"Sie ahnte, dass es nur diese Geschichte war, die es ihr erlauben würde, das Schweigen über die tiefe Schuld, die sie seit Jahrzehnten mit sich trug, zu brechen. Ob sie am Ende die Kraft haben würde, der Scham zu entkommen und das Schweigen tatsächlich zu beenden, wusste sie nicht." (Zitat S.
135)
Katharina Fuchs gehört zu den Autorinnen, deren Bücher ich bisher gerne gelesen habe. Ihre Romane…mehr"Sie ahnte, dass es nur diese Geschichte war, die es ihr erlauben würde, das Schweigen über die tiefe Schuld, die sie seit Jahrzehnten mit sich trug, zu brechen. Ob sie am Ende die Kraft haben würde, der Scham zu entkommen und das Schweigen tatsächlich zu beenden, wusste sie nicht." (Zitat S. 135)
Katharina Fuchs gehört zu den Autorinnen, deren Bücher ich bisher gerne gelesen habe. Ihre Romane überzeugen normalerweise durch eine feinfühlige Erzählweise, authentische Figuren und fundiert recherchierte historische Hintergründe. Umso enttäuschender ist es, dass „Vor hundert Sommern“ genau in diesen Punkten schwächelt. Statt eines fesselnden Familiengeheimnisses erwartet den Leser eine Gegenwartsebene, die sich in einer Überfrachtung an Themen verliert und der Geschichte jegliche Dynamik nimmt.
Die historische Handlung ist das stärkere Element des Romans. Die junge Clara lebt im Berlin der 1920er Jahre und betreibt einen Hundesalon. Als sie dem idealistischen Revolutionär Aleksei erlaubt, geheime Treffen in ihrem Hinterzimmer abzuhalten, überschreitet sie unwissentlich eine Grenze und besiegelt damit ihr eigenes Schicksal und das ihrer Familie.
Die Zeit der Weimarer Republik, der zunehmende Extremismus und das fragile gesellschaftliche Gefüge sind atmosphärisch dicht beschrieben. Hier beweist Katharina Fuchs, dass sie ihr Handwerk beherrscht.
Allerdings wird diese erzählerische Stärke durch die Gegenwartsebene ausgebremst. Statt einer klaren Verbindung zur Vergangenheit verliert sich die Geschichte in einer Masse an gesellschaftspolitischen Themen. Veganismus, Klimakrise, Hass und Hetze im Internet, Mobbing, Demos gegen Rechts, Social Media als Berufsfeld, Eisbaden als Trendsport – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Es wirkt, als hätte die Autorin ein Abziehbild aktueller Debatten erstellt, um dem Roman Modernität zu verleihen. Doch anstatt sich authentisch in die Handlung einzufügen, stehen diese Themen wie Fremdkörper im Text.
Das größte Problem ist dabei nicht einmal die Anzahl der angeschnittenen Themen, sondern ihre Oberflächlichkeit. Nichts davon wird wirklich vertieft oder kritisch beleuchtet – es bleibt bei Schlagworten, die fast schon belehrend auf den Leser wirken. Das eigentliche Familiengeheimnis, das den Roman tragen sollte, gerät dabei völlig in den Hintergrund.
Hinzu kommt ein weiteres Manko: die Figuren. Während Clara in der Vergangenheitsebene glaubwürdig und vielschichtig gezeichnet ist, wirken die Figuren der Gegenwart oft hölzern. Sie sprechen nicht wie echte Menschen, sondern wie Sprachrohre für gesellschaftliche Diskurse. Besonders irritierend ist, dass Lenas Großmutter Elisabeth die Geschichte von Clara in solch exakten Details erzählt, obwohl sie damals noch nicht einmal geboren war. Diese Konstruiertheit zieht sich durch den gesamten Roman.
Zudem leidet die Geschichte unter einem zähen Erzähltempo. Die Fülle an Themen nimmt ihr die Spannung und sorgt dafür, dass sie streckenweise träge wirkt. Gerade im Mittelteil passiert zu wenig, um die Aufmerksamkeit des Lesers durchgehend zu fesseln. Und wenn schließlich Antworten auf offene Fragen geliefert werden, ist es zu spät, um das Ruder noch herumzureißen.
Fazit:
"Vor hundert Sommern" hätte ein packender und berührender Familienroman sein können, doch die überladene Gegenwartsebene erstickt sein Potenzial.
Statt einer tiefgründigen Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart erfolgt lediglich eine Aneinanderreihung aktueller Themen, die konstruiert und oberflächlich wirken.
Während die historische Erzählung überzeugt, verliert sich der Roman zunehmend in Belanglosigkeiten und langweilt den Leser.