Autor: Vera
Datum: 17.09.2021
Tags: Empfehlung, Unser Buchtipp

Der Alltag von Barbara und Walter Schmidt ist akribisch durchorganisiert. Seit 52 Jahren leben die beiden in einer Ehe, in der die Rollen klassisch verteilt sind. Seit 52 Jahren steht Frau Schmidt morgens auf und kocht Kaffee. Immer, jeden Tag. Als Herr Schmidt eines Morgens aufwacht und kein Kaffeeduft durchs Haus zieht, weiß er, dass etwas nicht stimmen kann. Er findet Barbara auf dem Badezimmerboden. Lebendig, aber so schwach, dass sie zurück ins Bett muss, nicht nur für ein paar Stunden, sondern für längere Zeit. Herr Schmidt, dem die Bedienung von Küchengeräten völlig fremd ist, hat keine andere Wahl: Er muss Kaffee kochen – und sich darüber hinaus auch allen anderen Herausforderungen des Haushalts stellen.

Das Leben der beiden Rentner steht Kopf. Walter ist es gewohnt, dass zu Hause nur eines im Mittelpunkt steht: sein Wohlbefinden. Darum kümmert sich normalerweise von früh bis spät seine Frau – und die funktioniert plötzlich nicht mehr. Für ihre unfreiwillige Pflegebedürftigkeit zeigt er wenig Verständnis: „Barbaras Im-Bett-Herumliegen bekam ihm nicht gut“. Sinnbildlich für die Beziehung der beiden ist auch die Tatsache, dass Herr Schmidt seiner Frau zum goldenen Hochzeitstag ausgerechnet eine neue Küche geschenkt hatte, „ein Sammelgeschenk für all die anderen Hochzeitstage und Geburtstage, an denen er nichts geschenkt hatte, und auch für alle künftigen, an denen er nichts schenken würde.“ Die Küche ist Barbaras zugewiesenes Reich, Walter fühlt sich hier fehl am Platz. Trotzdem muss er jetzt kochen, einkaufen, mit dem Hund rausgehen, seine Frau versorgen und seine Kinder über Barbaras Gesundheitszustand informieren. Der egozentrische Rentner steht vor einer Reihe schier unlösbarer Aufgaben. Wie er sie angeht, ist zugleich herzzerreißend und urkomisch ... 

Coming-of-Age geht auch mit über 70

Was Walter und Barbara erleben ist eine Story, die sich die Autorin vermutlich nicht ausdenken musste. Paare wie die Schmidts gibt es. Alina Bronsky musste ihre Worte vorsichtig wählen, um kein deprimierendes Porträt einer langjährigen Ehe zu schreiben. Und sie musste genau hinschauen, um die Schmidts mit all ihren Eigenheiten und ihrer teils gut versteckten Liebenswürdigkeit einzufangen. Das ist ihr hervorragend gelungen. „Barbara stirbt nicht“ ist keine schwermütige Beschreibung der Phase, in der ein Mensch zum Pflegefall wird. Alina Bronskys Roman ist eine Art Coming-of-Age-Geschichte im Rentenalter. Die Autorin zeichnet einen Antihelden, den man beim Lesen abwechselnd anschreien und an die Hand nehmen möchte. Mit feiner Menschenkenntnis und staubtrockenem Humor schildert Alina Bronsky, wie ein Neuanfang auch nach vielen Jahren festgefahrener Denk- und Lebensweisen möglich ist.

Fazit: Geschichten, die direkt aus dem Leben gegriffen sind: Nichts kann uns mehr berühren und begeistern. Beides schafft Alina Bronsky mühelos. Leise, oft bissig, immer feinfühlig – „Barbara stirbt nicht“ ist so gut erzählt, dass Sie sich Walter Schmidts zweifelhaftem Charme nicht entziehen werden können!




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