Krimi des Monats Oktober 2025
„Bis in alle Endlichkeit“ von James Kestrel
Krimi des Monats
James Kestrel hat mit seinem Thriller „Fünf Winter“ hochkarätige Krimipreise abgeräumt, etwa den renommierten Barry Award 2022 oder den Deutschen Krimipreis 2023. Kritiker vergleichen ihn mit Don Winslow oder gar mit Raymond Chandler. Seine Thriller sind so gut, dass sie sogar Menschen gefallen, die sonst eher keine Bücher aus dem Genre „Crime“ lesen. Auch „Bis in alle Endlichkeit“. Ist wieder ein verdammt guter Thriller geworden – und hat mit Privatdetektiv Leland Crowe, genannt „Lee“, einen herrlich zwielichtigen Ermittler.
Lee war mal ganz oben, als er mit der steinreichen Juliette Vilatte verheiratet war, nun ist er deutlich weiter unten. Kämpft oft genug darum, dass am Ende des Monats auch noch Geld da ist. Aber gerade hat er eine gute Phase. Er ermittelt für den Strafverteidiger Jim Gardner in einem der üblen Stadtteile von San Francisco, Tenderloin. Sein Posten: ein schäbiges Hotelzimmer. Seine Nachbarn: eine Prostituierte in Altersteilzeit und ein Junkie. Lee ist auf einen Zeugen angesetzt, der unter ihm im Hotel eine bewachte Bleibe hat.
Doch dann knallt ihm etwas anderes direkt vor die Nase. Der Fall, der Lee in „Bis in alle Endlichkeit“ fast das Leben kostet, liegt tot auf dem Dach eines Rolls-Royce Wraith: eine junge Frau, bildschön, mit einem teuren Cocktailkleid bekleidet. Ein merkwürdiger „Fund“, den Lee da macht. Diese abgerissene Ecke der Stadt, dann ein Rolls-Royce und darauf eine Tote, offenbar aus bester Gesellschaft. Hier stimmt etwas nicht. Lee, der fast keine Gelegenheit auslässt, schnelles Geld zu verdienen, macht Fotos von der Frau. Er weiß noch nicht, dass es sich bei ihr um Claire Gravesend handelt, die Tochter von Olivia Gravesend – und die ist unfassbar reich an Einfluss und Geld.
Die Fotos verkaufen sich gut. Klar. Doch dann will Olivia Gravesend Lee Crowe sprechen. Sie ist eine Klientin von Jim Gardner, seit Ewigkeiten. Und wenn selbst Jim Gardner, wie Lee gerissen und mit allen Wassern gewaschen, vor dieser Olivia warnt, dann heißt das etwas. Sie sei „absolut rabiat“, und Lee dürfe ihr niemals, wirklich niemals, vertrauen. Lee Crowe ist gut, natürlich ist er das. Sonst würde Jim Gardner ihn nicht weiterempfehlen. Und noch etwas hat Jim über ihn gesagt: Er sei schnell von Begriff und würde tun, was immer nötig sei. Genau so jemanden braucht Olivia Gravesend.
Lee macht sich auf den Weg zu ihr nach Carmel. Dort wohnen Menschen mit viel Geld, besser gesagt, sie residieren in Häusern mit sechs Kaminen, und es duftet nach Lavendel und Eukalyptus. Und natürlich ist dieses Haus nur ein Sitz der Familie, es gibt, auf der ganzen Welt verstreut, an jedem bedeutenden Ort ein „Pied-à-terre“, eine Gravesend-Basis. Olivia Gravesend scheint eine liebende Mutter zu sein. Denn Lee Crowe soll, na klar, aufklären, warum Claire Gravesend tot ist. Denn vor ihrem Tod brach plötzlich der Kontakt zu ihrer Mutter Olivia ab. Telefonisch war Claire nicht mehr zu kontaktieren. Briefe erreichten Olivia, darin schrieb Claire ihr, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Sie müsse etwas erledigen. Immer mehr hätte sich ihre Tochter zurückgezogen. Und dieser Prozess fing an, als sie mit 18 nach Boston zog.
Lee weiß nicht recht, was er von Olivia Gravesend halten soll. Die Warnung von Jim Gardner hat er nicht vergessen, und dennoch glaubt er ihr irgendwie, der Mutter, die ihre Tochter geliebt hat. Olivia traut den Behörden nicht, denn wenn selbst sie, die „eiserne Zicke“, die die Hälfte der Amtsträger in der Hand hat, nichts erfährt, dann muss Claire in etwas Großes hineingeraten sein.
Wie groß, das wird Lee Crowe schnell am eigenen Leib erfahren. Seine Ermittlungen führen ihn zunächst nach Boston, und schon dieser Trip endet fast tödlich für ihn. Ein Profikiller. Doch Lee schafft es mit Glück. Danach stößt er bei den Fotos, die die Gerichtsmedizin von Claire gemacht hat, auf etwas Grauenvolles. Vom Hinterkopf abwärts sind Reihen von alten Wunden zu erkennen, ein Paar pro Rückenwirbel. Was diese Entdeckung zu bedeuten hat, wissen weder Lee noch Olivia. Doch dann begegnet Lee Crowe einer Frau, die genau wie Claire aussieht und ebensolche Narben hat. Sie heißt Madeleine, und ihr Leben ist in Gefahr. Warum, das muss Lee Crowe herausfinden. Mit wem er es aber da zu tun hat, das ahnt er nicht. Menschen, die über Leichen gehen. Und Lee steht ihnen verdammt nochmal im Weg ...
Ein Trip, höllisch und böse, blutig und albtraumhaft – und Lee Crowe muss mittendurch. Eine absolute Leseempfehlung.
Ermittlerportrait
„Agentur Leland Crowe, Private Ermittlungen“ – das steht auf dem kleinen Schild, das auf Lees Büro hinweist. Ein Büro in San Francisco, gelegen zwischen einer Beratungsstelle für Kriegsveteranen und einer Kreditgenossenschaft. Leland Crowe, alle nennen ihn „Lee“, hatte fantastische Zeiten ohne Geldsorgen. Damals war er noch mit Juliette Vilatte verheiratet, aus bester Gesellschaft und steinreich. Sie war umwerfend, und wenn sie in der Stimmung war, jemanden zu verwöhnen, dann tat sie es gründlich. Zur Hochzeit schenkte sie Lee den schwarzen Camaro, Baujahr 1965. Lee fährt den Wagen heute noch, seine Ehe kollabierte vor sechs Jahren.
Nun ist sein Zuhause eine Zweizimmerwohnung in Chinatown, unten ein Fischrestaurant, Lee im dritten Stock ohne Aufzug. Die Scheidung war übel, und er war mit den Klamotten, die er trug, gebrochenen Fingern und einem Brief der Anwaltskammer, der seine Streichung von der Anwaltsliste bestätigte, gestrandet. Okay, Lee hatte einem Richter die Fresse poliert, und ihm war klar, das schrie eigentlich nach Knast oder mindestens einer hohen Geldstrafe. Doch die einflussreiche Familie Juliettes entschied anders. Kein Knast, kein Bankrott, vielmehr bekam er noch fünfzig Riesen für jeden Zahn, den er dem Richter ausgeschlagen hatte. Der Barscheck war Schweigegeld, aber das ist eine andere Geschichte.
Nach einer Sauftour in Mexiko, die zwei Monate dauerte, kaufte sich Lee mit dem Geld von Juliette eine Wohnung und bekam ein Angebot von Jim Gardner. Nicht offiziell, offiziell war Lee Crowe für Jim Gardner keine vertretbare Wahl mehr. Aber inoffiziell, oder wie Jim sagte, „auf der Straße und im Dunkeln“, da könne er Lee gebrauchen. Genau da könne Lee nach seiner wahren Natur handeln und sich die Hände schmutzig machen. Diesen Ruf, zu tun, was immer nötig sei, hatte Lee Crowe bei Jim Gardner. Doch was für Lee Crowe bei „Bis in alle Endlichkeit“ nötig sein wird, damit hätte er in seinen schlimmsten Albträumen nicht gerechnet ...