Die Männer aus dem kleinen netten Kaff suchen eine im Zorn entlaufene junge Frau (Olivia Pascal, liebenswerter denn je) in der lodernden Großstadt. Eine Frau, um die sie sich ernsthaft Sorgen machen müssen, denken sie. Müssen sie natürlich am Ende nicht. Aber sie suchen hektisch und finden erst mal "die Gräfin", die "Königin der Nacht" auf einem Fest in einem leeren Krankenhaus: Wir sehen Barbara Rudnik, kostümiert als Topmannequin der Sechziger und ausgelobt als erotischer Preis für den Sieger im Ringkampf gegen einen dressierten Braunbären. Das Ganze ist aber kein Party-Scherz, sondern ein von findigen Fotografen arrangiertes Happening mit all den Irren des 68er-Münchens - aus Bognerscher Perspektive. (Unter ihnen Helga Anders in einem ihrer letzten Auftritte mit einer Gans an der Leine.)
Zum Gitarrensolo von "Hey Joe" fährt die Kamera dann um die Showqueen-Flügel des Stars herum und enthüllt uns allmählich eine Barbara Rudnik, so schön, dass - wenn ich mich recht erinnere - eine etwa gleichaltrige englische Schauspielerin ein paar Jahre zuvor weinend aus einer gemeinsamen Kostümprobe gekommen war. Die Sanftheit des alten Positivmaterials auf der Serien-DVD von "Irgendwie und Sowieso" ( ohne jedes Extra, verflucht noch mal!) lässt Rudniks Gesicht im Rückblick noch weicher erscheinen. Nix digitally remastered. Die Lichter der Nacht verschwimmen hier gnädig, anstatt pornographisch zu stechen.
1986 also ist Barbara Rudnik 28 Jahre alt, und ihre Schauspielerinnenkarriere läuft seit etwa vier Jahren munter drauflos. Das westdeutsche Kino liegt zu der Zeit nach Meinung aller ernsthaften Kritiker weit unter Weltniveau darnieder, es regieren "Supernasen" und Schimanski-Filme. Fassbinder ist seit drei Jahren tot. Der westdeutsche Film ist herrlich strukturschwaches Gebiet, Hauptdarsteller werden ab und zu noch auf der Straße entdeckt, und es gibt erst zwei Filmhochschulen in der BRD. Nach einigen Kurzfilmen geht Barbara Rudnik auf die Schauspielschule, ins "Zinnerstudio", zu dessen Eingang von der Schwabinger Herzogstraße aus eine steile Abfahrt in den tiefer gelegenen Asphalthinterhof führt. In der Sommersonne sieht man damals dort unten oft im Vorbeigehen die Hoffnungsträger den "kleinen Hey" pauken... Die berühmteste Abgängerin der kleinen Schule in den Siebzigern war Andrea Rau gewesen, eines jener verwundet wirkenden Starlets des deutschen Antiautorenfilms und des Bahnhofskinos, in Filmen von Manfred Purzer und in Softsex zu Ruhm gekommen. In den Siebzigern sah ich dort auch eine Postkarte von ihr am Schwarzen Brett hängen - aus Rom, woher auch sonst.
Zwanzig Jahre nach "Irgendwie und Sowieso" sitzt Barbara Rudnik dann in "Oktoberfest" anfangs kränkelnd in einem Auto und erwartet als erfahrene Schankkellnerin den letzten großen Oktoberfestansturm 2006. In ihr Gesicht hat sich mit den Jahren so etwas wie eine bleibende Tränenspur eingeschlichen, Melancholie und wachsende Stärke. Gleichzeitig immer noch ab und zu ihr wunderbares Lachen. Als der junge, wahnsinnig nette farbige Mitbürger und Tellerwäscher ihr sagt, wie schön sie ist, da winkt sie ab, und trotzdem gleitet etwas über ihr Gesicht, ein Strahlen für einen Moment, von dem man sich gewünscht hätte, es doch noch in zig anderen Filmen zu sehen. Was auch immer an dieser "Oktoberfest"-Rolle als etwas zu wenig scheint für eine wie Rudnik - ihr Auftritt wirkt trotzdem wie eine vorläufige Summe und ein neuerliches Versprechen zugleich.
Noch mal zurück zu 1986: "Müllers Büro" in Wien. Rudniks gesungener Orgasmus (!) in einer Detektivfilm-Musical-Farce, die die Österreicher inzwischen immerhin zu ewigem Film-Kulturgut ernannt haben. Seltsam aber, wie sehr Rudniks Name und Ausstrahlung doch immer mit München verknüpft geblieben sind. Mit einem bestimmten München, dem der Endsiebziger und Achtziger, vielleicht noch der frühen Neunziger. Andreas Thiel, Münchner Filmhochschüler derselben Generation, 2006 mit 49 Jahren plötzlich in Istanbul verstorben, hat aber doch eigentlich für immer das Motto der Achtziger-Epoche ausgesprochen. Damals, als wir "Neonstadt" drehten (in dem Rudnik mitspielte) und als ich schwer beeindruckt von Scorseses "Raging Bull" bei ihm um Zustimmung nachsuchte, kam seine Antwort knapp und klar: "Zu viel Kunst." Genau. Born in the Fifties. Eine Generation mit eigentümlich gebremstem Ehrgeiz, mit angeknackstem Selbstvertrauen oder vielleicht mit geradezu japanischer "Passivität" (dort im Fernen Osten eine Tugend) - je nach Temperament. Nachachtundsechziger eben. Wie erschöpft vom Remmidemmi der vorherigen BRD-Generation. Die grausige Weltniveau-Gier der nächsten Regiegeneration nach der 89er-Wende war noch scheinbar endlos weit weg.
Nach 1986 hätte man sich jedenfalls in einer deutschen Filmwelt - einer Welt, in der wir filmisch immer wundervolle, unendliche Provinz geblieben wären (also ohne diesen ganzen Global-Player-Deutscher-Film-Standort-Schwachsinn) -, in einer solchen Parallelwelt hätte man sich wahrhaftig für Rudnik eine andere Filmographie vorstellen können. Spätestens in Oliver Storz' "Drei Schwestern aus Germany" konnte man 2007 noch mal sehen: Wenn es eine Gerechtigkeit im Kino gäbe und wenn zum Beispiel der "Vorleser" bereits vor einigen Jahren in Deutschland gedreht worden wäre - dann wäre Rudnik die perfekte Heldin dafür gewesen. Was sie an Wissen über uns und unsere Vorfahren in sich hatte, was sie in ihrem Gesicht trug, das konnte Kate Winslet sich beim besten Willen nicht erspielen.
DOMINIK GRAF
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