Thüringen; könnte sein Körper sprechen, schreibt Sellin, "er würde mich anbrüllen, ob ich noch ganz bei Trost bin: fünfundvierzig Kilometer!" Das gibt den Grundton des Buches vor: unterhaltsam, mit ironischer Distanz zum eigenen Tun und Sein. Ein Weg an der ehemaligen innerdeutschen Grenze entlang führt zwangsläufig in die Geschichte. Sellin wuchs in der Nähe von Leipzig auf, der Weg berührt also auch seine persönliche Vergangenheit, auf die er nüchtern, wenn auch mit emotionaler Verbundenheit blickt. Sein Heimatland sei ihm abhandengekommen, schreibt er, da es die DDR nicht mehr gibt. Er weint ihr keine Träne hinterher. Er fühle sich wohl im Westen, aber nirgends wirklich zugehörig. Möglicherweise drückt er damit das Grundgefühl einer Generation aus. Solch tiefsinnigen Gedanken kommen ihm beim Gehen, aber oft amüsieren sich die beiden Männer auch gut bei ihrer Reise. Dann bekommt Sellin ein schlechtes Gewissen, "der alte Grenzstreifen als Vergnügungsmeile?" Der Autor ist nicht menschenscheu, mit Wirten und Spaziergängern, Verkäuferinnen und alten Frauen, mit allen redet er, fragt sie aus, vor allem über die Gegenwart, über das Leben am Kolonnenweg, wie die Betonplattenspur am Grenzzaun entlang heißt. Diese kurzen Einblicke ergeben ein Mosaik aus Atmosphäre und Befindlichkeiten. Aber wandernd fällt Sellin in eine Unrast. Weitwanderer kennen diesen Zustand: Man freut sich über schöne Momente, schöne Orte, schöne Blicke, aber bleiben möchte man nirgends. Anrührend sind die Passagen, in denen Vater und Sohn ins Gespräch kommen. Über drei Sätze scheinen die Dialoge selten hinauszugehen, die große Nähe der beiden ist dennoch spürbar. Groß macht das Buch die Zurückgenommenheit in all diesen Dingen. Auch am Schluss. "Ein Resümee?", fragt der Autor, nach 1400 Kilometer zu Fuß sei es zu früh, diese Frage zu stellen.
bär.
"Wenn der Vater mit dem Sohn. Unsere Wanderung durch Deutschlands unbekannte Mitte" von Fred Sellin. Malik Verlag, München. 2009. Einige Fotos. 320 Seiten. Gebunden, 19,90 Euro.
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