Konzeptionalist immer wieder auffällig; Wynton, der nächste, ist mit seiner unduldsamen Einforderung eines auch hörbaren Respekts vor den schwarzen Traditionen der umstrittenste lebende Jazzmusiker, auch weil er als mächtiger Funktionär die Mittel hat, seine Ideen durchzusetzen - die Vernachlässigten formieren sich zu Armeen. Es folgen Delfeayo, ein blendender Posaunist und agiler Produzent, und der Schlagzeuger Jason, den die Brüder für den musikalischsten halten, was aber wohl Koketterie ist. Der gegenwärtige Stand des Unternehmens Marsalis läßt sich recht gut betrachten, weil sich die fünf auf vier neueren CDs in verschiedenen Kombinationen darstellen.
Die derzeit am meisten diskutierte ist "Footsteps Of Our Fathers" von Branford Marsalis, der über diesem wertkonservativen Werk dem Brüderchen Wynton symbolisch die Versöhnungshand reichen könnte. Mitte der neunziger Jahre hat er sich nämlich in dem Projekt "Buckshot Le Fonque" auf Hip-Hop und Scratch, flauschigen Pop und simplistische Dance Grooves eingelassen, für Wynton alles unseriöser Kinderkram. Diese Episode ist vergessen, und Branford doziert jetzt: "In Anbetracht des frühen Todes vieler großer Ahnherren der Kunstform wurde der Prozeß der Kreativität im Jazz durch eine Umarmung der Werte der Pop-Kultur bedroht." Immerhin tut er dies im Hüllentext einer CD (von der deutschen Saxophonistin Carolyn Breuer) des europäischen Jazz, den er andernorts als "komischen Mist" abtat. Ganz auf Wyntons Linie ehrt er nun die Helden seiner Lehrjahre: Ornette Coleman, Sonny Rollins, John Coltrane und John Lewis.
Mit der Komposition "Giggin'" erwischt Branford Marsalis den Free Jazz-Revolutionär Ornette Coleman in einer Phase, in der der konventionelle Vierviertel-Swing noch nicht abgeschafft war. Branford spielt hier Sopransaxophon, womit sich Sound-Anleihen bei dem Altsaxophonisten Coleman erübrigen. Dessen wilde, melodische Abstraktionen werden genialisch nachempfunden, Colemans Errungenschaften der Kollektivimprovisation dagegen nicht als zitierwürdig erachtet.
Bei der "Freedom Suite" von Sonny Rollins ist es dagegen gerade die angestrebte Sound-Verwandtschaft, die dem Hörer ins Ohr springt. Vielen Äußerungen nach zu urteilen liebt Branford Rollins am meisten, weshalb ihm dessen knorrige Sonorität und diese bockspringende Unberechenbarkeit aus dem Herzen gut übers Mundstück geht, unter Bewahrung individueller Eigenheiten des virtuosen Flusses. Die Adaption von John Coltranes berühmtester Komposition, der ausladenden Suite "A Love Supreme", liegt derart eng am Original, daß die Frage in den Mittelpunkt rückt, was sich ein Musiker in der stets nach individueller Erkennbarkeit strebenden Kunstform Jazz an Imitation leisten dürfen soll. Branford Marsalis ist hier bekennender und bewundernder Interpret. Wie er den Klang, die hymnische Spiritualität des Werks trifft und die technisch äußerst anspruchsvollen sheets of sound - Coltranes wichtigste formale Neuerung - nachvollzieht, das ist schon begeisternd; keinem wird man es so zutrauen wie ihm. Verglichen mit der Interpreten-Kultur der Klassik, hat ein Jazzmusiker vom Format des Branford Marsalis natürlich auch immer noch enorme Freiheiten und Möglichkeiten leidenschaftlicher Spontaneität. Die CD schließt mit einer neuerlichen, überraschenden Wandlung, der einzigen Komposition eines Nicht-Saxophonisten, "Concorde" von John Lewis, dem im Jahre 2001 verstorbenen Leiter des Modern Jazz Quartet: Branford Marsalis hier ganz cool und kurz und mit den typischen netten barocken Kontrapünktchen auch in den Gruppenimprovisationen.
Wynton Marsalis, den der New Yorker Journalist Bill Milkowski kürzlich als Wunschkandidaten für den Propaganda-Minister in einer virtuellen alternativen Regierung mit etwas mehr Swing nominierte, als er den derzeit Herrschenden zu eigen ist, hat mit seinem Werk "All Rise" mal wieder ganz groß hingelangt. Drei Chöre, Vokalsolisten, Sinfonierorchester und Jazz Big Band mußten es diesmal sein, um "meine zehnjährige Odyssee der Suche nach komplexeren Orchestrierungen großformatiger Stücke auf der Basis amerikanischer Musiksprachen kulminieren zu lassen". Das zwölfsätzige Oratorium des Workaholics, 1999 in New York mit den Philharmonikern uraufgeführt und später mit der Los Angeles Philharmonic unter Esa-Pekka Salonen für die Doppel-CD aufgenommen, bietet einen weltumarmenden Eklektizismus, der selbst für Wynton Marsalis neue Maßstäbe setzt. Die Texte erwachsen einem tiefem Gospel-Grund: Gebete um Freiheit, Erlösung und den Gewinn christlicher Einstellungen, positiv durchzogen von Hoffnungen eher als von Klagen. Die Musik mag in einigen Chorpassagen etwas monströs pathetisch und naiv textdeutend sein, an anderer Stelle seicht auf den Broadway-Boulevards tänzeln, aber sie ist, besonders in den Instrumentalteilen, immer brillant gearbeitet und sozusagen von endloser Farbigkeit.
Wyntons größter Zitierpool aus der E-Musik ist Strawinsky, dessen "Geschichte vom Soldaten" er 1998 mit neuer Handlung kompositorisch nachempfand. Wie er zum Beispiel aus Strawinsky-Strukturen Jazzphrasierungen herauslöst, das ist dann doch seine ganz eigene Sache, humorvoll, ehrgeizig, von ausufernder Phantasie. Überhaupt die zum Teil von außermusikalischen Ideen wie Begräbnisprozessionen, Gottesdienstritualen, der amerikanischen Symbolfracht des Eisenbahnzuges und emotionalen Entwicklungsprozessen der menschlichen Rasse angeregten Übergänge, Verarbeitungen, Mischungen! Pastoralidylle kleidet sich um von der Sinfonik in satte Jazz-Voicings; hinterwäldlerische Geigenfolklore liefert den Stoff für eine kunstvolle Kontrapunkt- und Synkopenparaphrase; Ellington-Farben, New Orleans-Blech, lateinamerikanische Tanzsaal-Nostalgie, Big-Band-Historie: friedfertig schöpferische Integration als Leitgedanke globaler Versöhnungs-Szenarien.
Geborgen in der Familien-Ideologie gibt sich auch Youngster Jason mit dem Debüt seiner jungen Truppe auf der CD "The Year Of The Drummer": In seinen für aufwendige Arrangements und lateinamerikanische Ausflüge offenen Hard Bop bindet er Reflexionen auf verschiedene Schlagzeugspielweisen der Marschorchester von New Orleans ein. Die Stadt am Anfang des Jazz spielt auch auf der CD mit allen Marsalis-Musikern eine Rolle, allemal bei "Struttin' With Some Barbecue", keine so gewichtige allerdings, denn der harmlose Konzertmitschnitt im Stil eines etwas zwanghaft gutgelaunten Familientreffens hüpft auch gelegentlich im Gewand des federleichten West Coast Jazz über die Bühne.
ULRICH OLSHAUSEN
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