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Cormac McCarthy
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Stella Maris (Mängelexemplar)
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Sechzehn Jahre nach seinem Weltbestseller Die Straße kehrt Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy zurück mit seinem zweibändigen Meisterwerk. Der Passagier und Stella Maris: Zwei Romane ohne Vorbild. Die Wahrheit des einen negiert die des anderen.1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western, zwanzig Jahre alt, lässt sich mit vierzigtausend Dollar in einer Plastiktüte und einem manifesten Todeswunsch in die Psychiatrie einweisen. Die Diagnose der genialen jungen Mathematikerin und virtuosen Violinistin: paranoide Schizophrenie. Über ihren Bruder Bobby spricht sie nicht. Stattdessen d...
Sechzehn Jahre nach seinem Weltbestseller Die Straße kehrt Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy zurück mit seinem zweibändigen Meisterwerk. Der Passagier und Stella Maris: Zwei Romane ohne Vorbild. Die Wahrheit des einen negiert die des anderen.
1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western, zwanzig Jahre alt, lässt sich mit vierzigtausend Dollar in einer Plastiktüte und einem manifesten Todeswunsch in die Psychiatrie einweisen. Die Diagnose der genialen jungen Mathematikerin und virtuosen Violinistin: paranoide Schizophrenie. Über ihren Bruder Bobby spricht sie nicht. Stattdessen denkt sie über Wahnsinn nach, über das menschliche Beharren auf einer gemeinsamen Welterfahrung, über ihre Kindheit, in der ihre Großmutter um sie fürchtete - oder sie fürchtete? Alicias Denken kreist um die Schnittstellen zwischen Physik, Philosophie, Kunst, um das Wesen der Sprache. Und sie ringt mit ihren selbstgerufenen Geistern, grotesken Chimären, die nur sie sehen und hören kann. Die Protokolle der Gespräche mit ihrem Psychiater zeigen ein Genie, das an der Unüberwindbarkeit der Erkenntnisgrenzen wahnsinnig wird, weder im Reich des Spirituellen noch in einer unmöglichen Liebe Erlösung findet und unsere Vorstellungen von Gott, Wahrheit und Existenz radikal infrage stellt.
1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western, zwanzig Jahre alt, lässt sich mit vierzigtausend Dollar in einer Plastiktüte und einem manifesten Todeswunsch in die Psychiatrie einweisen. Die Diagnose der genialen jungen Mathematikerin und virtuosen Violinistin: paranoide Schizophrenie. Über ihren Bruder Bobby spricht sie nicht. Stattdessen denkt sie über Wahnsinn nach, über das menschliche Beharren auf einer gemeinsamen Welterfahrung, über ihre Kindheit, in der ihre Großmutter um sie fürchtete - oder sie fürchtete? Alicias Denken kreist um die Schnittstellen zwischen Physik, Philosophie, Kunst, um das Wesen der Sprache. Und sie ringt mit ihren selbstgerufenen Geistern, grotesken Chimären, die nur sie sehen und hören kann. Die Protokolle der Gespräche mit ihrem Psychiater zeigen ein Genie, das an der Unüberwindbarkeit der Erkenntnisgrenzen wahnsinnig wird, weder im Reich des Spirituellen noch in einer unmöglichen Liebe Erlösung findet und unsere Vorstellungen von Gott, Wahrheit und Existenz radikal infrage stellt.
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Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte seinen Roman 'Die Straße' als 'das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte' (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt, 'Kein Land für alte Männer' von den Coen-Brüdern, 'Der Anwalt' von Ridley Scott und 'Ein Kind Gottes' von James Franco. Cormac McCarthy starb im Juni 2023 in Santa Fe, New Mexico. Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u.a. Jonathan Safran Foer, Colum McCann, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle und Oliver Sacks. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.

© Derek Shapton
Produktbeschreibung
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- Originaltitel: Stella Maris
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 240
- Erscheinungstermin: 22. November 2022
- Deutsch
- Abmessung: 215mm x 146mm x 28mm
- Gewicht: 422g
- ISBN-13: 9783498003364
- ISBN-10: 3498003364
- Artikelnr.: 66664723
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensent Claus-Jürgen Göpfert verneigt sich vor Cormac McCarthy, der sich nach langer Pause und mit fast 90 Jahren noch einmal mit zwei Romanen zu Wort meldet. Diese sollte man laut Göpfert am besten parallel lesen, so eng hängen für ihn "Der Passagier" und "Stella Maris" zusammen: Beide erzählen von dem Geschwisterpaar Alice und Bobby und ihrer inzestuösen Liebe zueinander, wobei sich das erste Buch mehr um Bobby und die Traumata der jüngeren US-amerikanischen Geschichte, das zweite Buch mehr um die hochbegabte aber psychisch kranke Alice und die Mathematik dreht, wie Göpfert zusammenfasst. Dabei macht er drei für McCarthys Schreiben bezeichnende Ebenen aus: die politische, auf der der Autor etwa über die Atombombe oder die Ermordung J.F. Kennedys sinniere, die poetische, die bei McCarthy nicht selten eine der brutalen Beschreibung von Menschheitsverbrechen sei, und die Ebene der Naturbeschwörung - hier zeigt sich für Göpfert am deutlichsten das Sprachtalent McCarthys, dessen "karge" und zugleich "melancholische" Prosa den Kritiker auch dieses Mal wieder besticht. Ein umfangreiches und eindrückliches "Alterswerk", staunt Göpfert, für den die vielen "kulturpessimistischen, zivilisationskritischen Seitenhiebe" da ganz selbstverständlich dazu gehören.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Claus-Jürgen Göpfert verneigt sich vor Cormac McCarthy, der sich nach langer Pause und mit fast 90 Jahren noch einmal mit zwei Romanen zu Wort meldet. Diese sollte man laut Göpfert am besten parallel lesen, so eng hängen für ihn "Der Passagier" und "Stella Maris" zusammen: Beide erzählen von dem Geschwisterpaar Alice und Bobby und ihrer inzestuösen Liebe zueinander, wobei sich das erste Buch mehr um Bobby und die Traumata der jüngeren US-amerikanischen Geschichte, das zweite Buch mehr um die hochbegabte aber psychisch kranke Alice und die Mathematik dreht, wie Göpfert zusammenfasst. Dabei macht er drei für McCarthys Schreiben bezeichnende Ebenen aus: die politische, auf der der Autor etwa über die Atombombe oder die Ermordung J.F. Kennedys sinniere, die poetische, die bei McCarthy nicht selten eine der brutalen Beschreibung von Menschheitsverbrechen sei, und die Ebene der Naturbeschwörung - hier zeigt sich für Göpfert am deutlichsten das Sprachtalent McCarthys, dessen "karge" und zugleich "melancholische" Prosa den Kritiker auch dieses Mal wieder besticht. Ein umfangreiches und eindrückliches "Alterswerk", staunt Göpfert, für den die vielen "kulturpessimistischen, zivilisationskritischen Seitenhiebe" da ganz selbstverständlich dazu gehören.
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Mit diesen beiden Romanen hat Cormac McCarthy sein Vermächtnis formuliert. Er schert sich nicht um literarische Moden, das hat er nie getan. Er bleibt seiner kritischen Sicht auf unsere Spezies treu: "Die Zeitalter der Menschen ziehen sich von Grab zu Grab." Keiner kann das besser illustrieren als dieser Schriftsteller. Claus-Jürgen Göpfert Frankfurter Rundschau 20221231
»Christian Brückner ist und bleibt für mich ein Meister der Zwischentöne und der Pausensetzung. Er kann ganz leise und klein wirken, dann wieder aufbrausen - er nutzt diesen Text wie eine Partitur.« Dorothee Meyer-Kahrweg HR 20230113
Schwarzes
Schweigen
Sechzehn Jahre nach „Die Straße“ erscheint
wieder ein Roman von Cormac McCarthy.
Und dann gleich noch einer
VON FELIX STEPHAN
Cormac McCarthy wurde einmal vom Santa Fe Institute, dem er seit Jahrzehnten angehört, gebeten, ein sogenanntes Mission Statement zu formulieren. Solche Absichtserklärungen gehören zu den Texten, die in einer drittmittelgetriebenen Forschungswelt im Grunde ununterbrochen geschrieben werden müssen, deshalb ist es praktisch, wenn man einen der bedeutendsten Schriftsteller des Planeten im Haus hat.
Das Santa Fe Institute sei jedenfalls auf der Suche nach Leuten, schrieb Cormac McCarthy, die über ein bestimmtes Thema mehr wüssten als irgendjemand
Schweigen
Sechzehn Jahre nach „Die Straße“ erscheint
wieder ein Roman von Cormac McCarthy.
Und dann gleich noch einer
VON FELIX STEPHAN
Cormac McCarthy wurde einmal vom Santa Fe Institute, dem er seit Jahrzehnten angehört, gebeten, ein sogenanntes Mission Statement zu formulieren. Solche Absichtserklärungen gehören zu den Texten, die in einer drittmittelgetriebenen Forschungswelt im Grunde ununterbrochen geschrieben werden müssen, deshalb ist es praktisch, wenn man einen der bedeutendsten Schriftsteller des Planeten im Haus hat.
Das Santa Fe Institute sei jedenfalls auf der Suche nach Leuten, schrieb Cormac McCarthy, die über ein bestimmtes Thema mehr wüssten als irgendjemand
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sonst – unabhängig von Alter, Geschlecht oder akademischem Rang. Solchen Leuten könne man Arbeitsbedingungen bieten, die es anderswo schlicht nicht gebe, „period.“ Der letzte Satz lautet: „Gelegentlich stellt sich heraus, dass einer unserer Gäste geistesgestört ist. Das löst bei uns allen in der Regel große Freude aus. Wir wissen, wir sind auf der richtigen Spur.“
Soeben ist 16 Jahre nach dem Welterfolg „The Road“ Cormac McCarthys neuer Roman in zwei Büchern erschienen, und die erste Nachricht lautet, dass eine der beiden Hauptfiguren damit sehr genau beschrieben ist: die junge, wunderschöne, hochbegabte Mathematikerin Alicia Western, die zwar über ein hochfunktionales Gehirn verfügt, aber seit dem elften Lebensjahr von Halluzinationen heimgesucht wird. Am Fuße ihrer Betten lungert stets eine Gruppe von Gestalten herum, die einem Roald-Dahl-Märchen entsprungen sein könnte, und die von einem Zwerg angeführt wird, der anstelle von Händen nur Flossen hat. Zahlreiche psychiatrische Behandlungen hat Alicia Western deswegen hinter sich, aber sie kann so distanziert und rational über ihre Erscheinungen sprechen, dass nicht wenige Ärzte ihr unterstellen, sie simuliere. Alicia Western ist das zweite Buch gewidmet, es besteht ausschließlich aus einem Gespräch zwischen ihr und einem Arzt in einer Nervenheilanstalt, die genau so heißt wie der Roman: „Stella Maris“. Es ist das interessantere der beiden Bücher, weil Cormac McCarthy sich darin von erzählerischen Zwängen befreit hat und nur noch purer Existenzialismus übrig bleibt.
Das erste Buch, „Der Passagier“, hingegen ist McCarthys vorangegangenen Romanen formal sehr viel ähnlicher. Im Mittelpunkt steht Robert Western, Alicias älterer Bruder, er arbeitet als Bergungstaucher. Zu Beginn taucht er zu einem abgestürzten Flugzeug hinab und stellt fest, dass sowohl der Flugschreiber als auch ein Passagier fehlen. In den Zeitungen steht kein Wort über den Absturz, obwohl es eine ruhige Gegend ist, in der sonst jede Katzenrettung gemeldet wird. Ihm wird klar, dass er etwas gesehen hat, das er nicht hätte sehen sollen, und bald findet er seine Wohnung verwüstet vor, Männer in Anzügen lauern ihm auf und unterziehen ihn freundlicher Befragungen, irgendwann sind sein Pass und sein Konto gesperrt. Nie erfährt man, wer diese Leute sind oder was es mit dem Fall auf sich hat. Sie sind nur immer da und sitzen Robert Western im Nacken und wir sehen ihm dabei zu, wie er sich peu à peu mit dem Unausweichlichen abfindet.
Cormac McCarthy ist kein musikalischer Erzähler, seine Romane leben vom Schweigen der Unendlichkeit, das alles dröhnend umgibt. Im Zentrum erscheint immer alles schrecklich sinnlos. Ein typisches Stilmittel sind die detaillierten Schilderungen banaler Verrichtungen, die im Angesicht der endlosen Schwärze des Alls wirken, als sei hier jemand im Begriff, den Verstand zu verlieren. An dieser Stelle zum Beispiel, in der jeder Satz mit „Er“ beginnt: „Er zog das Telefonkabel aus der Wandbuchse, nahm die Bettdecke mitsamt den Kissen vom Bett und ging ein letztes Mal durch die Wohnung. Er hob die Katzenkiste vom Boden auf. Er besaß nicht viel, aber es sah bereits nach zu viel aus. Er zog den Stecker der Tischlampe, trug sie zur Tür und schaffte dann alles zum Laster hinaus, verstaute es in der Fahrerkabine oder klemmte es vor den Ausleger.“
Die Eltern von Robert und Alicia Western haben sich beim „Manhattan Project“ kennengelernt, wo ihr Vater als Physiker gearbeitet hat und ihre Mutter als eine der sogenannten Calutron-Frauen Uran anreicherte. Sie sind gewissermaßen aus jenem menschheitsgeschichtlichen Moment hervorgegangen, an dem die Spezies von ihrer eigenen Gnade abhängig wurde. Seit es die Atombombe gibt, die im Zweifel alles vernichten kann, ist die Menschheit darauf angewiesen, dass sie sich selbst am Leben lässt. „Über das Manhattan Project haben alle dasselbe gesagt“, berichtet Alicia: „Sie hätten noch nie in ihrem Leben so viel Spaß gehabt. Aber jeder, der nicht begreift, dass das Manhattan Project eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit ist, hat nicht aufgepasst. Es liegt gleichauf mit Feuer und Sprache. Es ist mindestens Nummer drei und vielleicht sogar Nummer eins.“ Als der Vater zum ersten Mal eine Atombombe explodieren sieht, hält er sich die Hände vor die Augen und erblickt – durch die eigenen Lider – die Knochen seiner Finger. Der Sensenmann wird persönlich vorstellig. Er könne Literatur nicht ernst nehmen, die nicht vom Tod handele, soll Cormac McCarthy einmal gesagt haben, weshalb er sich über die Bücher von Marcel Proust und Henry James nur wundern könne.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht so überraschend nun doch wieder nicht, dass sich jenes Buch leichtfüßiger, freier und lustiger liest, das nicht episch ist. Wenn McCarthy einfach direkt Theorien diskutieren kann, ohne sie in eine Romandramaturgie übersetzen zu müssen, wirkt es, als hätte man ihn von der Leine gelassen. In „Stella Maris“ geht es unter anderem um Chestertons Satan-Begriff, um Wittgensteins Überzeugung, die gesamte Mathematik sei eine Tautologie, um die irritierende Absenz des Darwinismus in Sigmund Freuds Traumtheorie, um Bernhard Riemanns Ehrgeiz, Euklid vom Thron zu stoßen. Einen großen Teil des Gesprächs widmen McCarthy und Alicia Western der Frage, ob die Mathematik ohne den Menschen existieren würde, und wenn nein, welche Fragen Mathematiker dann eigentlich genau beantworten. Zahlen gebe es in der Natur jedenfalls schon einmal nicht. Womöglich fange die Mathematik auch deshalb an dem Punkt an, interessant zu werden, in dem sie die Zahlen hinter sich lässt.
Auftritt Alexander Grothendieck: Der Mathematiker Alexander Grothendieck ist in der breiten Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt, von den Fachkollegen halten ihn hingegen viele für den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts. Erst langsam findet er auch Eingang in die Gegenwartsliteratur. 2020 hat ihm der chilenische Schriftsteller Benjamín Labatut in seiner brillanten Erzählsammlung „Das blinde Licht“ ein ganzes Kapitel gewidmet. Bei McCarthy ist er jetzt so etwas wie der Schutzengel für das von allen guten Geistern verlassene Genie Alicia Western. Von ihrer gemeinsamen Zeit spricht sie außergewöhnlich warmherzig, fast zärtlich.
Der französische Millionär Léon Motchane hatte 1958 in der Nähe von Paris das Institut des Hautes Études Scientifiques (IHES) gegründet und es Grothendieck praktisch zur freien Verfügung übergeben. Mit gerade einmal dreißig Jahren kündigte dieser dort ein Programm an, das die Geometrie neu aufstellen und alle Zweige der Mathematik vereinen sollte: „Eine ganze Generation von Professoren und Studenten unterwarf sich seinem Traum“, heißt es bei Labatut, „Zwischen 1958 und 1973 herrschte Alexander Grothendieck auf dem Feld der Mathematik wie ein Fürst der Aufklärung und zog die besten Köpfe seiner Generation in seinen Orbit.“
Bei Cormac McCarthy nun ist einer dieser Köpfe Alicia Western. Als sie siebzehn ist und ein Studium an der University of Chicago schon abgeschlossen hat, bekommt sie ein Stipendium vom IHES und arbeitet dort an ihrer Dissertation über die Topos-Theorie. Im ersten Teil dieser Dissertation beweist sie ein paar Vermutungen, im zweiten zeigt sie dann, „dass nicht nur diese besonderen Beweise falsch waren, sondern dass alle derartigen Beweise an ihrer eigenen Problemstellung vorbeigingen.“
Sie verliert den Glauben an die Mathematik als System der Wirklichkeitsabbildung ungefähr zur selben Zeit, als Grothendieck seinerseits die Mathematik aufgibt und in Südfrankreich eine radikalökologische Kommune gründet, die jedoch auch nicht lange hält. Dann verschwindet er von der Bildfläche. Einmal hört man noch von ihm, als er in Avignon bei einer Demo von Umweltaktivisten zwei Polizisten angreift. Die letzten Jahre seines Lebens streift er unerkannt, bärtig und barfuß durch die ländliche Gegend am Fuße der Pyrenäen, hin und wieder aufgespürt von Verehrern aus aller Welt, die er allesamt ignoriert. An genau diesem Punkt, an dem sich intellektuelle Brillanz, Wahnsinn und Weltabgewandtheit begegnen, ist Cormac McCarthy erzählerisch ganz bei sich.
„Stella Maris“ ist, mehr noch als „Der Passagier“, ein Ereignis, weil es sich näher an die Grenzen dessen wagt, was gewusst werden kann, als jeder andere Roman in diesem Jahr. Die meisten ihrer Helden seien Mathematiker, sagt Alicia an einer Stelle: Gödel, Riemann, Poincaré, Noether. „Wenn man sich diese Namen und das Werk, für das sie stehen, ansieht, wird einem klar, dass im Vergleich dazu die Annalen der modernen Literatur und Philosophie unbeschreiblich öde sind.“ Immer wieder gibt es in diesem Buch Momente, in denen man meint, die Stimme von Cormac McCarthy durch jene von Alicia Western durchzuhören, und dieser Satz ist einer davon. Es scheint eine sehr spezifische Melancholie zu geben, die nur dann entsteht, wenn man die Ränder dessen geschaut hat, was sich verstehen lässt. Womöglich war sie im 20. Jahrhundert Naturwissenschaftlern vorbehalten, und womöglich sind sie deshalb so interessante Romanfiguren. Sie gehe davon aus, sagt Alicia einmal, dass sie die Erde verlassen werde, ohne wirklich verstanden zu haben, wo sie sich genau befunden hat.
„Stella Maris“ ist,
mehr noch als
„Der Passagier“,
ein Ereignis
Cormac McCarthy:
Der Passagier.
Roman. Aus dem
Englischen von
Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2022.
528 Seiten, 28 Euro.
Cormac McCarthy:
Stella Maris.
Roman. Aus dem
Englischen von
Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag,
Hamburg 2022.
240 Seiten, 24 Euro.
Taugt die Mathematik als System der Wirklichkeitsabbildung? Auch mit dieser Frage setzt sich Cormac McCarthy in seinem neuen Roman auseinander.
Foto: imago/imagebroker
Wo sich intellektuelle Brillanz, Wahnsinn und Weltabgewandtheit begegnen, ist er erzählerisch ganz bei sich: der US-amerikanische Schriftsteller Cormac McCarthy, geboren 1933.
Foto: Beowulf Sheehan
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Soeben ist 16 Jahre nach dem Welterfolg „The Road“ Cormac McCarthys neuer Roman in zwei Büchern erschienen, und die erste Nachricht lautet, dass eine der beiden Hauptfiguren damit sehr genau beschrieben ist: die junge, wunderschöne, hochbegabte Mathematikerin Alicia Western, die zwar über ein hochfunktionales Gehirn verfügt, aber seit dem elften Lebensjahr von Halluzinationen heimgesucht wird. Am Fuße ihrer Betten lungert stets eine Gruppe von Gestalten herum, die einem Roald-Dahl-Märchen entsprungen sein könnte, und die von einem Zwerg angeführt wird, der anstelle von Händen nur Flossen hat. Zahlreiche psychiatrische Behandlungen hat Alicia Western deswegen hinter sich, aber sie kann so distanziert und rational über ihre Erscheinungen sprechen, dass nicht wenige Ärzte ihr unterstellen, sie simuliere. Alicia Western ist das zweite Buch gewidmet, es besteht ausschließlich aus einem Gespräch zwischen ihr und einem Arzt in einer Nervenheilanstalt, die genau so heißt wie der Roman: „Stella Maris“. Es ist das interessantere der beiden Bücher, weil Cormac McCarthy sich darin von erzählerischen Zwängen befreit hat und nur noch purer Existenzialismus übrig bleibt.
Das erste Buch, „Der Passagier“, hingegen ist McCarthys vorangegangenen Romanen formal sehr viel ähnlicher. Im Mittelpunkt steht Robert Western, Alicias älterer Bruder, er arbeitet als Bergungstaucher. Zu Beginn taucht er zu einem abgestürzten Flugzeug hinab und stellt fest, dass sowohl der Flugschreiber als auch ein Passagier fehlen. In den Zeitungen steht kein Wort über den Absturz, obwohl es eine ruhige Gegend ist, in der sonst jede Katzenrettung gemeldet wird. Ihm wird klar, dass er etwas gesehen hat, das er nicht hätte sehen sollen, und bald findet er seine Wohnung verwüstet vor, Männer in Anzügen lauern ihm auf und unterziehen ihn freundlicher Befragungen, irgendwann sind sein Pass und sein Konto gesperrt. Nie erfährt man, wer diese Leute sind oder was es mit dem Fall auf sich hat. Sie sind nur immer da und sitzen Robert Western im Nacken und wir sehen ihm dabei zu, wie er sich peu à peu mit dem Unausweichlichen abfindet.
Cormac McCarthy ist kein musikalischer Erzähler, seine Romane leben vom Schweigen der Unendlichkeit, das alles dröhnend umgibt. Im Zentrum erscheint immer alles schrecklich sinnlos. Ein typisches Stilmittel sind die detaillierten Schilderungen banaler Verrichtungen, die im Angesicht der endlosen Schwärze des Alls wirken, als sei hier jemand im Begriff, den Verstand zu verlieren. An dieser Stelle zum Beispiel, in der jeder Satz mit „Er“ beginnt: „Er zog das Telefonkabel aus der Wandbuchse, nahm die Bettdecke mitsamt den Kissen vom Bett und ging ein letztes Mal durch die Wohnung. Er hob die Katzenkiste vom Boden auf. Er besaß nicht viel, aber es sah bereits nach zu viel aus. Er zog den Stecker der Tischlampe, trug sie zur Tür und schaffte dann alles zum Laster hinaus, verstaute es in der Fahrerkabine oder klemmte es vor den Ausleger.“
Die Eltern von Robert und Alicia Western haben sich beim „Manhattan Project“ kennengelernt, wo ihr Vater als Physiker gearbeitet hat und ihre Mutter als eine der sogenannten Calutron-Frauen Uran anreicherte. Sie sind gewissermaßen aus jenem menschheitsgeschichtlichen Moment hervorgegangen, an dem die Spezies von ihrer eigenen Gnade abhängig wurde. Seit es die Atombombe gibt, die im Zweifel alles vernichten kann, ist die Menschheit darauf angewiesen, dass sie sich selbst am Leben lässt. „Über das Manhattan Project haben alle dasselbe gesagt“, berichtet Alicia: „Sie hätten noch nie in ihrem Leben so viel Spaß gehabt. Aber jeder, der nicht begreift, dass das Manhattan Project eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit ist, hat nicht aufgepasst. Es liegt gleichauf mit Feuer und Sprache. Es ist mindestens Nummer drei und vielleicht sogar Nummer eins.“ Als der Vater zum ersten Mal eine Atombombe explodieren sieht, hält er sich die Hände vor die Augen und erblickt – durch die eigenen Lider – die Knochen seiner Finger. Der Sensenmann wird persönlich vorstellig. Er könne Literatur nicht ernst nehmen, die nicht vom Tod handele, soll Cormac McCarthy einmal gesagt haben, weshalb er sich über die Bücher von Marcel Proust und Henry James nur wundern könne.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht so überraschend nun doch wieder nicht, dass sich jenes Buch leichtfüßiger, freier und lustiger liest, das nicht episch ist. Wenn McCarthy einfach direkt Theorien diskutieren kann, ohne sie in eine Romandramaturgie übersetzen zu müssen, wirkt es, als hätte man ihn von der Leine gelassen. In „Stella Maris“ geht es unter anderem um Chestertons Satan-Begriff, um Wittgensteins Überzeugung, die gesamte Mathematik sei eine Tautologie, um die irritierende Absenz des Darwinismus in Sigmund Freuds Traumtheorie, um Bernhard Riemanns Ehrgeiz, Euklid vom Thron zu stoßen. Einen großen Teil des Gesprächs widmen McCarthy und Alicia Western der Frage, ob die Mathematik ohne den Menschen existieren würde, und wenn nein, welche Fragen Mathematiker dann eigentlich genau beantworten. Zahlen gebe es in der Natur jedenfalls schon einmal nicht. Womöglich fange die Mathematik auch deshalb an dem Punkt an, interessant zu werden, in dem sie die Zahlen hinter sich lässt.
Auftritt Alexander Grothendieck: Der Mathematiker Alexander Grothendieck ist in der breiten Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt, von den Fachkollegen halten ihn hingegen viele für den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts. Erst langsam findet er auch Eingang in die Gegenwartsliteratur. 2020 hat ihm der chilenische Schriftsteller Benjamín Labatut in seiner brillanten Erzählsammlung „Das blinde Licht“ ein ganzes Kapitel gewidmet. Bei McCarthy ist er jetzt so etwas wie der Schutzengel für das von allen guten Geistern verlassene Genie Alicia Western. Von ihrer gemeinsamen Zeit spricht sie außergewöhnlich warmherzig, fast zärtlich.
Der französische Millionär Léon Motchane hatte 1958 in der Nähe von Paris das Institut des Hautes Études Scientifiques (IHES) gegründet und es Grothendieck praktisch zur freien Verfügung übergeben. Mit gerade einmal dreißig Jahren kündigte dieser dort ein Programm an, das die Geometrie neu aufstellen und alle Zweige der Mathematik vereinen sollte: „Eine ganze Generation von Professoren und Studenten unterwarf sich seinem Traum“, heißt es bei Labatut, „Zwischen 1958 und 1973 herrschte Alexander Grothendieck auf dem Feld der Mathematik wie ein Fürst der Aufklärung und zog die besten Köpfe seiner Generation in seinen Orbit.“
Bei Cormac McCarthy nun ist einer dieser Köpfe Alicia Western. Als sie siebzehn ist und ein Studium an der University of Chicago schon abgeschlossen hat, bekommt sie ein Stipendium vom IHES und arbeitet dort an ihrer Dissertation über die Topos-Theorie. Im ersten Teil dieser Dissertation beweist sie ein paar Vermutungen, im zweiten zeigt sie dann, „dass nicht nur diese besonderen Beweise falsch waren, sondern dass alle derartigen Beweise an ihrer eigenen Problemstellung vorbeigingen.“
Sie verliert den Glauben an die Mathematik als System der Wirklichkeitsabbildung ungefähr zur selben Zeit, als Grothendieck seinerseits die Mathematik aufgibt und in Südfrankreich eine radikalökologische Kommune gründet, die jedoch auch nicht lange hält. Dann verschwindet er von der Bildfläche. Einmal hört man noch von ihm, als er in Avignon bei einer Demo von Umweltaktivisten zwei Polizisten angreift. Die letzten Jahre seines Lebens streift er unerkannt, bärtig und barfuß durch die ländliche Gegend am Fuße der Pyrenäen, hin und wieder aufgespürt von Verehrern aus aller Welt, die er allesamt ignoriert. An genau diesem Punkt, an dem sich intellektuelle Brillanz, Wahnsinn und Weltabgewandtheit begegnen, ist Cormac McCarthy erzählerisch ganz bei sich.
„Stella Maris“ ist, mehr noch als „Der Passagier“, ein Ereignis, weil es sich näher an die Grenzen dessen wagt, was gewusst werden kann, als jeder andere Roman in diesem Jahr. Die meisten ihrer Helden seien Mathematiker, sagt Alicia an einer Stelle: Gödel, Riemann, Poincaré, Noether. „Wenn man sich diese Namen und das Werk, für das sie stehen, ansieht, wird einem klar, dass im Vergleich dazu die Annalen der modernen Literatur und Philosophie unbeschreiblich öde sind.“ Immer wieder gibt es in diesem Buch Momente, in denen man meint, die Stimme von Cormac McCarthy durch jene von Alicia Western durchzuhören, und dieser Satz ist einer davon. Es scheint eine sehr spezifische Melancholie zu geben, die nur dann entsteht, wenn man die Ränder dessen geschaut hat, was sich verstehen lässt. Womöglich war sie im 20. Jahrhundert Naturwissenschaftlern vorbehalten, und womöglich sind sie deshalb so interessante Romanfiguren. Sie gehe davon aus, sagt Alicia einmal, dass sie die Erde verlassen werde, ohne wirklich verstanden zu haben, wo sie sich genau befunden hat.
„Stella Maris“ ist,
mehr noch als
„Der Passagier“,
ein Ereignis
Cormac McCarthy:
Der Passagier.
Roman. Aus dem
Englischen von
Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2022.
528 Seiten, 28 Euro.
Cormac McCarthy:
Stella Maris.
Roman. Aus dem
Englischen von
Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag,
Hamburg 2022.
240 Seiten, 24 Euro.
Taugt die Mathematik als System der Wirklichkeitsabbildung? Auch mit dieser Frage setzt sich Cormac McCarthy in seinem neuen Roman auseinander.
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Wo sich intellektuelle Brillanz, Wahnsinn und Weltabgewandtheit begegnen, ist er erzählerisch ganz bei sich: der US-amerikanische Schriftsteller Cormac McCarthy, geboren 1933.
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„Stella Maris“ – als christlich sozialisierter Leser verbindet man mit diesem Begriff sofort die Gottesmutter Maria, deren Beiname „Stella Maris“, Meerstern, auf ihre Rolle als Schutzherrin der Seeleute und Fischer hinweist und, im übertragenen Sinn, auch auf ihren …
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„Stella Maris“ – als christlich sozialisierter Leser verbindet man mit diesem Begriff sofort die Gottesmutter Maria, deren Beiname „Stella Maris“, Meerstern, auf ihre Rolle als Schutzherrin der Seeleute und Fischer hinweist und, im übertragenen Sinn, auch auf ihren Schutz für jeden Menschen, der auf dem Meer des Lebens unterwegs ist.
Hier heißt das psychiatrische Krankenhaus „Stella Maris“, und der Leser muss selber entscheiden, welche Bedeutung der Name im Roman hat…
Eine junge Frau, Alicia, eine geniale Mathematikerin und Musikerin, weist sich selber in die Psychiatrie ein und führt sieben diagnostische Gespräche mit einem Psychiater. Es ist verlockend, über die Sonderstellung der Zahl 7 in der Mathematik nachzudenken und vor allem über ihre Bedeutung im kosmischen, mythischen und auch biblischen Bereich; im letzteres ist es die Zahl des Tabus, und auch diese Facette passt zum Roman, denn gerade im 7. Gespräch wird ein Tabubruch thematisiert.
Der Roman hat keinen Erzähler, sondern besteht ausschließlich aus den je einstündigen Gesprächsprotokollen. Alicia zweifelt an ihrer Welterfahrung und generell an der der Menschheit. Ähnlich wie Goethes Faust will sie erkennen, „was die Welt/ im Innersten zusammenhält“, aber sie geht noch darüber hinaus. Sie zweifelt an der Wirklichkeit der Welt, deren Sichtbarkeit sich ja nur in ihrem Kopf abspiele. Sind diese Wirklichkeiten identisch? Oder nicht? Wie ist Welt erfassbar? Was weiß der Mensch NICHT? Ihre zentrale Frage ist eine erkenntnistheoretische: wie gewinnt der Mensch Erkenntnis? Ihre Hoffnung, das über die Mathematik zu erreichen, erfüllte sich nicht. Bezeichnenderweise steht am Ende dieser Gespräche die These des genialen Einstein-Freundes Karl Gödel, dass auch die Axiomatik der Mathematik nicht widerspruchsfrei sei. Auch die Suche in den benachbarten Disziplinen wie Physik, Philosophie, Kunst, Sprachphilosophie und Psychologie – hier ist es die Wirkkraft des Unbewussten und Unterbewussten im Freudschen Sinne - lässt keine belastbare Erkenntnis zu. Wie bei Goethes Faust erscheint ihr daher der Suizid als eine akzeptable Alternative zum Leben: wie Faust sucht sie im Suizid die Entgrenzung der menschlichen Erkenntnis und hat die Hoffnung, bisher verschlossene Welten zu betreten und dass im letzten Lebens-Augenblick die Wahrheit des Universums aufleuchte.
In diesen erkenntnistheoretischen Dialogen, thematisch von der Antike bis zur Jetztzeit, bewegt sich der Autor mit großer Sicherheit: ein überaus spannendes, farbenprächtiges intellektuelles Feuerwerk, dem man als Leser nur gebannt und fasziniert folgen kann! Eine Fülle an Vorstellungen, Ideen, an Anregungen!
Zugleich tritt in den Dialogen Alicia als Mensch hervor. Wir erfahren von ihrer belasteten Familie, dem frühen Tod der Eltern, ihrer großen Einsamkeit und der daraus folgenden engen Bindung an ihren älteren Bruder. In kleinen Schritten bewegt sie sich im Lauf der Gespräche auf ihren Therapeuten zu und versucht, ihn nicht nur in seiner Funktion, sondern als Mitmensch zu erkennen. Sie fasst offensichtlich Vertrauen zu ihm, öffnet sich ihm und kann schließlich auch über Themen erzählen, denen sie aufgrund ihrer Tabuisierung zu Beginn ausgewichen ist. Und auch hier erscheint der Suizid als Zugang zu einer ersehnten Welt und als Möglichkeit, denselben Seinszustand wie ihr Bruder zu erreichen.
Wie McCarthy diese Verbindung von Erkenntnistheorie im weitesten Sinn und einem hohen Maß an Emotionalisierung leistet, hat mich sehr beeindruckt. Alicias erschreckende Einsamkeit und die Aussichtslosigkeit, diese Einsamkeit zu überwinden, finden ihren Schlusspunkt in einer kurzen Abschlussszene, die McCarthy einfach meisterhaft komponiert hat: wenige Worte, eine kleine Geste – und ein Übermaß an Emotion beim Leser.
Beide Dialogstimmen werden vom selben Sprecher gesprochen. Christian Brückners professionelle und klar akzentuierte Sprache macht die Dialoge lebendig. Er setzt alle Mittel ein, die er zur Verfügung hat und macht deutlich, dass Vorlesen nicht nur ein reiner Sprechakt, sondern zugleich immer auch Deutung ist.
CHAPEAU an Autor, Übersetzer und Sprecher.
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Wisconsin 1972. Die gerade erst 20-jährige Alicia, eine geniale Mathematikerin, weist sich selbst in die psychiatrische Klinik “Stella Maris” ein. Sie sei, so erklärt sie, auf der Flucht. Auf der Flucht vor Ärzten, die sie überreden wollen, die Maschinen abzustellen, …
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Wisconsin 1972. Die gerade erst 20-jährige Alicia, eine geniale Mathematikerin, weist sich selbst in die psychiatrische Klinik “Stella Maris” ein. Sie sei, so erklärt sie, auf der Flucht. Auf der Flucht vor Ärzten, die sie überreden wollen, die Maschinen abzustellen, die ihren Bruder Bobby am Leben halten. Alicia ist nicht zum ersten Mal in einer psychosomatischen Einrichtung. Ihre Diagnose: paranoide Schizophrenie. Die Gespräche, die sie mit ihrem Therapeuten führt, offenbaren nicht nur ihr Genie, sondern auch einen Geist, der über die Grenzen dessen, was wir als gegeben betrachten, hinausblicken kann. Der in der Lage ist, Blickwinkel einzunehmen, die weitab der ausgetrampelten Pfade liegen.
"Stella Maris” ist mein zweiter Roman von Cormac McCarthy. Nach “The Road”, das so viel Begeisterung und den Pulitzer Preis eingeheimst, mich aber nur halb überzeugen konnte, war ich anfänglich eher misstrauisch, dann aber schnell vollauf begeistert. Und das, obwohl McCarthy gleich zwei Regeln bricht, die ich eigentlich essentiell für einen guten Roman finde: dass eine komplexe und möglichst stringente Geschichte erzählt wird und dass der Inhalt nicht zu weit über meinen eigenen Horizont hinauswächst. Was die Handlung betrifft, so konnte ich noch ein Auge zudrücken. Da das Buch komplett aus den Protokollen von Alicias Therapiesitzungen besteht, muss man sich das Geschehen zwar aus Momentaufnahmen zusammenklauben, aber es gibt genau genommen eins, auch wenn es nicht im Mittelpunkt steht. Intellektuell war ich allerdings über lange Strecken haushoch unterlegen. Doch auch das hat nicht gestört, denn Alicia ist eine so faszinierende Person, dass man ihr nur zu gerne folgt.
Und damit wären wir bei Regel Nr. 3, die McCarthy dann, zum Ausgleich sozusagen, mehr als erfüllt: interessante, vielschichtige und überzeugende Protagonisten. Es ist eigentlich nicht fair, zwei Bücher miteinander zu vergleichen, aber da mich gerade vor kurzem “Elizabeth Finch” von Julian Barnes so gar nicht überzeugen konnte und beide eine Frau mit akademischem Hintergrund im Fokus haben, komme ich nicht drumherum. McCarthys Alicia ist einfach alles, was Barnes’ Elizabeth eben nicht ist, aber sein soll. Alicia kann den Leser zu Gedanken führen, über die er noch nie zuvor nachgedacht hat, sie ist hochgradig originell, faszinierend, aber vor allem eines: glaubwürdig. Eine Bekanntschaft mit ihr ist auch jenseits des eigenen Verständnisses lohnend.
Ein weiterer Gewinn für jene, die das Glück haben, sich für die Hörbuchversion entschieden zu haben, ist der Sprecher. Vor gar nicht so langer Zeit hätte ich noch behauptet, dass mein persönliches Universum bester deutscher Sprecher - ich denke da an Stimmen wie Hans Paetsch, Gert Westphal und Peter Matić - leider komplett ausgestorben ist. Mit der Entdeckung Christian Brückners hat sich dieser Zustand glücklicherweise geändert. Wie Brückner “Stella Maris”, das mit seinem Dauerdialog bestimmt nicht einfach zu lesen ist, durch feinste Nuancen in der Stimme zu einem klar unterscheidbaren und spannenden Gespräch macht, ist schlicht großartig. Brückner gehört zu der Kategorie, bei der es sich lohnt, ein Hörbuch nicht nach Autor oder Titel auszusuchen, sondern nach Interpreten.
Für jene, die sich jetzt noch fragen sollten, ob sie vor “Stella Maris” erst noch McCarthys erstaunlicherweise viel schlechter bewertetes “Der Passagier” lesen müssen: nein, müssen sie nicht. An “Stella Maris” wird gerne #2 angehängt, aber laut Autor handelt es sich nicht um eine klassische Fortsetzung, sondern um ein “companion book”. Ich selbst kenne “Der Passagier” bisher nicht, hatte aber nie das Gefühl, nicht ausreichend informiert zu sein. Ich bin allerdings, da beide einander negieren sollen, schon neugierig. Und da Christian Brückner auch in dem Fall als Sprecher fungiert, werde ich mir sicher noch eine erweiterte und kompetentere Meinung aneignen. Eines gibt es aber jetzt schon: Meine große Hörempfehlung!
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