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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Hanno Rauterberg besichtigt die neue städtische Vitalität
"Die vielen Bibliotheken und Museen, an denen ich im Leben vorbeigekommen bin", so ordnete Karl Kraus einmal seine Vorlieben, "hatten sich über meine Aufdringlichkeit nicht zu beklagen. Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an, und den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit, das war eine Beschäftigung, bei der die Genusssucht und die Lernbegier auf ihre Kosten kamen." Ob Kraus das auch heute noch behaupten würde, ist fraglich - er wäre mit seinen Präferenzen nun nicht mehr sonderlich originell.
Dass urplötzlich das Leben in die Stadt zurückgekehrt sei, ist zumindest die zentrale These von Hanno Rauterberg. Der "Zeit"-Redakteur diagnostiziert eine wachsende Sehnsucht nach überschaubarem Handlungsraum, in dem sich die Zukunft gestalten lässt. Er erzählt von einem "Urbanismus von unten, der die Stadt wiedererweckt". Und er schildert, "wie sich viele Bürger den öffentlichen Raum auf mannigfache Weise aneignen und wie sie ihn verändern".
So berichtet er von Flashmobs, bei denen sich Menschen über das Internet oder per SMS-Mitteilungen zu skurrilen Kurzaktionen verabreden, etwa zum Polkatanzen oder zu Kissenschlachten. Was freilich nicht heißt, dass die Digitalmoderne eine bis dato ungeahnte demokratische Partizipation befördert. Die Massenproteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, die Eruptionen des Bürgerzorns gegen Stuttgart 21 entfalteten ihre Kraft durch physische Präsenz. Das Internet mag enorme Vorzüge als Werkzeug haben; es verbreitet die Kunde von Geschehnissen sehr rasch, senkt die Schwelle, Proteste zu artikulieren, und reduziert die Kosten von Kommunikation und Organisation. Aber politische oder soziale Umwälzungen erfordern ein leibhaftiges Engagement.
Wo es ernst wird, reicht das Netz nicht aus. Erst "draußen" bekommt man die Gewalt der Staatsmacht richtig zu spüren; wichtige Entscheidungen werden nicht im Netz erzwungen, sondern durch Demonstrationen, Straßenblockaden und Urnengänge. Der öffentliche Raum ist nach wie vor eine Bühne, auf der gesellschaftliche Konflikte artikuliert und vorgetragen werden; er ist aber auch Ort personaler Selbstdarstellung und Inszenierung. Schließlich leben wir einer institutionell hochgradig verregelten Welt, die so mit Vorschriften, Konventionen und Verboten zugestellt ist, dass Straße und Platz die einzigen Orte zu sein scheinen, die jedermann zur Verfügung stehen, um sich (mehr oder weniger) außerhalb dieses Regelwerks zu bewegen.
Rauterbergs Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, auch kein theoriesatter Essay, eher ein Manifest: geschrieben für den passionierten Stadtliebhaber, dabei kurzweilig und anschaulich. Man könne es gar nicht übersehen: Das Urbane fülle sich mit neuer Vitalität. Ob nun Urban Knitting und Zwischennutzer, ob Guerrilla Gardening oder Stadtpioniere: In und mit solchen - mitunter anarchischen - Aktionen "kündigt sich nichts Geringeres als ein gesellschaftlicher Wandel an: Gegen die Ökonomie der selbstsüchtigen Herzen setzen viele der urbanistischen Bewegungen einen Pragmatismus der Anteilnahme und des Teilens." Selbst wer weniger optimistisch gestimmt ist, muss doch konstatieren, dass das Verhältnis von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung auf der städtischen Bühne gerade neu austariert wird.
Nach wie vor gibt es viele gute Gründe, den öffentlichen Raum als Ort zu sehen, in dem etwa Heranwachsende sich spielerisch an gesellschaftliche Bedingungen herantasten, ihre eigene Wirkung testen und dabei Grenzen ausloten. Andererseits besagen diverse sozialwissenschaftliche Untersuchungen, dass es damit nicht weit her ist: Vielerorts fühlen sich Nutzer des öffentlichen Raums immer mehr durch Menschen und Dinge gestört, die eigentlich dort Platz haben müssten, wenn die Stadt als Ort der Differenz und Diversität gelten soll. Wie viel Neben- oder gar Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen im öffentlichen Raum möglich und erwünscht sind, bleibt offen. Mag Rauterbergs Plädoyer für einen Do-it-yourself-Urbanismus auch etwas positivistisch geraten sein - eine inspirierende Lektüre bietet es allemal.
ROBERT KALTENBRUNNER
Hanno Rauterberg: "Wir sind die Stadt!" Urbanes Leben in der Digitalmoderne.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 159 S., br., 12,- [Euro].
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