Wohin treibt ein zerrissenes Land? Emilia Smechowski, Deutsche und Polin, zeigt uns unser Nachbarland.
Lange glaubten wir im Westen: Polen ist frei und demokratisch, ein junges europäisches Land im Start-up-Modus. Dann wählte die Mehrheit rechtskonservativ - und unser Bild zerbrach. Für Emilia Smechowski ist Polen Heimat - eine Heimat, die sie als Kind verließ und in die sie nun zurückkehrt, um dort zu leben, als Bürgerin des Landes. Sie beschreibt eine zerrissene Nation: Der Riss geht durch die Familien, er ist präsent, wenn beim Sonntagsessen über Politik gestritten oder geschwiegen wird. Smechowski erzählt vom Alltag voller Widersprüche, sie spricht mit Politikern wie Bauern, um zu verstehen: Was ist seit 1989 passiert, dass so viele Menschen nicht mehr an den Wert der Freiheit glauben?
Lange glaubten wir im Westen: Polen ist frei und demokratisch, ein junges europäisches Land im Start-up-Modus. Dann wählte die Mehrheit rechtskonservativ - und unser Bild zerbrach. Für Emilia Smechowski ist Polen Heimat - eine Heimat, die sie als Kind verließ und in die sie nun zurückkehrt, um dort zu leben, als Bürgerin des Landes. Sie beschreibt eine zerrissene Nation: Der Riss geht durch die Familien, er ist präsent, wenn beim Sonntagsessen über Politik gestritten oder geschwiegen wird. Smechowski erzählt vom Alltag voller Widersprüche, sie spricht mit Politikern wie Bauern, um zu verstehen: Was ist seit 1989 passiert, dass so viele Menschen nicht mehr an den Wert der Freiheit glauben?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2019Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen
Rückkehr in die fremde Heimat: Emilia Smechowski, die selbsternannte Strebermigrantin, über ihr Jahr in Polen
Emilia Smechowski ist 1988, als fünfjähriges Mädchen, aus einer Kleinstadt bei Gdansk nach West-Berlin gekommen, wo ihre Eltern als Mediziner Karriere machten. Wie die Mehrheit der zwei Millionen polnischen Einwanderer in der Bundesrepublik legten sie Wert auf möglichst perfekte sprachliche und kulturelle Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Smechowski debütierte als Autorin mit einem Buch über diesen Assimilationsprozess, der sie, wie sie ironisch schrieb, zu einer "Strebermigrantin" machte. Im März 2018 begab sich die zeitweilige "taz"-Redakteurin, die heute als freie Autorin arbeitet, für ein Jahr auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung: sie nahm die Gelegenheit wahr, für ein Jahr mit ihrer Tochter, die 2018 etwas jünger war als sie selbst bei ihrer Emigration nach Deutschland, in Gdansk zu leben. Ihr Buch "Rückkehr nach Polen" ist das Resultat dieses Aufenthalts.
Es war der Aufenthalt in einem Land, das Emilia Smechowski auf der Erinnerungsebene kindlicher Erfahrungen - Gerüche, Natur, die Sprache, das Essen, das Meer - einerseits intim vertraut war. Andererseits ist ihr die politisch-gesellschaftliche Verfasstheit der polnischen Republik der Jahre 2018 und 2019 nur so bekannt gewesen wie einer gut informierten Zeitungsleserin; und so wenig uneingeschränkt sympathisch wie linken und liberalen Beobachterinnen und Kommentatoren in Deutschland generell.
Der durch diese kognitive Dissonanz zustande gekommene stereoskopische Blick, der die Autorin in jedem Kapitel ihres Buches "bewitched, bothered and bewildered" zurücklässt, teilt sich dem Leser intensiv mit und macht den literarischen Reiz ihrer Reportage aus. Zwiespältigkeit, Spaltung, Gespaltenheit - so kann man die Eindrücke und Einblicke zusammenfassen, die Smechowski von ihrem Aufenthalt in Gdansk und von ihren Reisen nach Warschau, Krakau, Poznan, Oswiecim/Auschwitz und in andere polnische Städte zurückgebracht hat.
Katalysator und Ausdruck dieser Spaltung ist die nationalkonservative Regierung der Partei "Prawo i Sprawiedliwosc" (Recht und Gerechtigkeit), die de facto dirigiert wird von deren Vorsitzendem Jaroslaw Kaczynski, nominell einem einfachen Parlamentsabgeordneten. Kaczynski verwirklicht eine seltsam indirekte Ausübungsform protodiktatorischer Herrschaft, die man auch aus dem Rumänien Liviu Dragneas und dem Georgien Bidzina Iwanischwilis kennt.
Politisch knüpft sie an die Vorstellungen der nationalkatholisch-konservativen Narodowa Demokracja ("Endecja") der Zwischenkriegszeit an. Noch seltsamer und politisch fragwürdiger als die damit bezeichneten reaktionären politischen Positionen jedoch ist die politische Theologie, die hinter ihnen steht. PiS beansprucht, das "wahre Polen" zu repräsentieren. Jaroslaw Kaczynskis Herrschaft ist zwar durch Wahlergebnisse solide bestätigt, im Kern jedoch charismatisch. Er sieht sich und die Seinen als Vertreter des "wahren Polen" - einer traditionell eher sakralen als kulturell-politischen Entität, die als Märtyrernation des alten Europas christologische Welterlösungszüge trägt. Die chiliastische Aufladung der nationalen Idee und des politischen Lebens aber führt dazu, dass politische Meinungsunterschiede nicht mehr politisch bearbeitet werden können, sondern als Glaubenskonflikte erscheinen. Liberale und linke Polen sehen sich nicht nur im politischen Meinungskampf besiegt, sondern als Häretiker exkommuniziert - und tendenziell ausgebürgert. "Für die PiS und ihren Chef Jaroslaw Kaczynski", schreibt Emilia Smechowski, "wird der Staat nicht durch die Gesamtheit aller Bürger legitimiert. Sondern durch eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Werte und eine Geschichte teilen. In ihrer Logik sind diejenigen, die sich gegen die PiS stellen, nicht Teil der Nation. Sie sind ,Polen der schlechteren Sorte' - eins der berühmten Zitate von Kaczynski."
Smechowski schildert bemerkenswerte und erhellende Begegnungen mit Schlüsselfiguren eines mit sich uneinigen Landes. Ein Highlight ist ihr Interview mit dem gelernten Elektriker, Friedensnobelpreisträger und Präsidenten a. D. Lech Walesa, der in seinem Büro erst minutenlang eine Steckdose repariert, bevor er die Fragen der ausländischen Journalistin barsch und offensichtlich überfordert beantwortet - eine Szene wie aus einem Roman V. S. Naipauls.
Sie nimmt an Märschen der polnischen Rechten in Warschau teil und belauscht den angereisten Pegida-Organisator Lutz Bachmann, der sich unter die Demonstranten gemischt hat und mit Hilfe seines Mobiltelefons eine begeisterte Reportage auf Youtube postet. Sie beschreibt den Besuch eines Restaurants, in dem gerade der allgemein beliebte und im Januar dieses Jahres ermordete Gdansker Stadtpräsident Pawel Adamowicz ohne Aufsehen und Security Fish and Chips isst; seine Mitbürger lassen ihn mit einem gewissen Stolz auf ihre Zivilität in Ruhe seinen Lunch verzehren. Die Einzige, die sich nach ihm umdreht ist Smechowski.
Überhaupt die Bürgermeister: Sie scheinen in Polen in Abwesenheit jeder oppositionellen Exekutive die eigentlichen Sprecher und Hoffnungsträger der liberalen polnischen Nation zu sein. Eins der erstaunlichsten Kapitel des Buchs befasst sich mit dem Posener Stadtpräsidenten Jacek Jaskowiak, einem Exponenten der "Platforma Obywatelstwa", dessen landesweiter Ruhm nicht nur auf seiner durchdachten und liberalen Stadtpolitik beruht, sondern auch auf seiner Karriere als Amateurboxer. Er läuft nicht nur bei LGBT-Demonstrationen mit, sondern steigt auch publikumswirksam gegen den dreiundzwanzigfachen Halbschwergewichtweltmeister Dariusz Michalczewksi in den Ring. Drei Runden und eine gebrochene Rippe später wird er von der Walstatt getragen. "Der Typ hat Eier", soll "der Tiger" danach zu Protokoll gegeben haben.
Als Reporterin ihres eigenen Alltags berichtet Smechowski aber auch von Gesprächen beim Einkaufen, von den Abenteuern ihrer Tochter am Ostseestrand, von den Auseinandersetzungen mit anderen Müttern am Sandkasten, von Alltagssexismus, Kochrezepten und dem Geruch nach Desinfektionsputzmitteln in Behördenfluren. Wenn es an ihrem sympathischen Buch etwas auszusetzen gibt, ist es die Neigung Smechowskis, die Befunde solcher Alltagsethnographie allzu kurzschlüssig auf gesellschaftliche Megatrends hochzurechnen. Nicht jede nervöse und autoritäre Reaktion einer Kindergärtnerin lässt gleich darauf schließen, "dass das Land auf dem Weg ist in totalitäre Strukturen".
Woran man angesichts der vitalen und zu großen und erfolgreichen Demonstrationen fähigen Zivilgesellschaft des Landes - und auch angesichts einer wachsamen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten konfliktfähigen Europäischen Union - zweifeln darf.
STEPHAN WACKWITZ
Emilia Smechowski: "Rückkehr nach Polen". Expeditionen in mein Heimatland.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2019. 256 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rückkehr in die fremde Heimat: Emilia Smechowski, die selbsternannte Strebermigrantin, über ihr Jahr in Polen
Emilia Smechowski ist 1988, als fünfjähriges Mädchen, aus einer Kleinstadt bei Gdansk nach West-Berlin gekommen, wo ihre Eltern als Mediziner Karriere machten. Wie die Mehrheit der zwei Millionen polnischen Einwanderer in der Bundesrepublik legten sie Wert auf möglichst perfekte sprachliche und kulturelle Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Smechowski debütierte als Autorin mit einem Buch über diesen Assimilationsprozess, der sie, wie sie ironisch schrieb, zu einer "Strebermigrantin" machte. Im März 2018 begab sich die zeitweilige "taz"-Redakteurin, die heute als freie Autorin arbeitet, für ein Jahr auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung: sie nahm die Gelegenheit wahr, für ein Jahr mit ihrer Tochter, die 2018 etwas jünger war als sie selbst bei ihrer Emigration nach Deutschland, in Gdansk zu leben. Ihr Buch "Rückkehr nach Polen" ist das Resultat dieses Aufenthalts.
Es war der Aufenthalt in einem Land, das Emilia Smechowski auf der Erinnerungsebene kindlicher Erfahrungen - Gerüche, Natur, die Sprache, das Essen, das Meer - einerseits intim vertraut war. Andererseits ist ihr die politisch-gesellschaftliche Verfasstheit der polnischen Republik der Jahre 2018 und 2019 nur so bekannt gewesen wie einer gut informierten Zeitungsleserin; und so wenig uneingeschränkt sympathisch wie linken und liberalen Beobachterinnen und Kommentatoren in Deutschland generell.
Der durch diese kognitive Dissonanz zustande gekommene stereoskopische Blick, der die Autorin in jedem Kapitel ihres Buches "bewitched, bothered and bewildered" zurücklässt, teilt sich dem Leser intensiv mit und macht den literarischen Reiz ihrer Reportage aus. Zwiespältigkeit, Spaltung, Gespaltenheit - so kann man die Eindrücke und Einblicke zusammenfassen, die Smechowski von ihrem Aufenthalt in Gdansk und von ihren Reisen nach Warschau, Krakau, Poznan, Oswiecim/Auschwitz und in andere polnische Städte zurückgebracht hat.
Katalysator und Ausdruck dieser Spaltung ist die nationalkonservative Regierung der Partei "Prawo i Sprawiedliwosc" (Recht und Gerechtigkeit), die de facto dirigiert wird von deren Vorsitzendem Jaroslaw Kaczynski, nominell einem einfachen Parlamentsabgeordneten. Kaczynski verwirklicht eine seltsam indirekte Ausübungsform protodiktatorischer Herrschaft, die man auch aus dem Rumänien Liviu Dragneas und dem Georgien Bidzina Iwanischwilis kennt.
Politisch knüpft sie an die Vorstellungen der nationalkatholisch-konservativen Narodowa Demokracja ("Endecja") der Zwischenkriegszeit an. Noch seltsamer und politisch fragwürdiger als die damit bezeichneten reaktionären politischen Positionen jedoch ist die politische Theologie, die hinter ihnen steht. PiS beansprucht, das "wahre Polen" zu repräsentieren. Jaroslaw Kaczynskis Herrschaft ist zwar durch Wahlergebnisse solide bestätigt, im Kern jedoch charismatisch. Er sieht sich und die Seinen als Vertreter des "wahren Polen" - einer traditionell eher sakralen als kulturell-politischen Entität, die als Märtyrernation des alten Europas christologische Welterlösungszüge trägt. Die chiliastische Aufladung der nationalen Idee und des politischen Lebens aber führt dazu, dass politische Meinungsunterschiede nicht mehr politisch bearbeitet werden können, sondern als Glaubenskonflikte erscheinen. Liberale und linke Polen sehen sich nicht nur im politischen Meinungskampf besiegt, sondern als Häretiker exkommuniziert - und tendenziell ausgebürgert. "Für die PiS und ihren Chef Jaroslaw Kaczynski", schreibt Emilia Smechowski, "wird der Staat nicht durch die Gesamtheit aller Bürger legitimiert. Sondern durch eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Werte und eine Geschichte teilen. In ihrer Logik sind diejenigen, die sich gegen die PiS stellen, nicht Teil der Nation. Sie sind ,Polen der schlechteren Sorte' - eins der berühmten Zitate von Kaczynski."
Smechowski schildert bemerkenswerte und erhellende Begegnungen mit Schlüsselfiguren eines mit sich uneinigen Landes. Ein Highlight ist ihr Interview mit dem gelernten Elektriker, Friedensnobelpreisträger und Präsidenten a. D. Lech Walesa, der in seinem Büro erst minutenlang eine Steckdose repariert, bevor er die Fragen der ausländischen Journalistin barsch und offensichtlich überfordert beantwortet - eine Szene wie aus einem Roman V. S. Naipauls.
Sie nimmt an Märschen der polnischen Rechten in Warschau teil und belauscht den angereisten Pegida-Organisator Lutz Bachmann, der sich unter die Demonstranten gemischt hat und mit Hilfe seines Mobiltelefons eine begeisterte Reportage auf Youtube postet. Sie beschreibt den Besuch eines Restaurants, in dem gerade der allgemein beliebte und im Januar dieses Jahres ermordete Gdansker Stadtpräsident Pawel Adamowicz ohne Aufsehen und Security Fish and Chips isst; seine Mitbürger lassen ihn mit einem gewissen Stolz auf ihre Zivilität in Ruhe seinen Lunch verzehren. Die Einzige, die sich nach ihm umdreht ist Smechowski.
Überhaupt die Bürgermeister: Sie scheinen in Polen in Abwesenheit jeder oppositionellen Exekutive die eigentlichen Sprecher und Hoffnungsträger der liberalen polnischen Nation zu sein. Eins der erstaunlichsten Kapitel des Buchs befasst sich mit dem Posener Stadtpräsidenten Jacek Jaskowiak, einem Exponenten der "Platforma Obywatelstwa", dessen landesweiter Ruhm nicht nur auf seiner durchdachten und liberalen Stadtpolitik beruht, sondern auch auf seiner Karriere als Amateurboxer. Er läuft nicht nur bei LGBT-Demonstrationen mit, sondern steigt auch publikumswirksam gegen den dreiundzwanzigfachen Halbschwergewichtweltmeister Dariusz Michalczewksi in den Ring. Drei Runden und eine gebrochene Rippe später wird er von der Walstatt getragen. "Der Typ hat Eier", soll "der Tiger" danach zu Protokoll gegeben haben.
Als Reporterin ihres eigenen Alltags berichtet Smechowski aber auch von Gesprächen beim Einkaufen, von den Abenteuern ihrer Tochter am Ostseestrand, von den Auseinandersetzungen mit anderen Müttern am Sandkasten, von Alltagssexismus, Kochrezepten und dem Geruch nach Desinfektionsputzmitteln in Behördenfluren. Wenn es an ihrem sympathischen Buch etwas auszusetzen gibt, ist es die Neigung Smechowskis, die Befunde solcher Alltagsethnographie allzu kurzschlüssig auf gesellschaftliche Megatrends hochzurechnen. Nicht jede nervöse und autoritäre Reaktion einer Kindergärtnerin lässt gleich darauf schließen, "dass das Land auf dem Weg ist in totalitäre Strukturen".
Woran man angesichts der vitalen und zu großen und erfolgreichen Demonstrationen fähigen Zivilgesellschaft des Landes - und auch angesichts einer wachsamen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten konfliktfähigen Europäischen Union - zweifeln darf.
STEPHAN WACKWITZ
Emilia Smechowski: "Rückkehr nach Polen". Expeditionen in mein Heimatland.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2019. 256 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2019Babyeinfach und zerrissen
Zwischen Danzig und Berlin: Die Journalistin Emilia Smechowski versucht, ihr Heimatland Polen zu verstehen
Für ein Jahr ist die Berliner Journalistin Emilia Smechowski nach Danzig, Gdańsk, gezogen, um das heutige Polen zu erkunden, in dem seit 2015 die rechtspopulistische Partei PiS regiert. Ihre kleine Tochter nahm sie mit. Am ersten Tag in der neuen Kita verhielt sich die Vierjährige wie in Berlin auch, sie gab der Mutter einen Kuss, schubste sie über die Türschwelle und winkte ihr zu, als sei nichts dabei, in einer fremden Stadt, unter lauter Unbekannten ein neues Kita-Leben zu erproben. Eine Woche später dann erzählte die Tochter von einem Jungen, der ihr die Autos wegnehme. Sie sei doch ein Mädchen, dürfe daher nicht mit Autos spielen. „Was hast du daraufhin gesagt?“. fragt Emilia Smechowski. „Nichts“, antwortete die Tochter, „Ich kann doch gar kein Polnisch“.
Emilia Smechowski war fünf Jahre alt, als sie 1988 mit ihrer Familie aus der Volksrepublik Polen nach West-Berlin floh, eine neue Sprache lernen musste. Vor zwei Jahren hat sie in ihrem Debüt „Wir Strebermigranten“ darüber berichtet, den Aufstiegswillen ihrer „Leistungsträger“-Familie geschildert. Ihre Tochter, mit dem Polnischen ein wenig nur vertraut, braucht in Danzig nicht lang, um die Sprache der anderen Kinder zu sprechen, zu sagen, wann sie Hunger oder Durst hat, auf Toilette will, was sie spielen möchte. Bald schon sieht es so aus, als würde die Vierjährige ihre Mutter sprachlich überholen: „Vor Kurzem fing sie an, immer wieder von einem Brötchen mit Butter zu reden, bis ich sie endlich frage, was das zu bedeuten habe“. „Bułka z masłem“, das sagt man, wenn etwas ein Kinderspiel ist, „wenn etwas babyeinfach ist, dann sagt man das“.
Es gibt nur wenige Bücher, die den polnischen Alltag beschreiben, Träume, Sorgen, das normale Leben der Nachbarn. Daher liest man die Geschichten aus dem Kindergarten, dem Wohnhaus, den Einkaufszentren gern, folgt Emilia Smechowski neugierig zu einem Treffen der Tartaren, in ein Dorf, nach Posen und Warschau, auf all den Expeditionen in das „Land voller Widersprüche“. Manches ist gut beobachtet: „Die Polen lieben die Anarchie, aber sie stehen auch wahnsinnig auf Ordnung“, resümiert Smechowski nach einem halben Jahr: „Auf Spielplätzen hängen meterlange Benutzerordnungen, im Schwimmbar stehen manchmal sechs Bademeister pfeifend am Beckenrand (und halten dabei gelbe Plastikbananen als Rettungsbojen in der Hand, was ihre Autorität wiederum untergräbt). Beim Schwimmunterricht müssen alle, auch Erwachsene, eine Badekappe tragen. Und wenn man in der Kita sein Kind von einem fremden Elternteil abholen lassen will, muss man ein Formular ausfüllen, als wollte man einen neuen Reisepass beantragen“.
In der Tat begleitet und ergänzt ein großer Ordnungssinn die sprichwörtliche polnische Freiheitsliebe. Statt diesem Nebeneinander weiter nachzuspüren, wagt Emilia Smechowski eine große politische These, vorgetragen im nur scheinbar zurückhaltenden Subjektivitätssound: „Manchmal wundere ich mich nicht, dass das Land auf dem Weg ist in totalitäre Strukturen.“ Wäre die Formel von der „illiberalen Demokratie“ nicht angemessener? Das Gerede vom Totalitären verstellt bloß den Blick.
Das Jahr im Heimatland endet mit der Ermordung des Danziger Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz, der über Jahre der halb konservativen, halb liberalen Bürgerplattform PO angehörte und 2018 mit dem Bündnis „Alles für Danzig“ im zweiten Wahlgang wieder zum Stadtpräsidenten gewählt wurde. Nach dem Mord wurde landesweit gegen Hass und Gewalt demonstriert. Unter den Trauernden vor dem Rathaus in Danzig stand im Januar 2019 auch Emilia Smechowski. Sie war, schreibt sie, „wirklich verzweifelt“, fühlte sich zum ersten Mal „als Polin, als Danzigerin“. Und ihre Tochter fragte: „Mama, warum weinst Du?“
Was hätte wohl Paweł Adamowicz zu Smechowskis Behauptung gesagt, die Bürgerplattform PO dürfe man sich nicht „als politisches Gegengewicht zur PiS“ vorstellen? „Im Grunde unterscheiden sich Bürgerplattform und PiS nicht allzu sehr, wenn es um Wertvorstellungen und Lebensstile geht“. Sollen wir wirklich glauben, die Unterschiede zwischen den Werten, denen Jarosław Kaczyński folgt, und denen, die Donald Tusk wichtig sind, seien nicht allzu groß? PiS wie PO, begründet Smechowski ihre These, lehnen gleichgeschlechtliche Partnerschaften ab und unterstützen die katholische Kirche. Ersteres stimmt nicht ganz, Letzteres ist zu allgemein formuliert.
Und das schreibt Smechowski ausgerechnet in einem Porträt des Posener Stadtpräsidenten Jacek Jaśkowiak, der seit 2013 Mitglied der Bürgerplattform PO ist und als erstes Stadtoberhaupt in Polen die Schirmherrschaft über die „Parade der Gleichheit“, die Gay-Pride-Demonstration in Posen, übernommen hat. Auch nennt er sich einen Atheisten. Es gibt gewiss aufschlussreiche Gemeinsamkeiten zwischen den verfeindeten Parteien. Sie zu beschreiben, verlangte aber mehr Interesse für Zeitgeschichte, als Smechowski aufbringt. Sie gibt sich lieber mit Floskeln des Kommentarbetriebes zufrieden und überdeckt das Fehlen von Neugier mit dramatisierenden Übertreibungen. Die Linke, heißt es, habe es im postkommunistischen Polen immer schwer gehabt. Nun, sie hat mehrfach regiert. Der linke Präsident Aleksander Kwaśniewski führte Polen in die NATO und die EU. Nirgendwo sonst als in Polen habe es eine rechtskonservative Partei zur absoluten Mehrheit gebracht, heißt es im Buch. Was ist mit Ungarn? Die falsche Übertreibung erspart es Smechowski, auf die Wahlkämpfe einzugehen und zu erklären, warum die PiS 2015 mit 37,6 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erlangen konnte. Der Historiker Peter Oliver Loew hat auf forumdialog.eu einige der sachlich falschen Behauptungen zusammengetragen.
Unter den alarmistischen Zuspitzungen verblassen die wichtigen politischen Konflikte der letzten Jahre. Die „Justizreform“ und die Paralysierung des Obersten Gerichts, den Märtyrerkult um die Toten des Flugzeugabsturzes von Smolensk, die mit Ermordeten gleichgesetzt werden, die Einwanderung von etwa zwei Millionen Ukrainern streift die Autorin nur oberflächlich. Dabei käme es für das versprochene Porträt eines zerrissenen Landes darauf an, Positionen und Eskalationsdynamiken genau darzustellen. Emilia Smechowski hat ihre polnischen Erfahrungen mit Berliner Erwartungen abgeglichen. Eine Sprache für die Ambivalenzen im heutigen Polen hat sie dabei nicht gefunden.
JENS BISKY
„Die Polen lieben die
Anarchie, aber sie stehen
auch wahnsinnig auf Ordnung“
„Es fing so gut an mit diesem Land.“
Emilia Smechowski.
Foto: Sven Simon/imago
Emilia Smechowski: Rückkehr nach Polen. Expeditionen in mein Heimatland. Hanser Berlin, Berlin 2019.
256 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zwischen Danzig und Berlin: Die Journalistin Emilia Smechowski versucht, ihr Heimatland Polen zu verstehen
Für ein Jahr ist die Berliner Journalistin Emilia Smechowski nach Danzig, Gdańsk, gezogen, um das heutige Polen zu erkunden, in dem seit 2015 die rechtspopulistische Partei PiS regiert. Ihre kleine Tochter nahm sie mit. Am ersten Tag in der neuen Kita verhielt sich die Vierjährige wie in Berlin auch, sie gab der Mutter einen Kuss, schubste sie über die Türschwelle und winkte ihr zu, als sei nichts dabei, in einer fremden Stadt, unter lauter Unbekannten ein neues Kita-Leben zu erproben. Eine Woche später dann erzählte die Tochter von einem Jungen, der ihr die Autos wegnehme. Sie sei doch ein Mädchen, dürfe daher nicht mit Autos spielen. „Was hast du daraufhin gesagt?“. fragt Emilia Smechowski. „Nichts“, antwortete die Tochter, „Ich kann doch gar kein Polnisch“.
Emilia Smechowski war fünf Jahre alt, als sie 1988 mit ihrer Familie aus der Volksrepublik Polen nach West-Berlin floh, eine neue Sprache lernen musste. Vor zwei Jahren hat sie in ihrem Debüt „Wir Strebermigranten“ darüber berichtet, den Aufstiegswillen ihrer „Leistungsträger“-Familie geschildert. Ihre Tochter, mit dem Polnischen ein wenig nur vertraut, braucht in Danzig nicht lang, um die Sprache der anderen Kinder zu sprechen, zu sagen, wann sie Hunger oder Durst hat, auf Toilette will, was sie spielen möchte. Bald schon sieht es so aus, als würde die Vierjährige ihre Mutter sprachlich überholen: „Vor Kurzem fing sie an, immer wieder von einem Brötchen mit Butter zu reden, bis ich sie endlich frage, was das zu bedeuten habe“. „Bułka z masłem“, das sagt man, wenn etwas ein Kinderspiel ist, „wenn etwas babyeinfach ist, dann sagt man das“.
Es gibt nur wenige Bücher, die den polnischen Alltag beschreiben, Träume, Sorgen, das normale Leben der Nachbarn. Daher liest man die Geschichten aus dem Kindergarten, dem Wohnhaus, den Einkaufszentren gern, folgt Emilia Smechowski neugierig zu einem Treffen der Tartaren, in ein Dorf, nach Posen und Warschau, auf all den Expeditionen in das „Land voller Widersprüche“. Manches ist gut beobachtet: „Die Polen lieben die Anarchie, aber sie stehen auch wahnsinnig auf Ordnung“, resümiert Smechowski nach einem halben Jahr: „Auf Spielplätzen hängen meterlange Benutzerordnungen, im Schwimmbar stehen manchmal sechs Bademeister pfeifend am Beckenrand (und halten dabei gelbe Plastikbananen als Rettungsbojen in der Hand, was ihre Autorität wiederum untergräbt). Beim Schwimmunterricht müssen alle, auch Erwachsene, eine Badekappe tragen. Und wenn man in der Kita sein Kind von einem fremden Elternteil abholen lassen will, muss man ein Formular ausfüllen, als wollte man einen neuen Reisepass beantragen“.
In der Tat begleitet und ergänzt ein großer Ordnungssinn die sprichwörtliche polnische Freiheitsliebe. Statt diesem Nebeneinander weiter nachzuspüren, wagt Emilia Smechowski eine große politische These, vorgetragen im nur scheinbar zurückhaltenden Subjektivitätssound: „Manchmal wundere ich mich nicht, dass das Land auf dem Weg ist in totalitäre Strukturen.“ Wäre die Formel von der „illiberalen Demokratie“ nicht angemessener? Das Gerede vom Totalitären verstellt bloß den Blick.
Das Jahr im Heimatland endet mit der Ermordung des Danziger Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz, der über Jahre der halb konservativen, halb liberalen Bürgerplattform PO angehörte und 2018 mit dem Bündnis „Alles für Danzig“ im zweiten Wahlgang wieder zum Stadtpräsidenten gewählt wurde. Nach dem Mord wurde landesweit gegen Hass und Gewalt demonstriert. Unter den Trauernden vor dem Rathaus in Danzig stand im Januar 2019 auch Emilia Smechowski. Sie war, schreibt sie, „wirklich verzweifelt“, fühlte sich zum ersten Mal „als Polin, als Danzigerin“. Und ihre Tochter fragte: „Mama, warum weinst Du?“
Was hätte wohl Paweł Adamowicz zu Smechowskis Behauptung gesagt, die Bürgerplattform PO dürfe man sich nicht „als politisches Gegengewicht zur PiS“ vorstellen? „Im Grunde unterscheiden sich Bürgerplattform und PiS nicht allzu sehr, wenn es um Wertvorstellungen und Lebensstile geht“. Sollen wir wirklich glauben, die Unterschiede zwischen den Werten, denen Jarosław Kaczyński folgt, und denen, die Donald Tusk wichtig sind, seien nicht allzu groß? PiS wie PO, begründet Smechowski ihre These, lehnen gleichgeschlechtliche Partnerschaften ab und unterstützen die katholische Kirche. Ersteres stimmt nicht ganz, Letzteres ist zu allgemein formuliert.
Und das schreibt Smechowski ausgerechnet in einem Porträt des Posener Stadtpräsidenten Jacek Jaśkowiak, der seit 2013 Mitglied der Bürgerplattform PO ist und als erstes Stadtoberhaupt in Polen die Schirmherrschaft über die „Parade der Gleichheit“, die Gay-Pride-Demonstration in Posen, übernommen hat. Auch nennt er sich einen Atheisten. Es gibt gewiss aufschlussreiche Gemeinsamkeiten zwischen den verfeindeten Parteien. Sie zu beschreiben, verlangte aber mehr Interesse für Zeitgeschichte, als Smechowski aufbringt. Sie gibt sich lieber mit Floskeln des Kommentarbetriebes zufrieden und überdeckt das Fehlen von Neugier mit dramatisierenden Übertreibungen. Die Linke, heißt es, habe es im postkommunistischen Polen immer schwer gehabt. Nun, sie hat mehrfach regiert. Der linke Präsident Aleksander Kwaśniewski führte Polen in die NATO und die EU. Nirgendwo sonst als in Polen habe es eine rechtskonservative Partei zur absoluten Mehrheit gebracht, heißt es im Buch. Was ist mit Ungarn? Die falsche Übertreibung erspart es Smechowski, auf die Wahlkämpfe einzugehen und zu erklären, warum die PiS 2015 mit 37,6 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erlangen konnte. Der Historiker Peter Oliver Loew hat auf forumdialog.eu einige der sachlich falschen Behauptungen zusammengetragen.
Unter den alarmistischen Zuspitzungen verblassen die wichtigen politischen Konflikte der letzten Jahre. Die „Justizreform“ und die Paralysierung des Obersten Gerichts, den Märtyrerkult um die Toten des Flugzeugabsturzes von Smolensk, die mit Ermordeten gleichgesetzt werden, die Einwanderung von etwa zwei Millionen Ukrainern streift die Autorin nur oberflächlich. Dabei käme es für das versprochene Porträt eines zerrissenen Landes darauf an, Positionen und Eskalationsdynamiken genau darzustellen. Emilia Smechowski hat ihre polnischen Erfahrungen mit Berliner Erwartungen abgeglichen. Eine Sprache für die Ambivalenzen im heutigen Polen hat sie dabei nicht gefunden.
JENS BISKY
„Die Polen lieben die
Anarchie, aber sie stehen
auch wahnsinnig auf Ordnung“
„Es fing so gut an mit diesem Land.“
Emilia Smechowski.
Foto: Sven Simon/imago
Emilia Smechowski: Rückkehr nach Polen. Expeditionen in mein Heimatland. Hanser Berlin, Berlin 2019.
256 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de