Die abwechselnd vorwärts und rückwärts gerichteten Kapitel lassen eine gewisse Dynamik entstehen. Die endgültige Tragweite und Tragik des Geschehenen entfalten sich erst auf den letzten Seiten.
„Das Gewicht all dessen, was in diesem Moment passiert, ist groß. Doch das meiste ist längst geschehen. Was sich hier…abspielt…ist nur der letzte Ring auf dem Wasser, der am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt ist.“
Wenn ein Stein ins Wasser fällt, sehen wir auf der Oberfläche noch einige Zeit die Kreise, die der Einschlag mit sich zieht. Doch der Stein selbst liegt schon lange verborgen am Grunde des Sees.
Habe ich zunächst noch überlegt, worauf der Autor eigentlich mit seiner Geschichte hinauswill, was das Besondere - abgesehen von der Komposition der Erzählung, die fand ich von Anfang an genial - an dieser Geschichte sein sollte, kommt eine völlig überraschende Wendung, die alles in ein anderes Licht rückt.
Ein großartiges Manöver, das nur ein Risiko mit sich bringt: beinahe hätte mich der Autor ab der Hälfte des Buches verloren.
„Die Überlebenden“ ist also kein Buch für Ungeduldige. In diesem Buch über Familie, Zusammenhalt und Schuld läuft es am Ende auf eines hinaus: Versöhnung.

Bewertung vom 03.07.2021
Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz
MacDonald, Andrew David

Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz


ausgezeichnet

Zelda ist 21 Jahre alt. Sie lebt mit ihrem Bruder Gert in einer Wohngemeinschaft. Sie hat einen Freund und eine beste Freundin und einen Teilzeitjob in der Bibliothek. Zelda interessiert sich brennend für die Wikinger, deren Geschichte und Bräuche und deren Krieger.
Klingt alles ganz „normal“, ist es aber nicht. Zelda ist aufgrund des Fetalen Alkoholsyndroms kognitiv eingeschränkt. Doch Zelda ist weder schwach noch dumm, in ihr steckt gehörig viel Mut und Lebensweisheit. Und das ist gut so. Denn ihr Bruder Gert, der sich eigentlich um sie kümmern sollte, hat sich mit den falschen Leuten eingelassen und steckt nun in ziemlichen Schwierigkeiten.
„Jeder Tag ist eine Schlacht, mein Herz“, so lautet der Titel des Debütromans von Andrew David MacDonald. Der kanadische Schriftsteller stellt uns eine ganz besondere Protagonistin vor. Zelda muss man einfach in sein Herz schließen. Die junge Frau, deren Leben von Kindheit an kein einfaches war, ist so ein starker Charakter, liebenswert und mutig.
„Einem festen Plan zu folgen ist wichtig, damit alle wissen, wo man ist, und damit man immer weiß, was zu tun ist.“
Zeldas Tagesablauf hat ein gewisses Grundgerüst, das gibt ihr Halt und Sicherheit. Als Zeldas Bruder Gert in Schwierigkeiten gerät, weiß Zelda aber intuitiv was zu tun ist und schmiedet wahrlich einen Wikingerschlachtplan.
Zelda ist die Heldin ihrer eigenen Legende. Ich feiere Zelda, die Heldin dieses Buches, die ich umarmen möchte, die mich zu Tränen rührte, von der ich alles und noch mehr lesen wollte!

Bewertung vom 24.05.2021
Die dritte Frau
Fleischhauer, Wolfram

Die dritte Frau


ausgezeichnet

Liebe und Kunst, Fakten und Fiktion. Wo beginnen, wo hört es auf. Grenzen verschieben sich. Wie geht ein Autor mit seinem eigenen Werk um.
Der deutsche Schriftsteller Wolfram Fleischhauer greift hier in die vollen. Sein neuester Roman „Die dritte Frau“ ist nicht nur die Aufarbeitung des eigenen Werkes, seinem Erstling „Die Purpurlinie“ und eine Art Fortsetzung dieses Debüts. Es ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben und gleichzeitig eine höchst spannende Suche nach Antworten. Ein Gemälde, ein historischer Background, eine Frau, Südfrankreich, eine fikitve Lösung eines Rätsels.
Auch wenn der vorliegende Roman sich immer wieder auf einen lang zurückliegenden Vorgänger beruft, lässt sich das Buch ganz ohne Vorkenntnisse lesen. Es entwickelt einen feinen Sog. Schön und genießerisch zu lesen.

Bewertung vom 10.05.2021
Sommer der Träumer
Samson, Polly

Sommer der Träumer


sehr gut

Es ist der Beginn der 1960er Jahre. Die junge Erica Hart und ihr Bruder Bobby verlassen nach dem Tod ihrer Mutter London, um eine Zeit lang auf Hydra zu verbringen. Auf der griechischen Insel haben sich Menschen aus aller Welt versammelt, um sich dort künstlerisch zu verwirklichen. Epizentrum dieser kreativen Enklave ist das Haus von Charmian Clift und ihrem Ehemann George Johnston. Das australische Schriftstellerpaar scheint mit Hydra fest verwurzelt, in ihrem Haus wird gefeiert, getrunken, gestritten, geliebt, gelacht und geweint.

In ihrem Buch „Sommer der Träumer“ fängt die der englische Schriftstellerin Polly Samson die Atmosphäre eines griechischen Sommers und das ganz besondere Lebensgefühl einer Generation ein.
„Das Schiff wendete, und da lag sie! Trara, wie mit einem Tusch, von der Sonne entflammt und von den Göttern aus kahlem Stein heraufbeschworen. Ein Theater für Träumer.“
Für die achtzehnjährige Erica beginnt auf Hydra ein neues Leben. Sie wendet sich intensiv der charismatischen Charmian zu. Charmian ist praktische und mütterliche Ratgeberin für Erica, eine Inspiration und eine Mahnerin, das junge Leben nicht einem Mann unterzuordnen. Dabei ist Charmians Ehe mit George äußerst kompliziert und von gegenseiteigen Abhängigkeiten geprägt.
Das Ringen um die künstlerische Anerkennung ist eines der Hauptmotive dieses Buches. Gleichzeigt lebt das Buch von den intensiven Beschreibungen der sommerlichen Kulisse. Die griechische Hitze ist nahezu greifbar, alles geht etwas langsamer. Und ganz en passant erzählt Polly Samson von der legendären Liebesgeschichte eines kanadischen Poeten und einer wunderschönen Norwegerin.
„Leonard schiebt den Stuhl zurück, geht mit großen Schritten zur offenen Ladentür und reißt sich die Schirmmütze vom Kopf, als Marianne ins Licht tritt. - Magst du dich nicht zu uns setzen, fragt er. Wir sind hier draußen.“
Wie Vögel auf dem Drahtseil, jede(r) der Männer und Frauen in diesem Roman versucht auf eine Weise zu frei sein. Liebe und Betrug, Lebensfreude und Verlust, gleichbleiben, sich verändern. Erica wird mit diesen Gegensätzlichkeiten erwachsen. Gegensätzlich ist auch das Buch in den Emotionen, die es erweckt. Das Buch ist ein Sommerbuch, ein Wohlfühlbuch, macht Sehnsucht auf Meer und ein bisschen mehr. Es ist eine Hommage an das Künstlerleben, es macht ein wenig wehmütig. Vor allem aber macht es mich neugierig auf das Werk von Charmian Clift, von der heute leider nichts mehr verlegt wird. Hier hat Polly Samson hoffentlich einen Stein ins Rollen gebracht.

Bewertung vom 08.05.2021
Genug
Dalsgaard, Louise Juhl

Genug


ausgezeichnet

In dem Sommer, in dem sie ihren Schulabschluss hat, beschließt sie: „Ab heute will ich gesund leben, Sport treiben und abnehmen.“ Sie hat Pläne, die sich durchaus vernünftig anhören. Sie will studieren, will klug sein, mit Verstand und dem Herzen. Neun Monate später ist ihr das Leben entglitten, leidet unter Essstörungen, wiegt unter 4o Kilogramm.
Es ist eine Geschichte einer obsessiven Sucht, die Louise Juhl Dalsgaard hier erzählt. Ist es ihre eigene, oder nur sehr scharf beobachtet, einerlei. Die dänische Schriftstellerin legt hier mit ihrem 2017 erschienen Debüt „Genug“ das Porträt einer jungen Frau an, das besonders ist in Sprache, Form und Inhalt. Es sind Erinnerungen, Gedankensplitter der jungen Frau zu ihrer Kindheit, ihrem Erwachsenwerden, ihrem Leben mit der Krankheit, dem Verhältnis zu Mutter und Vater, den toxischen Beziehungen zu Männern. Unterbrochen werden diese oft nur wenige Zeilen langen Segmente von Therapieberichten behandelnder Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter, die dem ganzen einen höchst authentischen Anstrich geben.
Schon als Kind verspürt die Protagonistin eine seltsame Distanz zu ihrem Körper.
„In einem Sommer taufe ich meine Knie. Das da und das da, nenne ich sie…Viele Jahre lang sind meine Knie das Einzige, was mich mit mir verbindet.“
Das da und das da!
Schon immer wich die Mutter Gesprächen aus, trägt viel Ungesagtes mit sich herum, wie eine russische Puppe, gefüllt mit sich, gefüllt mit sich und ganz tief drinnen die Tochter wie eine Puppe. Der Vater beginnt gleich gar keine zu führen. Verständnislos und hilflos sind die Eltern mit der Situation. Sie sind wie Außenstehende. Wie also sollten sie klar kommen mit der Krankheit der Tochter, wenn diese selbst keinen Grund nennen kann oder mag.
„Mein Gehirn möchte gesund sein, mein Körper beharrt darauf, dass ich es nicht wert bin.“
Ihr Bruder ist eine Stütze, weil er unverblümt und geradeheraus ist. Mit ihm schließt sie – initiiert von ihrem Sozialarbeiter - einen Vertrag, nicht aufzugeben.
Handschriftlich steht dazu nach den Unterschriften: Kämpfe, Louise – Am Ende wartet das Leben
„Fast jeden Tag spaziere ich runter zum See. Da stehe ich dann und rufe: Dass ich MEHR haben will, obwohl ich mehr als GENUG habe.“
Dieses Buch ist einschneidend, berührend. Ein Aufschrei, aber auch ein Zeugnis von Stärke. Besonders und beeindruckend.

Bewertung vom 22.04.2021
Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1
Mohlin, Peter;Nyström, Peter

Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1


ausgezeichnet

Karlstad, Schweden 2009: Die junge Emelie Bjurwall kommt nach einer Partynacht nicht mehr nach Hause. Spurlos bleibt sie verschwunden. DNA-Spuren machen Billy Nerman zum Hauptverdächtigen. Doch ohne Leiche kann ihm nicht eindeutig nachgewiesen werden, Emelie ermordet zu haben.
Baltimore; USA, 2019: John Adderly ist Undercover Agent beim FBI und ermittelt mit einer Tarnidentität gegen die nigerianische Drogenmafia. Nur knapp überlebt er, als seine Tarnung auffliegt. Im Zeugenschutzprogramm will John unbedingt nach Schweden, dem Land, in dem er geboren wurde. Mit einem neuen Lebenslauf tritt John als Fredrik Adamsson seinen Dienst im Karlstad bei dem Cold Case Team an, dass den Fall Emelie Bjurwall neu aufrollt, um Billy Nerman endgültig zu überführen. Was nur John weiß: Billy ist sein Halbbruder, der andere Sohn seiner Mutter.
Der Kriminalroman „Der andere Sohn“ entstammt der schriftstellerischen Zusammenarbeit der beiden Schweden Peter Mohlin und Peter Nyström. Mir gefiel dieser vielschichtige Kriminalroman außerordentlich gut, der zunächst auf zwei Zeitebenen spielt, bis die Handlungsstränge um das Verschwinden von Emelie und dem Werdegang des ehemaligen FBI Agenten John Adderly zusammengeführt werden.
„John! Diesmal musst du nach Hause kommen.“
John folgt dem verzweifelten Aufruf seiner Mutter und muss alsbald gut abwägen zwischen familiärer Loyalität, beruflicher Verpflichtung und der eigenen Sicherheit.
Mich konnte Plot und Auflösung überraschen und überzeugen, und das Finale verspricht, dass Johns Geschichte noch nicht auserzählt ist. Sehr feine Sache!

Bewertung vom 23.03.2021
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Schröder, Alena

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid


sehr gut

Berlin 1942: Senta Goldmann katalogisiert für ihren Schwiegervater eine Reihe von Gemälden, die der jüdische Kunsthändler den Nationalsozialisten übergeben muss. Es ist der Vorabend seiner Deportation. Von den Bildern und der Liste verliert sich nach dem Krieg jede Spur. Jahre später erinnert sich Senta an die Werke, vor allem an das eine mit folgenden Worten: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid, von Johannes Vermeer….
Berlin, heute: Hannah arbeitet an ihrer Doktorarbeit, hat eine Affäre mit ihrem Professor und einmal pro Woche besucht sie ihre 94-jährige Großmutter Evelyn in der Seniorenresidenz. Zufällig entdeckt Hannah dort einen Brief einer israelischen Anwaltskanzlei, indem es um Restituierung eines Gemäldes aus ehemals jüdischem Besitz geht. Evelyn will mit der Sache nichts zu tun haben. Doch Hannah beginnt nachzuforschen und erfährt von einer Familiengeschichte, die bislang verschwiegen wurde.
Der Journalistin und Autorin Alena Schröder ist ein eingängiger und stimmiger Generationenroman gelungen, der sich von den 1920er Jahren bis zu unseren heutigen Tagen erstreckt. Da ist in Rostock die junge Senta, die nach der Geburt ihrer Tochter Evelyn nicht mehr die „Kleene“ des ehemaligen Fliegerasses sein will und ihre Familie verlässt, um nach Berlin zu gehen. Evelyn, die Ärztin geworden ist, und ihrer eigenen Tochter Sylvia gegenüber immer das Gefühl hatte ihr etwas schuldig geblieben zu sein. Zu ihrer Enkelin Hannah verspürt sie eine innige Bindung, die nach dem frühen Tod von Sylvia noch stärker wurde, aber Evelyn ihre Gefühle nur selten wirklich preisgibt. Hannah sucht noch nach ihrem Platz. Als die junge Frau sich mit der Geschichte ihrer Urgroßmutter auseinanderzusetzen beginnt, ist sie schließlich auch in der Lage sich in ihrem Leben zurechtzufinden, anzukommen.
Es sind vier eigenwillige Frauen mit unterschiedlichen Lebensmodellen. Es geht stark um die Zufriedenheit – oder das genaue Gegenteil - von Mutterschaft. Mütter, Töchter, Enkeltöchter müssen sich hier in unterschiedlichsten Konstellationen zusammenraufen. Leitmotiv ist ein verschwundenes Gemälde, vernehmlich ein Vermeer, und doch, es ist kein Kunstroman, auch keine Jagd nach einem Schatz. Niemals könnte die Rückerstattung eines Bildes das Unrecht der Nazis, das an Millionen Menschen verübt wurde, wiedergutmachen. Doch hier ist es auch ein Symbol für die Wiedergutmachung im Kleinen, die Aussöhnung mit einer komplizierten Familiengeschichte.