Premierengäste maliziös zur Frühstücksvorführung und meinte, Festivalchef Marco Müller werde gleich allen Croissants servieren - danach werde er ihn aber eigenhändig mit einem Zementblock an den Füßen in der Lagune versenken.
Weinstein war nicht der einzige, der schlechte Laune hatte. Auch François Ozon waren wegen der endlosen Verzögerung die Hälfte der Premierengäste davongelaufen, und die andere Hälfte war wahrscheinlich auch nicht besserer Stimmung. Dabei genügte ein Blick ins Programm, um zu erkennen, daß der Zeitplan gar nicht funktionieren konnte. Schon die angegebenen Längen lappten zum Teil über die Anfangszeiten des nächsten Films, und wenn man bedenkt, wie lange es dauert, ein paar hundert Leute aus einem Saal zu bekommen und ihn dann wieder zu füllen, ist völlig klar, daß es zu eklatanten Verspätungen kommen mußte. Daß Al Pacino als Hauptdarsteller vom "Kaufmann von Venedig" bei der Premiere keinen Sitzplatz fand und mitten bei der Vorführung von "Eros" plötzlich eine falsche Filmspule eingelegt wurde, gehört dann fast schon zu den kleineren Pannen. Müller redete sich mit Sicherheitsvorkehrungen und größerem Andrang heraus, der eigene Augenschein belegte eher das Gegenteil. Wenn man nicht wüßte, daß Müller bereits mehrere Festivals geleitet hat, müßte man annehmen, daß hier ein totaler Anfänger am Werk war.
In dem ganzen Wirrwarr setzte die Jury am Ende auf Bewährtes, Allgemeinverträgliches. Sie zeichnete Mike Leighs Spezialdrama "Vera Drake" und dessen Hauptdarstellerin Imelda Staunton sowie Alejandro Amenábars Heuler "Mar adentro" und dessen Hauptdarsteller Javier Bardem aus - für Kim Ki-Duks wunderbaren Film "Binjip" blieb nur ein Regiepreis. Kontrovers diskutierte Filme wie Todd Solondz' "Palindromes" gingen ebenso leer aus wie "Land of Plenty" von Wim Wenders oder die ganze Riege der Franzosen, deren Filme interessanter und lebendiger waren als "Vera Drake" und ihre aufrechte Langeweile.
Nach Ozon und Desplechin lief noch "L'intrus" von Claire Denis, die ihren Ruf als eine der aufregendsten Regisseurinnen der Gegenwart mit diesem Film bekräftigte, der eine weltumspannende Geschichte zwischen französischem Jura und Südsee erzählte, die ganz dem Geiste von Robert Louis Stevenson verpflichtet ist. Ein alter Mann (Michel Subor) lebt mit seinen Hunden in der Waldeinsamkeit an der Grenze zur Schweiz, gejagt von den Gespenstern der Vergangenheit, gelegentlich besucht von einer Apothekerin. Eine Menge Leute streifen durch den Wald, Schmuggler, Flüchtlinge, düstere und einsame Figuren, und nie weiß man wirklich, wie real das Geschehen ist. Der Film handelt eher von Ahnungen und Heimsuchungen und zeichnet weniger den Weg des Mannes nach als die Spuren, die seine Erlebnisse in seiner Seele hinterlassen. Der Mann verbrennt seinen ukrainischen Paß, geht nach Genf, kauft mit dubiosen Geldern ein Spenderherz, läßt im koreanischen Pusan für seinen Sohn ein Boot bauen und stirbt in einer polynesischen Hütte. "L'intrus" mag stellenweise wirr sein und dem Zuschauer viel abverlangen, aber es gibt darin Bilder, die man nicht vergißt, und vor allem die Erkenntnis, wie eindimensional die Erzählweisen sind, auf die sich das Kino allzuoft freiwillig beschränkt.
Daß es manchmal aber auch sehr schön sein kann, sich auf klassische Erzählweisen zu besinnen, beweist Hou Hsiao-Hsien in "Kohi jikou" (Café Lumière), der anläßlich des hundertsten Geburtstags von Yasujiro Ozu dem Meister einen ganzen Film gewidmet hat, in dem er versucht, eine heutige Geschichte in dessen Geist zu inszenieren. Die Art, wie er den Menschen in langen, durchkomponierten Einstellungen immer auf Augenhöhe begegnet, wie er den Alltag in den einfachsten Details einfängt, findet sich in dieser "Tokyo Story" wieder. Eine junge Schriftstellerin ist schwanger, plant aber ohne den Vater. Sie liebäugelt statt dessen mit einem Buchhändler, der sich für Eisenbahnen interessiert und ihr bei den Recherchen über den Komponisten Jiang Ewn-Ye hilft. Hou findet seinen eigenen verzauberten Rhythmus, in dem die Wege der Menschen sich wie die der Züge kreuzen. Schon die einfachsten Verrichtungen bekommen ein Gewicht durch den zutiefst menschlichen Blick, der hier am Werk ist.
Ein ähnlich strenge Stilübung ist Jonathan Glazers atemraubender Film "Birth", der sich allerdings innerhalb der Konventionen des amerikanischen Erzählkinos bewegt. Die Geschichte erinnert von Ferne an "Sixth Sense", ohne auf dessen Tricks zurückzugreifen. Nicole Kidman spielt eine Witwe, die am Tag ihrer Neuverlobung von einem zehnjährigen Jungen heimgesucht wird, der behauptet, ihr verstorbener Mann zu sein. Erst glaubt sie an einen Kinderstreich, versucht die Sache lustig zu nehmen, aber als der Junge auch durch Drohungen nicht von seiner Behauptung abzubringen ist, holt sie die Trauer über ihren verstorbenen Mann wieder ein. So kommt langsam Bewegung in die Salons der Superreichen, in deren Gesellschaft diese Geschichte spielt. Glazer, der schon mit "Sexy Beast" überrascht hat, gelingt die grandioseste Einstellung des Festivals, wo die Kamera in einem Konzertsaal zu Wagners "Walküre" über das Publikum hinweg auf Nicole Kidman zufährt und wirklich minutenlang auf ihr verharrt, während ihr Gesicht um Fassung ringt. Schon dafür hätte sie hier einen Preis verdient.
Das Festival endete mit der lang erwarteten Vorführung von "Eros", in dem Wong Kar-Wai und Steven Soderbergh dem seit Jahrzehnten gelähmten Michelangelo Antonioni die Ehre erwiesen haben, jeweils eine Episode zu der seinen beizusteuern. Die von Wong Kar-Wai ist von geradezu traumhafter Schönheit, die von Antonioni leider bestürzend schlecht und die von Soderbergh auch nicht besonders inspiriert. Aber der Amerikaner hat den schönsten Satz des Festivals dazu gesagt: "Ich wollte einfach nur, daß mein Name mit Antonioni auf einem Plakat steht."
MICHAEL ALTHEN
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