Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
leseleucht
Wohnort: 
Alfter

Bewertungen

Insgesamt 171 Bewertungen
Bewertung vom 04.05.2025
Die innere Ordnung
Siehl, Harald

Die innere Ordnung


sehr gut

Zwischen Interessant und Merkwürdig
Vera ist im Nachkriegsdeutschland der 50er Jahre alleinerziehend und muss sich und ihren Sohn mit zwei Jobs über Wasser halten. Der Mann ist im Krieg geblieben. Da lernt sie den Verwaltungsbeamten Eberhard kennen. Ihn umgibt eine gewisse Anziehungskraft, aber auch eine Ahnung von einer dunklen Vergangenheit während des Kriegseinsatzes unter den Nazis. Auch sein Interesse an Vera ist gleich geweckt. Die Heirat erfolgt schnell, genauso der soziale Aufstieg, der den Luxus von Eigenheim, Auto, Gymnasium und Studium für den Sohn, Urlaub in Italien usw. mit sich bringt. Aber über allem schwebt die Angst vor der Enthüllung eines dunklen Geheimnisses aus der Vergangenheit. Nicht nur öffentlich, sondern auch für sich selbst fürchtet Vera die Aufdeckung von etwas, das sie ahnt, aber nicht recht greifen kann. Und zugleich ist da das Gefühl einer Art Mitschuld, weil sie selbst in Akzeptanz dieser dunklen Vergangenheit nun ein besseres Leben führt. So will sie lieber nicht wissen, die Augen geschlossen und an ihrem gut situierten Leben festhalten.
Damit beschreibt der Autor des Romans „Die innere Ordnung“ durchaus treffend die Situation in vielen Familien, die die Schuld der Vergangenheit verdrängen zugunsten des guten Leben im Jetzt und Hier. Er offenbart dem Leser die Gefühlslage der Protagonistin durchaus nachvollziehbar, wenn auch bisweilen etwas befremdlich. Das Interessante an der Machart des Romans ist die Perspektive, die ausschließlich die Sicht- und Fühlweise Veras bietet. So bleibt Eberhard für den Leser genauso undurchsichtig und sein Bild so verschwommen wie auf dem Cover. Sein Geheimnis bleibt bestehen. Aber da auch Vera nicht alle Gefühle zulässt, bleibt auch von ihr nur ein rudimentäres Bild, ein bisschen wie ein Klischée: eine pragmatisch zupackende Frau, die aus den Trümmern eine neue Existenz erstehen lässt und dafür bereit ist, über bestimmte Dinge hinwegzusehen. Dabei geht es nicht um Selbstverwirklichung und Lebensglück, sondern rein um eine gesellschaftlich gesicherte Existenz. Ich glaube, für Leser ist das aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen. Wenn man die Mentalität der 50er und 60er Jahre nicht kennt, wird man mit dem Lesen so seine Schwierigkeiten haben, dann bleibt alles recht farb- und fühl- und gesichtslos. Und es ist auch schwer auszuhalten, dass das Geheimnis nicht gelüftet wird, damit bleibt am Ende irgendwie ein leerer Nachhall.

Bewertung vom 28.04.2025
Ein Raum zum Schreiben
Valla, Kristin

Ein Raum zum Schreiben


sehr gut

Ein Zimmer für sich allein - teuer erkauft
Die norwegische Autorin Kristin Valla stellt nach 10 Jahren Familienleben fest, dass sie sich eigentlich nicht mehr wie eine Schriftstellerin fühlt, da sie seitdem kein Buch mehr veröffentlicht hat. Grund dafür scheint auch zu sein, dass sie in ihrem Familienheim keinen Rückzugsort für sich zum Schreiben findet. Gelegentliche Ausweichmanöver in Ferienhäuser oder Hotels bringen ihr nicht den benötigten Freiraum für ihr Schaffen. Also beschließt sie, sich ein Haus zu kaufen. Ausgerechnet in einem abgelegenen Dorf in Frankreich. Ziemlich weit weg. Und ausgerechnet ein ziemlich heruntergekommenes Exemplar. Ziemlich problematisch, da viele Reparaturen anstehen und Schwierigkeiten zu überwinden sind. Während ihres langen Leidensweges zu einem Zimmer – oder eher einem Haus – für sich allein sinniert die Autorin über weibliche Abhängigkeiten und Freiheiten, über das Schreiben und das Einrichten von Häusern. Dabei lässt sie auch immer wieder den Blick schweifen auf das Leben berühmter Schriftstellerinnen vor ihr, in deren Tradition sie sich sieht, wie Toni Morrison, Daphne du Maurier oder Agatha Christie, aber auch eher unbekannteren Autorinnen aus dem Skandinavischen Raum. Mit ihnen teilt sie das Verlangen nach einem Rückzugsort und die Begeisterung für das Neubeleben alter Häuser, mit Hilfe dessen sie auch ihr eigenen Leben neu zu sehen beginnt.
Das Buch ist insgesamt sehr interessant. Die Leute, die Valla während ihrer Aufenthalte in Frankreich kennenlernt, aber keine schriftstellerischen Ambitionen haben, weisen dennoch interessante Lebensläufe auf, die zumindest etwas mit Häusern zu tun haben. Besonders fesselnd jedoch sind für mich die Einblicke in das Leben der verschiedenen Schriftstellerinnen, die auf der einen Seite sehr unterschiedliche Existenzen führten, unter anderem auch durch ihre soziale Herkunft. Diese eint aber die Berufung zum Schreiben und der Faible für Häuser, wie ich es einmal bezeichnen möchte, da es bei allen nicht nur um einen Raum geht, in dem man ungestört arbeiten kann, sondern auch um die Ausgestaltung dieser Häuser. So bleibt es meist auch nicht bei einem Haus, wie im Fall Agatha Christies, die gleich acht davon ihr eigen nennt. Da gibt es völlige Ruinen, die in langjähriger Arbeit von Grund auf zu erneuern sind, oder ungewöhnliche Orte, wie eingemauert Zellen oder Türme, in die man sich zurückziehen kann. Da gibt es existentielle Nöte, weil eigentlich das Geld nicht reicht für das eigene Zuhause oder weil sich Bauvorhaben als komplexer erweisen, als gedacht. Aber immer vermitteln diese Lebensentwürfe den Willen, sich die Freiheit zu verschaffen, dem eigenen Lebensentwurf – und wenn nur temporär – folgen zu können. Wir lesen von ungemein willensstarken Frauen mit unkonventionellen Lebensverläufen, die ungemein inspirierend sind.
Dagegen wirkt die Geschichte der Autorin selbst auf mich bisweilen ein wenig ermüdend weinerlich und überreflektiert um sich selber kreisend. Sie kauft ein Haus, um darin zu schreiben, um dann doch nicht darin zu schreiben, sondern es mit allen möglichen Türklinken, Wasserhähnen, blauen Badewannen usw. auszustatten, um dann, davon inspiriert, letztlich wieder zu Hause zu schreiben. Die Familie, der Mann und die beiden Söhne, müssen sich mit dem Selbstverwirklichungstrip der Frau bzw. Mutter irgendwie arrangieren. Das wirkt alles sehr mühsam, angestrengt und teuer erkauft.

Bewertung vom 26.04.2025
Scham
Kreienbrink, Matthias

Scham


ausgezeichnet

Aufschlussreich
Eigentlich kennt man das Gefühl sich zu schämen nur zu gut. Man weiß, wie es sich anfühlt, man weiß, welche Situationen es auslösen können. Und zwar so genau, dass es einen selbst bis in Träume hinein verfolgen oder es beim Denken an bestimmte Situationen antizipieren kann. Vieles davon findet sich auch in der Monographie gleichlautenden Titels von Matthias Kreienbrink. In vielen beschriebenen Situationen kann man sich also gut wiederfinden. Trotzdem bringt der Autor viel Neues und Aufschlussreiches in seiner logisch aufgebauten Darstellung. Er beginnt mit einer ersten Annäherung an das Thema und verfolgt es dann durch unser gesamten Leben von der Geburt bis in den Tod. Dabei zeigt er Konstanten, aber auch Veränderungen in der Gefühlswelt des Schämens auf, die unter anderen durch die neuen Medien bedingt sind. Seine Quellenlage reicht von Schriften aus dem Mittelalter bis hin zum vor nicht allzu langer Zeit erschienen Buch Rushdies über das Messerattentat auf ihn. Dabei überrascht er den Leser immer wieder, in welchen Zusammenhängen das Thema zu finden ist. Nicht nur das breit aufgestellte Spektrum an Blickwinkeln auf das Gefühl der Scham machen die Lektüre so reizvoll und lohnenswert, sondern auch die keinesfalls störende subjektive Herangehensweise und die Vielzahl an illustrierenden Beispielen, die einen großen Gewinn darstellen. Es ist ein Buch, das einlädt, sich mit seinen eigenen Schamgefühlen auseinanderzusetzen, aber vor allem auch nachdenklich macht darüber, wie das Beschämen anderer zum nicht tollerierbaren Machtinstrument werden kann. Der Autor zeigt die Notwendigkeit der Scham als gesellschaftskonstituierendes Element auf und gewinnt ihr neben der kritischen Auseinandersetzung mit ihren negativen Aspekten somit auch positive Seiten ab. Insgesamt hat das Buch einen ermutigenden Charakter, die eigene Würde und die der anderen zu respektieren, für die man sich keinesfalls zu schämen hat.

Bewertung vom 16.04.2025
Was ich von ihr weiß
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


gut

Die letzte Seite bringt die Lösung.
Mimo und Viola sind zwei ungewöhnliche, unkonventionelle Figuren, die sich in Andreas Roman „Was ich von ihr weiß“ schicksalhaft begegnen. Mimo ist kleinwüchsig und wird nach dem Tod seines Vaters, eines Bildhauers, von der Mutter zurück nach Italien zu einem Onkel geschickt, der ihn als Gehilfen in seiner Bildhauerwerkstatt ausbeutet. Nicht nur gegen seine Körpergröße auch gegen die Missachtung seines Onkels und die Widrigkeiten des Schicksals muss Mimo sein Bildhauertalent behaupten. Dabei unterstützt ihn Viola, Tochter aus guten Hause, aber eben ein junges Mädchen mit zu viel Verstand, das zu viele Bücher liest und auch noch versteht. So hat sie bald den Traum vom Fliegen, soll aber doch einfach nur im Interesse ihrer Familie an eine vielversprechende Partie verheiratet werden. Beide müssen gegen die Konventionen und die Vorurteile ankämpfen. Dabei geben sie sich gegenseitig Stärke, verraten sich aber auch. Ihre Wege trennen und begegnen sich immer wieder vor der schicksalhaften Kulisse eines Italiens während zweier Weltkriege und dem dazwischen liegenden Aufstieg des Faschismus.
Ich fand das Buch unheimlich mühsam zu lesen. Verschiedenste, zum Teil skurrile Episoden reihten sich aneinander, ohne das ich lange wusste, wohin das Ganze führen sollte. Spannungsaufbauendes Element waren lediglich die immer wieder eingestreuten Kurzkapitel aus einer Erzählgegenwart, in der der Protagonist Mimo in einer Zelle eines Kloster am Ende seines Lebens auf den Tod wartet, in eben dem Kloster, in dem eine seiner Schöpfungen, eine Piéta, aufgrund ihrer unerklärlichen Wirkung als gefährlich eingestuft, verborgen gehalten wird.
Auch zu den Figuren habe ich keinen Zugang gefunden. Entweder waren sie sehr typenhaft, wie der einfach strukturierte ältere Bruder von Viola, der opportunistisch auf den Aufstieg der Faschisten setzt, oder der Dorfirre Emmanuele, der in seiner Art sehr liebenswürdig wirkt, oder der unempathisch und unsympatische Ehemann von Viola. Oder die Figuren sind so merkwürdig wie die Gestalten eines Gruselkabinetts, der unheimliche Zirkusdirektor, der Mimo gleich zu Anfang übers Ohr haut, oder Mimo selber, der die Hälfte des Buches in einem Alkoholrausch zubringt, indem er Vergessen oder Selbstbestrafung zu suchen scheint. Auch Viola, hier muss man leider den Eindruck ihres Mannes teilen, wirkt nicht gerade zurechnungsfähig in ihrem Kontakt mit einer ausgewachsenen Bärin, ihrer Flugversuch oder der Mordattacke auf ihren Mann. Es gibt ja durchaus Frauen in ihrer Zeit, die sich von ihrer Familie zu emanzipieren wussten. Bei Viola hat man immer den Eindruck, sie warte auf einen Mann, der sie aus den Fesseln der Konventionen befreit. Dabei schenkt sie ihnen zu leicht ihren Glauben und muss sich dann verraten fühlen, wenn ihre Ausflüge in die große Freiheit schon am nächsten Bahnhof wieder enden. Die für mich interessanteste Figur ist noch die des jüngsten Bruders von Viola, hinter dessen stiller Freundlichkeit sich viel verbirgt, was sich im Laufe des Romans entfalten kann.
So musste ich mich recht durch den Roman mühen, auch wenn ich die Passagen über die Entwicklung des Faschismus in Italien durchaus interessant fand. Da kann auch die verblüffende Auflösung am Ende, die sinnstiftend auf die ganze Romanhandlung wirkt, nicht so ganz entschädigen. Eventuell liegt auch hier die Erklärung für den Romantitel. Doch eigentlich weiß man von ihr, wenn hier mit Viola gemeint sein soll, recht wenig, weil sie, abgesehen vom Anfang, eigentlich eher einen Nebenfigurencharakter hat, auch wenn sie das Denken und Trachten des Protagonisten nachhaltig bestimmt, aber sehr häufig eben auch nur in jenem vorkommt.
Meinem Geschmack entspricht das Buch also nicht so ganz.

Bewertung vom 16.04.2025
Was hast du nur getan? (eBook, ePUB)
Kui, Alexandra

Was hast du nur getan? (eBook, ePUB)


sehr gut

Erwartungshaltungen
Cassidy und ihre Clique versuchen gerade ihre Image zu ändern, von den Badgirls zur Ordnungstruppe ihrer Schule. Da liegt auf einmal eine Leiche auf dem Schulhof. Ein Junge aus bestem Haus. Selbstmord? Oder hat es etwas mit Drogen zu tun? Oder hatte jemand eine Rechnung mit ihm offen? Etwa Cassidys beste Freundin, die, wie es scheint, eine engere Beziehung zu dem Opfer pflegte, als sie selbst Cassidy nicht anvertraut hat? Immer mehr Indizien weisen darauf hin. Blöd, dass Cassidy und ihre Clique eh schon im Visier der Polizei sind. Wie kann Cassidy ihre Freundin schützen? Und sich selbst?
Alexandra Kui hat ein spannendes Jugendbuch geschrieben, indem es um mehr geht als um die Aufklärung eines Todesfalles. Mit viel Feingefühl beschreibt sie die verschiedenen Milieus an einer Schule, die alle so ihre Probleme haben, gerade, wenn es darum geht, herauszufinden, wer man ist und wohin man will. Und das alles noch unter den verschiedenen Vorzeichen gesellschaftlicher Herkunft. Dabei ist nur der scheinbar begünstigt, der mit dem goldenen Löffel im Mund aufwächst, denn auch die Kinder aus diesen Familien kämpfen mit Leistungs- und Erwartungsdruck, sehen sich einengenden Rollenbildern ausgesetzt. Ihr Selbstbewusstsein ist häufig auch nur ein Schein, getragen von schicken Klamotten und Statussymbolen. Aber auch Cassidys Welt ist nicht einfach. Sozial schwaches Milieu, alleinerziehende, überforderte, arbeitslose Mutter. Eine kleine Schwester, die eine Aufpasserin braucht. Dafür hat Cassidy sich das Image eines harten Mädchens auferlegt, das cool ist, keine Gefühle zeigt und ihren Weg auch mit der Faust durchzusetzen bereit ist. Obwohl sie – einmal in den Radar der Polizei geraten – ernsthaft bemüht ist, ihren Weg mit anderen Mitteln zu finden. Nur das ist gar nicht so leicht, wenn es darum geht, einen Mord aufzuklären, der eventuell auf das Konto von Drogendealern geht, und wenn man dabei mit seiner eigenen unrühmlichen Vergangenheit konfrontiert wird. Gerade die Figur der Cassidy bietet in ihrer Vielschichtigkeit und Sensibilität eine gute Projektionsfläche für Themen wie Freundschaft und Verantwortung sowie Ablehnung einer Opferrolle. Bei all den ernsten Tönen kommt aber auch der Humor nicht zu kurz. So kann Kui gut mit Klischees spielen und sie ironisieren, auch wenn ihr manche Figuren wie der Polizist und Endgegner von Cassidy ein wenig zu schwarz-weiß geraten. Auch die Ermittlerrolle, die sie ein wenig zum unfreiwilligen Hilfssheriff der Schuldirektorin macht und im Rahmen derer sie harte Prügel à la Schimansky einzustecken hat, will nicht so recht zu Cassidy passen. Aber ansonsten ein spannender, witziger, aber auch ernsthafter Jugendroman, der sich gut lesen lässt.

Bewertung vom 16.04.2025
David – Mein Gott,mein Gott, warum hast du mich verlassen.
Christian Meyer-Landrut

David – Mein Gott,mein Gott, warum hast du mich verlassen.


weniger gut

Was gewinne ich einem alten testamentarischen Buch noch ab?
Die Geschichte von Davids Aufstieg vom Hirtenjunge zum König Isreals, dem von Gott Auserwählten, der dann als König seine Gegner mit unbarmherziger Gewalt auslöschen lässt, der Ehebruch begeht, viele Frauen hat, Widersacher perfide ausschaltet wird in diesem schmalen Band gut erzählt, für mich allerdings nicht wirklich neu. Offen bleiben die Fragen, wie ein Mensch, der sich so verhält, der Gesalbte Gottes sein kann, aus dessen Geschlecht der Erlöser der Menschheit stammt. Nur um die Erlösungswürdigkeit des Menschen zu demonstrieren? Eingefügt in die Geschichte sind immer wieder Psalme, wie sie David gesungen haben könnte. Dabei verfremdet der Autor den Wortlaut mit einer für mich pseudomodernen Auslegungen, die allerdings einzig das Ziel zu verfolgen scheint, die Schlechtigkeit des Menschen und der Welt anzuklagen: die Ungerechtigkeit, die Gewalttätigkeit, die Ausbeutung und Zerstörung des Planeten. Moderne, immer wieder besungene Zivilisationsuntergangsgesänge. Eingefügt sind zudem Fotos, meist anderer Fotografen, die recht einfach zu einer Art Collage umgestaltet wurden und die in den Psalmen beklagten Missstände plakativ untermalen. Das wirkt auf mich sehr artifiziell und überstilisiert. Fragwürdig ist für mich auch die Prämisse, unter der das Buch steht: die Klage Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, die auch ein Zitat eines alttestamentarischen Psalmes ist. Soll darin eine Gottferne in der, wie oben dargestellten, beklagenswerten Welt konstatiert werden? Worauf stützt sich dann die Hoffnung und die Mühe, diesen alttestamentarischen Text wieder hervorzuholen? Gleichzeitig liest sich das Buch wie eine Anklage an Gott, der nicht hilft, der aber zugleich verantwortlich gemacht wird für die Mängel seiner Schöpfung. Problematisch dabei ist, wenn man einen Bibeltext aus seinen Zusammenhängen und aus der biblischen Tradition reißt. Denn so dürfte doch für die Schöpfung gelten, dass sie so, wie sie von Gott gedacht war, gut war, wenn man der ersten Schöpfungserzählung Glauben schenken darf. Und so bleibt aus der David-Geschichte hier nur der grausame Kriegsgott über, der er für das von einer Übermacht an Feinden bedrängten Volk Israel auch gewesen ist und auf dem all seine Hoffnung ruhte, ein Land zu finden, in dem es in Frieden leben konnte. Für Israel ist das sicherlich ein immer noch aktueller Zustand. Aber das christliche Gottesbild setzt neben dieses noch andere Akzente, die mir in diesem Buch fehlen. So lese ich aus dem Buch ein letztlich recht trostloses Bild von einem Gott, der den erlösungsbedürftigen Menschen sich selbst überlassen hat, ohne dass dieser das Bedürfnis nach Erlösung zumindest nicht durch einen Gott zu haben scheint. Fehlt dieser Zivilisationskritik nicht ein konstruktiver Ansatz?

Bewertung vom 16.04.2025
Knäckebrothelden
Allert, Judith

Knäckebrothelden


gut

Vom Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen
Samys Großvater ist gestorben. Seitdem ist seine Oma still und leise, seine Mama muss ganz plötzlich immer mal kurz nach nebenan und sein Vater ist besonders lustig. Ohne Opa, den Helden der Familie, ist der Umgang miteinander schwer. Da taucht ein Zettel auf mit Opas letztem Willen: noch einmal ans Meer. Flugs wird seine Urne vor der Beerdigung geklaut, ein klappriger Familienbus gechartert und los geht`s auf eine abenteuerliche Reise Richtung Meer mit erfreulichen, beängstigenden und kriminellen Begegnungen, mit Pannen, ohne Handynetz und Routenplaner, mit Polizeieinsatz und ohne Plan. Wird die Familie mit Opas sterblichen Überresten, was auch immer das ist, ans Meer gelangen? Und werden sie als Familie wieder einen unbeschwerteren Umgang miteinander finden?
Das Buch verbindet tief traurige Erfahrungen mit witzigen Erlebnissen und spannenden Abenteuern. Wir begegnen einer Menge warmherziger, offener Menschen, aber auch solchen, die das ausnutzen. Alle tragen ein wenig dazu bei, die Erinnerungen an den verstorbenen Opa weniger schmerzlich zu machen. Das ist auf jeden Fall ein schöner, neuer Ansatz, sich dem Thema zu nähern, wie man mit dem Verlust eines geliebten Menschen umgehen kann und wie neben der schmerzlichen Vermissen die schönen Erinnerungen ein Trost sein können. Allerdings finde ich den Schreibstil, auch wenn er die Sicht des Enkels Samy einnehmen soll und für junge Leser geschrieben ist, zum Teil unangenehm oder unpassend aufgedreht und ein wenig überzogen albern. Das stört mich im Hinblick auf das ernste Thema dann doch stellenweise empfindlich, auch dann, wenn die Ereignisse selbst ein wenig zu abenteuerlich werden, denn die „Krümel“ von Opa in der Knäckebrotdose auf der Rückbank ist schon so ein eher gewöhnungsbedürftiger Gedanke, der schon mal die Frage nach der Pietät aufwirft.

Bewertung vom 14.04.2025
People Pleaser
Dimitrova, Anna

People Pleaser


sehr gut

Hilfe zur Selbsthilfe

Der Jugendroman geht ein ernstes Thema mit Witz an und bringt nicht nur jugendliche Leser ordentlich ins Grübeln.
Nina ist immer für alle da, für ihre Mutter, ihren jüngeren Bruder, ihre Freund:Innen und die Boyfriends ihres Freundin Teo. Denn nur so geht es Nina gut, nur so hat ihr Leben einen Sinn. Oder etwa nicht? Denn eigentlich steckt ihre Freundschaft mit Teo, die in letzter Zeit eine selbstzerstörerische Ader in sich entdeckt hat, schon in der Krise, bevor der Badboy Aleks auftaucht und Teos Ehrgeiz in puncto Selbstzerstörung noch mehr entfacht. Da muss Nina doch eingreifen und helfen. Und wenn sie Teo selbst nicht helfen kann, muss sie Badboy Aleks umerziehen, damit er Teo nicht noch mehr Schaden zufügt. Ein ehrgeiziges Projekt, bei dem Nina gänzlich übersieht, dass es in ihrem Leben auch noch andere Personen gibt, denen ihr Interesse gelten sollte, nur nicht unbedingt im helfenden Sinne, und dass sie mit ihrem Hilfsprojekt mehr als eine Grenze überschreitet.
Anna Dimitrova hat vor dem Hintergrund eigener Erfahrung einen packenden Roman geschrieben, der mit viel Witz und Humor, aber auch mit Tiefgang und psychologischem Feingefühl das Thema people pleasing aufnimmt. Sie zeig auf, welche Motive zu dieser Art selbstverneinendem Helfersyndrom führen und welche Auswirkungen das nicht nur auf das Leben des pleasers haben kann. Einmal in die Hand genommen, mag man Ninas Geschichte nicht mehr weglegen. Sie wächst einem sehr ans Herz. Man leidet mit ihr, versteht manchmal mit ihr die Welt nicht mehr, sieht aber auch sehr deutlich, wo ihre Probleme liegen, und würde ihr nur zu gerne helfen. Aber am effektivsten ist es, den anderen dem Raum zu geben, sich selbst zu helfen. Über viele Dinge muss man während des Lesens nachdenken. Auch wenn man selbst vielleicht nicht die Therapie für die beste Freundin machen würde und wenn der Badboy in der Realität nicht wirklich so viele tiefgreifenden Probleme mit sich trägt, sondern wirklich nur ein blöder Arsch ist, so kommt man doch ins Grübeln, welche Wirkung ständige Hilfsbereitschaft auch auf die nahestehenden Personen hat. Dass sie nicht nur aus reiner Selbstlosigkeit entsteht, dass sie die anderen entmündigt oder ihnen die Möglichkeit nimmt, auch umgekehrt für den anderen da zu sein, und sie somit dazu bringt, sich als minderwertiger oder schlechter zu fühlen, sind nur einige der erhellenden Erkenntnisse aus der Lektüre.
Auch wenn das Ende dann doch wieder ein wenig zu glatt und zu viel Happy End ist, ist Ninas Story auf jeden Fall spannend zu lesen und führt auch jüngere Leser sensibel an ein wichtiges Thema, das des Selbstwertes, mit großem Unterhaltungsfaktor heran.

Bewertung vom 14.04.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


sehr gut

Schöner Schein

Sympathisch ist der Erzähler in Schünemanns Roman „Bis die Sonne scheint“, der so unbeholfen wirkt und so anders als der Rest dieser Familie, die eine komische Mischung von Optimismus, Komik und gefährliche Verdrängungsmechanismen ausmacht. Diese haben die Eltern, Vater Architekt, Mutter gelernte Buchhalterin, zwischenzeitlich Wolllädcheninhaberin und bisweilen helfende Hand im Büro ihres Mannes, an den Rand des finanziellen Ruins getrieben. Doch das versuchen sie geschickt zu vertuschen, vor den Leuten im Dorf, vor den Kindern und vor der Großmutter. „Bis die Sonne scheint“ ist so etwas wie ihr Lebensmotto: Sie suchen so lange nach ihrem Lebenszuschnitt, bis ihnen die Sonne scheint. Allerdings machen ihnen Wolken immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Ein Konzept funktioniert, verspricht Erfolg. Doch dieser ist nicht von Dauer. Und schon muss man sich wieder auf die Suche nach der Sonne machen. Dies Prinzip setzt sich schon länger in beiden Familien fort. In Exkursen werden im Rückblick die Familiengeschichten beider Elternteile erzählt, beginnend mit dem Ende des Krieges 1945, der von allen eine Neuordnung des Lebens fordert. Immer wieder müssen Lebensmodelle über den Haufen geworfen werden, muss nach einem Scheitern ein Neuanfang gewagt werden. Höhen und Tiefen wechseln sich ab. Aber irgendwie gilt immer nur das Weitermachen, so kräftezehrend es auch ist, um ein klein wenig Lebensglück zu finden. Wem das nur schwer zu gelingen scheint, ist der junge Erzähler. Sein Glück fällt dem misslungene Lebenskonzept der Eltern zum Opfer: der Frankreichaustausch, den er ersehnt, kann nicht bezahlt werden, die Konfirmation schrumpft auf eine Minifamilienfeier und das Elternhaus gerät unter den Hammer. Zukunft ungewiss. Einziger Lichtblick ist Zoe. Ihre Eltern stammen aus dem Osten, aber sie haben im Westen Fuß gefasst. Geld spielt keine Rolle. Dafür bröckelt hier die Ehe der Eltern, die Mutter verfällt in eine Depression, der Vater hat eine neue. Auch keine Idylle.
Der Roman kann den Leser schon packen. Die Schicksale der Familien sind zum einen ergreifend, zum anderen nicht ohne Komik. Besonderes Highlight für die Zeitgenossen sind die vielen Reminiszenzen an die Zeitgeschichte. Auf jeden Fall ein spannendes Porträt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nur die vielen Sprünge in der Handlung in verschiedene Stränge der Vergangenheit und die bisweilen verwirrenden Beziehungsgeflechte in den Familien bringen beim Lesen schon einmal durcheinander: wer war das gleich noch mal?

Bewertung vom 14.04.2025
Bis unsre Seelen Sterne sind. Rilke und Lou Andreas-Salomé
Wildner, Maxine

Bis unsre Seelen Sterne sind. Rilke und Lou Andreas-Salomé


sehr gut

Leiden erschafft Großes
Das ist die Tragik vieler berühmter Künstler, dass ihr Leben voller Leiden Voraussetzung für ihre großartigen Kunstwerke ist. So ergeht es auch Rainer Maria Rilke. Ein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter, eine unglückliche Physiognomie und eine der Sehnsucht verschriebenes Seelenleben, das sich schnell langweilt, wenn sich die Sehnsucht erfüllt, und das das Sehnen sucht, schaffen die Disposition für die großen Gedichte, die dem Künstler vor allem im Nachleben so viel Bewunderung und Verehrung eingebracht haben. Zu Lebzeiten führte er ein eher kümmerliches Leben, immer knapp bei Kasse, immer angewiesenen auf Gönner, immer in Angst vor dem weißen Blatt, immer auf der Suche nach so etwas wie Zuhause.
In ihrer Romanbiografie porträtiert Maxine wildner im Doppel Rile und Lou Andreas Salomé, eine ungewöhnliche Frau, Geliebte, Entdeckerin, Förderin und Vertraute Rilkes. Auch ihr Leben ist ein unstetes. Sie führt eine Ehe zum Schein und ein eher unkonventionelles Leben. Sie besucht nicht nur als eine der ersten Frauen die Universität, sie hat auch wechselnde Beziehungen zu Männern. Auch sie ist ständig auf Reisen und auf der Suche. Ihr Verhältnis zu Rilke ist wechselhaft. Sie ist viel älter. Er schwierig. Beide haben eine Anlage zum Narzissmus. Beide streben nach Unabhängigkeit, brauchen aber auch die Bewunderung, den Rat, die Inspiration des anderen.
Das Buch zeigt ein schonungsloses, nicht immer schönes Bild zweier unkonventioneller Leben. Insbesondere Rilke zeichnet die Autorin immer wieder abstoßend und flicht gleichzeitig seine wunderschönen Verse in ihren Text mit ein. Man kann schon verstehen, dass beide sich immer wieder suchten und gegenseitig abstießen, weil sie schon eine Art Seelenverwandte waren und zugleich immer auf der Suche nach etwas. Wildner zeigt weitere Parallelen auf, die sie verbanden, und macht diese Verbundenheit bis zum Moment von Rilkes Tod sehr deutlich. Es entsteht das spannende, ungewöhnliche Porträt einer Beziehung, die über eine Liebesbeziehung hinaus zu einer Beziehung einer tieferen Art der Liebe wird.
Einzig störend ist die Verwirrung, die bisweilen durch die Zeitsprünge vor und zurück zwischen Rilkes und Lous Leben entsteht in dem Bestreben, beiden Personen – auch über ihre gemeinsame Beziehung hinaus – gerecht zu werden.