Auf der Beerdigung seines Vaters, eines Kunsthändlers, kommt Viggen mit einer Frau ins Gespräch. Irgendein Geheimnis umgibt diese Person. Zwei Tage nach der Trauerfeier verabredet er sich mit ihr. Viggen, der mit Filmrechten handelt und dessen fast fünfzigjähriges Leben grau und routiniert geworden ist, sieht durch Dora alles in neuen, kräftigen Farben. Er ist von dieser Frau fasziniert, die ihm so nah, so vertraut ist. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich verstanden. Er führt sie in die Münchner Gesellschaft ein, nimmt sie mit auf seine Reisen. Auch Dora, die gleichfalls in einer Existenzkrise steckt, fällt es zunehmend schwerer, sich Viggen zu entziehen. Was sie hindert, ist etwas, das nur sie allein weiß. Nach einem gemeinsamen nächtlichen Bad im Starnberger See bemerkt Viggen, daß Dora sich verändert hat. Sie wirkt in sich gekehrt, verschlossen, beinahe abweisend. Eines Tages ist sie spurlos verschwunden. Ruin eine Liebesgeschichte, gewiß. Auch ein Gesellschaftsroman. Und ein Buch über die Mysterien von Verlust und Neubeginn. Ein Mann unter Einfluss Thomas Palzer beweist mit seinem München-Roman RUIN Mut zum Pathos Im strahlenden Azur des Golfs von Neapel beginnt, was einsam im Tresorraum einer Schweizer Bank endet: RUIN, die Schicksalssymphonie eines Mannes im biografisch gefährlichen Alter um die fünfzig ... Die fast gleichzeitige Begegnung mit dem Tod und der Liebe katapultiert Viggen in eine Abwärtsspirale, die Plazers bildmächtige Sprache kräftig beschleunigt. Dabei schreckt er auch vor kühnen Metaphern nicht zurück, was sein Buch, das Gegenwartsphänomene wie die Ökonomisierung aller Lebensbereiche thematisiert, zu einem geistigen wie sinnlichen Lesegenuss macht... Als kalter Schauer erfrischt das Wagnis RUIN von der Beliebigkeit der hartnäckigen Mainstream-Literatur, wie sie in Workshops und Lieteraturinstituten nach Art holländischer Tomaten herausgezüchtet wird. (Süddeutsche Zeitung)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2006Das Lächeln der Hotline
Wachstumsstörungen: Thomas Palzer ist in schlechter Gesellschaft
Manchmal kann man zusehen, wie ein Buch an den Ansprüchen seines Schöpfers scheitert. Zunächst wiegt der Autor sich in bester Hoffnung und Schaffenslaune. Wir sehen ihn am Schreibtisch sitzen: ein Konzept in der Hand, einige Kästchen mit Formulierungen und literarischen Bildern vor sich. Im Kopf, den er nachdenklich wiegt, ein ausnehmend kritisches Bewußtsein. Thomas Palzer entwirft die Geschichte eines Mannes in der Sinnkrise der Lebensmitte, der auf der Beerdigung seines Vaters eine Frau trifft. Es ist die uneheliche Tochter des Verstorbenen, eine rätselhafte Person, in die sich der Bruder verliebt.
Schön, schön, sagt die innere Stimme des Autors, eine inzestuöse Liebesgeschichte, aber das ist doch nicht alles, was du kannst! Thomas Palzer schaut auf seinen Romanplan und beginnt auszuholen: Viggen, der Protagonist, ist ein von jeher unzufriedener Bundesbürger, der im Filmgeschäft arbeitet und sich mit dem Tod seines Vaters beschäftigt. Seine Halbschwester, eine schöngeistige Slawistin, kommt aus der DDR und ist vor den Schrecken der Wiedervereinigung nach Breslau geflüchtet. Dort bringt ihr polnischer Geliebter die verborgene Familiengeschichte ans Tageslicht, die sie dann nach München an das Grab des Vaters führt. In dieser Geschichte berühren sich Ost und West. Jede der Figuren transportiert ein Stückchen Zeitgeschichte und bemüht sich, regelmäßig auf geschichtsträchtige Vorgänge hinzuweisen.
Gut, sagt der Ehrgeiz des Autors. Aber bist du nicht auch Gesellschaftskritiker? Denk an deine Essays "Camping. Rituale des Diversen", erschienen im Jahre 2003. Auf dieses Stichwort hin versammelt Thomas Palzer zahllose kulturkritische Gemeinplätze und unterlegt sie seinem Roman. Da ist zunächst die Verachtung der Massen. Sie übermannt die Figuren bei ihren Stadtspaziergängen: "Was ins Auge sprang, waren Prallheit, gepaart mit feistem Selbstgenuß, war die Ausgelassenheit derer, die sonst mit größtem Ernst ihre Gewinnsucht befriedigten."
Hier klingt nicht nur die Beschränkung breiter Bevölkerungsschichten, sondern schon der nächste Klassiker, die Kapitalismuskritik, an. Natürlich ist "Wachstum" die einzige gesellschaftliche Utopie, die es "der Wirtschaft" ermöglicht, "ungestört maximierte Gewinne" einzustreichen. Die "Population der Schnäppchenjäger" streift derweil durch die zu "Konsumzwecken umfunktionierte Innenstadt" oder sitzt vorm Fernseher und läßt sich - getreu der guten alten Verblendungstheorie - mit der Eheschließung dänischer Prinzen abspeisen. Fehlt in einem Land, in dem der Nationalsozialismus selbstverständlich fortwirkt, noch ein ordentliches Maß an Demokratieverachtung. Hat die "historische Unterdrückung durch wenige" sich doch nur "in eine demokratische, in eine Unterdrückung durch alle" verwandelt. Gut, daß es aufrechte Menschen wie Viggen und Dora gibt - erhaben über all jene Träger von Biographien, "die der Computer ausspuckt, eingequetscht zwischen Rentabilität und Ranking".
Da meldet sich die poetische Ader des Autors. Das Ganze darf nicht nach Leitartikel klingen. Metaphern müssen her, Personifikationen und Bildbrüche. Thomas Palzer greift zu seinen Formulierungskästchen und findet eine Menge Beschreibungsmaterial für Alltagsvorgänge: "Eines der Schiffe am Hafen blökte." Ein anderes erbricht "Klumpen drängelnder Menschen". Einige Leute haben "im Gesicht das eingefrorene Lächeln einer Hotline". Und um die Mittagszeit läßt sich ein bemerkenswerter Vorgang beobachten: "Westeuropa, das Tablett vor der Brust, machte sich auf in Richtung Kantine."
Zu der erzwungenen Originalität kommt ein Hang zur Redundanz. Auch entbehrliche Vorgänge werden in diesem Roman benannt und geschildert. Gravierende Mängel tauchen auch bei der Darstellung des Figurenbewußtseins auf. Die große Menge drängender existentieller Fragen, das Leben, die Liebe, der Tod, machen es notwendig, ins Innere der empfindungsfreudigen Figuren vorzudringen. Es gelingt Thomas Palzer aber nicht, ihre Gedankenwelt zu entfalten. An die Stelle von Assoziationen treten auch hier Ausführungen und Aufsager.
Es ist für alle Beteiligten unerfreulich, wenn ein Buch mißlingt. Das ändert sich auch nicht, wenn dem Leser ein kleiner Trostpreis winkt. Denn der junge Münchner blumenbar Verlag, dessen Autor Thomas Palzer ist, verspricht bei Eintritt in den Verlags-Club mit seinen Lesungen und Konzerten, nicht nur "das unbezahlbare Gefühl, Teil eines einzigartigen Projekts zu sein", sondern auch einen silbernen Schlüsselanhänger in limitierter Auflage. Am Anhänger klimpern die Schlüssel, aber es klingt irgendwie immer nach: "Ruin".
SANDRA KERSCHBAUMER
Thomas Palzer: "Ruin". Roman. blumenbar Verlag, München 2005. 260 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wachstumsstörungen: Thomas Palzer ist in schlechter Gesellschaft
Manchmal kann man zusehen, wie ein Buch an den Ansprüchen seines Schöpfers scheitert. Zunächst wiegt der Autor sich in bester Hoffnung und Schaffenslaune. Wir sehen ihn am Schreibtisch sitzen: ein Konzept in der Hand, einige Kästchen mit Formulierungen und literarischen Bildern vor sich. Im Kopf, den er nachdenklich wiegt, ein ausnehmend kritisches Bewußtsein. Thomas Palzer entwirft die Geschichte eines Mannes in der Sinnkrise der Lebensmitte, der auf der Beerdigung seines Vaters eine Frau trifft. Es ist die uneheliche Tochter des Verstorbenen, eine rätselhafte Person, in die sich der Bruder verliebt.
Schön, schön, sagt die innere Stimme des Autors, eine inzestuöse Liebesgeschichte, aber das ist doch nicht alles, was du kannst! Thomas Palzer schaut auf seinen Romanplan und beginnt auszuholen: Viggen, der Protagonist, ist ein von jeher unzufriedener Bundesbürger, der im Filmgeschäft arbeitet und sich mit dem Tod seines Vaters beschäftigt. Seine Halbschwester, eine schöngeistige Slawistin, kommt aus der DDR und ist vor den Schrecken der Wiedervereinigung nach Breslau geflüchtet. Dort bringt ihr polnischer Geliebter die verborgene Familiengeschichte ans Tageslicht, die sie dann nach München an das Grab des Vaters führt. In dieser Geschichte berühren sich Ost und West. Jede der Figuren transportiert ein Stückchen Zeitgeschichte und bemüht sich, regelmäßig auf geschichtsträchtige Vorgänge hinzuweisen.
Gut, sagt der Ehrgeiz des Autors. Aber bist du nicht auch Gesellschaftskritiker? Denk an deine Essays "Camping. Rituale des Diversen", erschienen im Jahre 2003. Auf dieses Stichwort hin versammelt Thomas Palzer zahllose kulturkritische Gemeinplätze und unterlegt sie seinem Roman. Da ist zunächst die Verachtung der Massen. Sie übermannt die Figuren bei ihren Stadtspaziergängen: "Was ins Auge sprang, waren Prallheit, gepaart mit feistem Selbstgenuß, war die Ausgelassenheit derer, die sonst mit größtem Ernst ihre Gewinnsucht befriedigten."
Hier klingt nicht nur die Beschränkung breiter Bevölkerungsschichten, sondern schon der nächste Klassiker, die Kapitalismuskritik, an. Natürlich ist "Wachstum" die einzige gesellschaftliche Utopie, die es "der Wirtschaft" ermöglicht, "ungestört maximierte Gewinne" einzustreichen. Die "Population der Schnäppchenjäger" streift derweil durch die zu "Konsumzwecken umfunktionierte Innenstadt" oder sitzt vorm Fernseher und läßt sich - getreu der guten alten Verblendungstheorie - mit der Eheschließung dänischer Prinzen abspeisen. Fehlt in einem Land, in dem der Nationalsozialismus selbstverständlich fortwirkt, noch ein ordentliches Maß an Demokratieverachtung. Hat die "historische Unterdrückung durch wenige" sich doch nur "in eine demokratische, in eine Unterdrückung durch alle" verwandelt. Gut, daß es aufrechte Menschen wie Viggen und Dora gibt - erhaben über all jene Träger von Biographien, "die der Computer ausspuckt, eingequetscht zwischen Rentabilität und Ranking".
Da meldet sich die poetische Ader des Autors. Das Ganze darf nicht nach Leitartikel klingen. Metaphern müssen her, Personifikationen und Bildbrüche. Thomas Palzer greift zu seinen Formulierungskästchen und findet eine Menge Beschreibungsmaterial für Alltagsvorgänge: "Eines der Schiffe am Hafen blökte." Ein anderes erbricht "Klumpen drängelnder Menschen". Einige Leute haben "im Gesicht das eingefrorene Lächeln einer Hotline". Und um die Mittagszeit läßt sich ein bemerkenswerter Vorgang beobachten: "Westeuropa, das Tablett vor der Brust, machte sich auf in Richtung Kantine."
Zu der erzwungenen Originalität kommt ein Hang zur Redundanz. Auch entbehrliche Vorgänge werden in diesem Roman benannt und geschildert. Gravierende Mängel tauchen auch bei der Darstellung des Figurenbewußtseins auf. Die große Menge drängender existentieller Fragen, das Leben, die Liebe, der Tod, machen es notwendig, ins Innere der empfindungsfreudigen Figuren vorzudringen. Es gelingt Thomas Palzer aber nicht, ihre Gedankenwelt zu entfalten. An die Stelle von Assoziationen treten auch hier Ausführungen und Aufsager.
Es ist für alle Beteiligten unerfreulich, wenn ein Buch mißlingt. Das ändert sich auch nicht, wenn dem Leser ein kleiner Trostpreis winkt. Denn der junge Münchner blumenbar Verlag, dessen Autor Thomas Palzer ist, verspricht bei Eintritt in den Verlags-Club mit seinen Lesungen und Konzerten, nicht nur "das unbezahlbare Gefühl, Teil eines einzigartigen Projekts zu sein", sondern auch einen silbernen Schlüsselanhänger in limitierter Auflage. Am Anhänger klimpern die Schlüssel, aber es klingt irgendwie immer nach: "Ruin".
SANDRA KERSCHBAUMER
Thomas Palzer: "Ruin". Roman. blumenbar Verlag, München 2005. 260 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2005Ein Mann unter Einfluss
Thomas Palzer beweist mit seinem München-Roman „Ruin” Mut zum Pathos
„Una casa come me”, ein Haus wie ich: Diesen Namen trägt Curzio Malapartes Villa auf Capri, die eher einer Festung gleicht. Sie nimmt einen ganzen Felsen ein und trotzt, zum Meer hin in Stufen abgeflacht, den Winterstürmen. Das Bauwerk, Schauplatz von Jean-Luc Godards Meisterwerk „Die Verachtung”, ist die steingewordene Selbstdefinition seines Schöpfers: exzentrisch, hochfahrend und - schlichtweg großartig. Capris architektonisches Ausrufezeichen steht für den Primat der Phantasie und den unbedingten Willen zur Ästhetik, genau wie Malapartes berühmtestes Buch, der Kriegs- und Antikriegsroman „Kaputt” von 1944. Thomas Palzers „Ruin” lässt sich in vielen Aspekten als ironische Kontrafaktur zu „Kaputt” lesen. Den Aufgang zur „Casa come me” nutzt er in der Anfangsszene des Romans als überdimensionale Showtreppe, um seinen Helden Viggen mit gehörigem Pathos einzuführen. Denn im strahlenden Azur des Golfs von Neapel beginnt, was einsam im Tresorraum einer Schweizer Bank endet: „Ruin”, die Schicksalssymphonie eines Mannes im biografisch gefährlichen Alter um die fünfzig.
„Jedes Alter ist literarisch reizvoll, denn in jedem Alter ist man in der Krise”, sagt Thomas Palzer beim Kaffee in seinem isarnahen Domizil: „Jetzt kommt aber hinzu, dass ein schwer zu beschreibender, schleichender Stimmungsumschwung stattfindet. In der Zeitströmung hat sich etwas geändert, was viele dazu bringt, eine Art von Krisenliteratur zu verfassen. Irgendetwas hat sich im Fundament verschoben, es wackelt.” Zehn Jahre trug Palzer die Idee zu „Ruin” mit sich herum. Nun hat sie als kobaltblaues Buch Gestalt angenommen. Chrish Klose, die Gestalterin des Blumenbar Verlags, stattete es mit einem Phantasie-Insekt und einem klassischen Farbschnitt aus: Beim Umblättern der Seiten gerät man immer tiefer ins Blaue, in die Geschichte hinein.
Thomas Palzers Held, der ergrauende Münchner Filmkaufmann Viggen, ist ein Opfer des Neuen Marktes. Gegen die Zumutungen einer stetig banaler werdenden Konsumwelt glaubt er sich mit heiterer Gleichgültigkeit wappnen zu können. Doch als er im Urlaub durch einen Anruf vom Tod seines Vaters, eines Kunsthändlers, erfährt, wird er jäh mit seiner eigenen Lebenskrise konfrontiert. Er reist nach München zurück und begegnet bei der Beerdigung - der Leichenschmaus wird in Moshammers „Hundskugel” serviert - der geheimnisvollen Dora, einer Mittvierzigerin aus dem Osten. Diese schwer greifbare „Frau unter Einfluss”, um mit John Cassavetes Werk eine der zahlreichen filmischen Assoziationen zu zitieren, wahrt ihr Mysterium bis zum Schluss. Die Aussicht auf einen zweiten Frühling erweckt in Viggen ungeahnte Lebensenergie. Die sich anbahnende Liebesgeschichte wird jedoch bald von einem Familiengeheimnis aus der Zeit des Eisernen Vorhangs überschattet. Die Spur führt über die Väter der beiden, die in Devisengeschäfte verstrickt waren.
Durch Dora, die in Leipzig aufwuchs und nach der Wende wieder in die Heimatstadt ihrer Familie Breslau/Wroclaw zog, kommt die Wirklichkeit des erweiterten Europas ins Spiel. Das ergibt einen reizvollen Kontrast zum behaglich in sich ruhenden München: „Andere, die am Promenadeplatz vorbeikamen, spazierten zum nahe gelegenen Literaturhaus, um dort ihren Abend zu verbringen - bei gekonnt ausgetauschtem Dünkel, Weißwein und gedünstetem Fisch.” Die Ost-West-Perspektive habe sich von selbst ergeben, sagt Thomas Palzer, der sich als intuitiven Schreiber charakterisiert: „Ich mag es sehr, an der Stimmung entlang zu formulieren und mich davon überraschen zu lassen. Ich könnte nicht vorher einen Plan anlegen und diesen dann nach dem Prinzip Malen nach Farben nur noch ausführen.”
Die fast gleichzeitige Begegnung mit dem Tod und der Liebe katapultiert Viggen in eine Abwärtsspirale, die Palzers bildmächtige Sprache kräftig beschleunigt. Dabei schreckt er auch vor kühnen Metaphern nicht zurück, was sein Buch, das Gegenwartsphänomene wie die Ökonomisierung aller Lebensbereiche thematisiert, zu einem geistigen wie sinnlichen Lesegenuss macht. „Nur die Worte schützen vor dem Nichts”, lautete schon das Credo der Hauptfigur seines Romandebüts „Pony” von 1994. Palzer, Jahrgang 1956, studierte Philosophie und Neuere deutsche Literatur in Wien und seiner Heimatstadt München. 1972 gründete er Mode und Verzweiflung, jene Untergrund-Zeitschrift, deren wunderbar sinnfälliger Titel heute noch nachhallt. Bekannt wurde er mit seinen „Hosenträger”-Glossen für die Radio-Talentschmiede Zündfunk. Es folgten essayistische Veröffentlichungen wie „Ab hier FKK erlaubt. 50 schnelle Seitenblicke auf die neunziger Jahre” (1996) und zuletzt „Camping. Rituale des Diversen”. Karl Bruckmaier beschrieb den Hörfunk- und Filmautor als „philosophierenden Journalisten” und „Gedankengenerator”.
Die utopieentleerte Nutzbarmachung im „Hochpreisland” der Euro-Zone durchzieht als Grundtenor vor allem Viggens misanthropische Exkurse, die die Handlung manchmal zu sprengen drohen. Ob es ideologisch verbissene Alleinerziehende sind oder die „jämmerliche Big-Brother-Generation”, deren Existenzberechtigung nur im Konsum bestehe: Von diesen Tiraden schwingt sich „Ruin” doch immer wieder zu den Höhen Nietzsche-gesättigter Kulturkritik hinauf, ohne dabei an Anschaulichkeit und Selbstironie einzubüßen.
Als kalter Schauer erfrischt das Wagnis „Ruin” von der Beliebigkeit der hartnäckigen Mainstream-Literatur, wie sie in Workshops und Literaturinstituten nach Art holländischer Tomaten herangezüchtet wird. „Wieder groß von sich denken - statt im Schraubstock von Soll und Haben nach Luft japsen”, nimmt sich Viggen vor, finanziell und amourös ein Protagonist der Vergeblichkeit. „Die Philosophie des Buches war, die Empfindung höher zu stellen als weltliche Güter”, sagt sein Autor. „Der Text schildert den Konkurs der Intuition gegenüber dem Kalkül. Der Modus, wie man Leben erfährt, ist der Verlust: Leben heißt verlieren. Und deshalb ist die Grundhaltung melancholisch.” (Thomas Palzer liest am 10. November um 22.30 Uhr im Kunstverein am Hofgarten, Galeriestraße 4.)
KATRIN HILLGRUBER
„Leben heißt Verlieren”, sagt der Autor Thomas Palzer, in dessen neuen Roman „Ruin” einiges an Krisenstimmung einflossen ist.
Foto: Kay A. Itting
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Thomas Palzer beweist mit seinem München-Roman „Ruin” Mut zum Pathos
„Una casa come me”, ein Haus wie ich: Diesen Namen trägt Curzio Malapartes Villa auf Capri, die eher einer Festung gleicht. Sie nimmt einen ganzen Felsen ein und trotzt, zum Meer hin in Stufen abgeflacht, den Winterstürmen. Das Bauwerk, Schauplatz von Jean-Luc Godards Meisterwerk „Die Verachtung”, ist die steingewordene Selbstdefinition seines Schöpfers: exzentrisch, hochfahrend und - schlichtweg großartig. Capris architektonisches Ausrufezeichen steht für den Primat der Phantasie und den unbedingten Willen zur Ästhetik, genau wie Malapartes berühmtestes Buch, der Kriegs- und Antikriegsroman „Kaputt” von 1944. Thomas Palzers „Ruin” lässt sich in vielen Aspekten als ironische Kontrafaktur zu „Kaputt” lesen. Den Aufgang zur „Casa come me” nutzt er in der Anfangsszene des Romans als überdimensionale Showtreppe, um seinen Helden Viggen mit gehörigem Pathos einzuführen. Denn im strahlenden Azur des Golfs von Neapel beginnt, was einsam im Tresorraum einer Schweizer Bank endet: „Ruin”, die Schicksalssymphonie eines Mannes im biografisch gefährlichen Alter um die fünfzig.
„Jedes Alter ist literarisch reizvoll, denn in jedem Alter ist man in der Krise”, sagt Thomas Palzer beim Kaffee in seinem isarnahen Domizil: „Jetzt kommt aber hinzu, dass ein schwer zu beschreibender, schleichender Stimmungsumschwung stattfindet. In der Zeitströmung hat sich etwas geändert, was viele dazu bringt, eine Art von Krisenliteratur zu verfassen. Irgendetwas hat sich im Fundament verschoben, es wackelt.” Zehn Jahre trug Palzer die Idee zu „Ruin” mit sich herum. Nun hat sie als kobaltblaues Buch Gestalt angenommen. Chrish Klose, die Gestalterin des Blumenbar Verlags, stattete es mit einem Phantasie-Insekt und einem klassischen Farbschnitt aus: Beim Umblättern der Seiten gerät man immer tiefer ins Blaue, in die Geschichte hinein.
Thomas Palzers Held, der ergrauende Münchner Filmkaufmann Viggen, ist ein Opfer des Neuen Marktes. Gegen die Zumutungen einer stetig banaler werdenden Konsumwelt glaubt er sich mit heiterer Gleichgültigkeit wappnen zu können. Doch als er im Urlaub durch einen Anruf vom Tod seines Vaters, eines Kunsthändlers, erfährt, wird er jäh mit seiner eigenen Lebenskrise konfrontiert. Er reist nach München zurück und begegnet bei der Beerdigung - der Leichenschmaus wird in Moshammers „Hundskugel” serviert - der geheimnisvollen Dora, einer Mittvierzigerin aus dem Osten. Diese schwer greifbare „Frau unter Einfluss”, um mit John Cassavetes Werk eine der zahlreichen filmischen Assoziationen zu zitieren, wahrt ihr Mysterium bis zum Schluss. Die Aussicht auf einen zweiten Frühling erweckt in Viggen ungeahnte Lebensenergie. Die sich anbahnende Liebesgeschichte wird jedoch bald von einem Familiengeheimnis aus der Zeit des Eisernen Vorhangs überschattet. Die Spur führt über die Väter der beiden, die in Devisengeschäfte verstrickt waren.
Durch Dora, die in Leipzig aufwuchs und nach der Wende wieder in die Heimatstadt ihrer Familie Breslau/Wroclaw zog, kommt die Wirklichkeit des erweiterten Europas ins Spiel. Das ergibt einen reizvollen Kontrast zum behaglich in sich ruhenden München: „Andere, die am Promenadeplatz vorbeikamen, spazierten zum nahe gelegenen Literaturhaus, um dort ihren Abend zu verbringen - bei gekonnt ausgetauschtem Dünkel, Weißwein und gedünstetem Fisch.” Die Ost-West-Perspektive habe sich von selbst ergeben, sagt Thomas Palzer, der sich als intuitiven Schreiber charakterisiert: „Ich mag es sehr, an der Stimmung entlang zu formulieren und mich davon überraschen zu lassen. Ich könnte nicht vorher einen Plan anlegen und diesen dann nach dem Prinzip Malen nach Farben nur noch ausführen.”
Die fast gleichzeitige Begegnung mit dem Tod und der Liebe katapultiert Viggen in eine Abwärtsspirale, die Palzers bildmächtige Sprache kräftig beschleunigt. Dabei schreckt er auch vor kühnen Metaphern nicht zurück, was sein Buch, das Gegenwartsphänomene wie die Ökonomisierung aller Lebensbereiche thematisiert, zu einem geistigen wie sinnlichen Lesegenuss macht. „Nur die Worte schützen vor dem Nichts”, lautete schon das Credo der Hauptfigur seines Romandebüts „Pony” von 1994. Palzer, Jahrgang 1956, studierte Philosophie und Neuere deutsche Literatur in Wien und seiner Heimatstadt München. 1972 gründete er Mode und Verzweiflung, jene Untergrund-Zeitschrift, deren wunderbar sinnfälliger Titel heute noch nachhallt. Bekannt wurde er mit seinen „Hosenträger”-Glossen für die Radio-Talentschmiede Zündfunk. Es folgten essayistische Veröffentlichungen wie „Ab hier FKK erlaubt. 50 schnelle Seitenblicke auf die neunziger Jahre” (1996) und zuletzt „Camping. Rituale des Diversen”. Karl Bruckmaier beschrieb den Hörfunk- und Filmautor als „philosophierenden Journalisten” und „Gedankengenerator”.
Die utopieentleerte Nutzbarmachung im „Hochpreisland” der Euro-Zone durchzieht als Grundtenor vor allem Viggens misanthropische Exkurse, die die Handlung manchmal zu sprengen drohen. Ob es ideologisch verbissene Alleinerziehende sind oder die „jämmerliche Big-Brother-Generation”, deren Existenzberechtigung nur im Konsum bestehe: Von diesen Tiraden schwingt sich „Ruin” doch immer wieder zu den Höhen Nietzsche-gesättigter Kulturkritik hinauf, ohne dabei an Anschaulichkeit und Selbstironie einzubüßen.
Als kalter Schauer erfrischt das Wagnis „Ruin” von der Beliebigkeit der hartnäckigen Mainstream-Literatur, wie sie in Workshops und Literaturinstituten nach Art holländischer Tomaten herangezüchtet wird. „Wieder groß von sich denken - statt im Schraubstock von Soll und Haben nach Luft japsen”, nimmt sich Viggen vor, finanziell und amourös ein Protagonist der Vergeblichkeit. „Die Philosophie des Buches war, die Empfindung höher zu stellen als weltliche Güter”, sagt sein Autor. „Der Text schildert den Konkurs der Intuition gegenüber dem Kalkül. Der Modus, wie man Leben erfährt, ist der Verlust: Leben heißt verlieren. Und deshalb ist die Grundhaltung melancholisch.” (Thomas Palzer liest am 10. November um 22.30 Uhr im Kunstverein am Hofgarten, Galeriestraße 4.)
KATRIN HILLGRUBER
„Leben heißt Verlieren”, sagt der Autor Thomas Palzer, in dessen neuen Roman „Ruin” einiges an Krisenstimmung einflossen ist.
Foto: Kay A. Itting
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Roman ist "misslungen". Palzer "scheitert" an seinen eigenen Ansprüchen meint Sandra Kerschbaumer. Die Hauptfigur, mitten in einer Sinnkrise, verliebt sich bei der Beerdigung seines Vaters in seine bis dato unbekannte Halbschwester. Doch damit nicht genug. Der Autor wolle zu viel meint die Rezensentin. Von der "inzestuösen Liebesgeschichte" ausgehend baue er nicht nur den Ost-West-Konflikt, die Verachtung der Massen sowie reichlich Gesellschafts- und Kapitalismuskritik ein, sondern versuche sich auch noch als Poet. Das findet Kerschbaumer im besten Falle nur "erzwungen originell", und die ständigen Wiederholungen tragen auch nicht unbedingt zur Verbesserung ihrer Laune bei. Und wo Palzer in die Tiefe gehen müsste, bleibe er zurück. Die Innenwelt der Figuren erscheint der Rezensentin nicht ausreichend erforscht. "Es ist für alle Beteiligten unerfreulich, wenn ein Buch misslingt."
© Perlentaucher Medien GmbH
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