ihm sprechen während der langen Fahrt?
Die Schwierigkeit sich mitzuteilen durchzieht leitmotivisch Marjaleena Lembckes neue Erzählung aus ihrer finnischen Kindheit. Vater und Tochter schweigen lange nebeneinander her. Die Reise des Vaters gilt der eigenen Vergangenheit; für die Tochter bringt sie, ihrem Alter angemessen, ein vertieftes Verständnis ihrer Herkunft, ihrer familiären und nationalen Geschichte. Die erste Reiseetappe führt die beiden zu einem Großonkel, dessen Heiterkeit manche Hemmungen zwischen Vater und Tochter löst. Der Vater erzählt Leena eine lappländische Liebesgeschichte, die am Ende überraschend auf ihn selbst weist. Auf der Fahrt zur nächsten Station, seiner Heimatstadt, erzählt er von seinen Eltern und seiner Kindheit. Leena beginnt zu verstehen, was ihm Hammerfest bedeutet: Sein von schwerster Arbeit, Sorge und Krankheit gezeichneter Vater hatte ihm und seinen Geschwistern die nördlichste Stadt der Welt als Paradies auf Erden, als Traumstadt der Verheißung ausgemalt. Dieser Chiffre des Glücks gilt die Sehnsucht, nicht der realen Stadt. Sie zu erreichen kann daher aufgegeben werden, wenn das verborgene innere Ziel der Reise erkennbar wird. Hier lebt die erste Frau des Vaters mit seinem Sohn, den er nie kennengelernt hat. Hier erfährt Leena das Geheimnis ihrer Eltern.
Es geschieht nicht viel in dieser Erzählung. Aus der Selbstbezogenheit ihrer emotionalen Wirrnisse wird Leenas Blick behutsam auf den Vater gelenkt, den sie überhaupt erst als Person zu sehen beginnt, als Menschen mit ungelösten Problemen und einer Vergangenheit, die nicht vorbei ist. Am Ende gibt sie den entscheidenden Impuls für die Begegnung des Vaters mit seinem Sohn, zu der er allein nicht den Mut hatte.
Der Reiz der Erzählung liegt nicht in Handlungs- und Figurenreichtum, sondern in der Vergegenwärtigung von Empfindungen, Erfahrungen, Atmosphären. Marjaleena Lembcke unterbietet die dramatischen Verwicklungen gängiger Jugendromane zugunsten einer zurückhaltenden, unspektakulären Handlung, in der sich die langsame Überwindung der Sprachlosigkeit vollzieht. Statt superlativischer Leidenschaften zeichnet sie mit präzisen Linien alltägliche Krisen, Wunschträume und Hemmungen, wie sie Eltern und Kinder gleichermaßen durchleben.
GUNDEL MATTENKLOTT.
Marjaleena Lembcke: "Und dahinter das Meer". Nagel & Kimche, Zürich 1999. 156 S., geb., 24,80 DM. Ab 12 J.
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