Bauch, wie die rätselhaften Bilder zu verstehen seien. Die Filmhistorikerin Lotte Eisner hat das Paradox gesteigert: Gelungene Filme verschlief sie gerne; sobald sie sich aber ärgerte, blieb sie mit Sicherheit wach. Die alte Frage: Was ist der Zaubertrank des Kinos, und wer rührt ein Gebräu an, das solche Folgen zeitigen kann?
Godard ließ in "Passion" seine Kamera durch Arrangements historischer Gemälde fahren, um deren Geheimnisse zu ergründen. An den Gemälden gemessen, ist dieses Experiment mißlungen. Cineastische Kompetenz hat freilich seit jeher ausgezeichnet, Maß an anderer Kunst zu nehmen, um sie mit eigenen Mitteln zu überwinden. Godard ist der Prototyp des filmenden Ikonoklasten. Als erster verinnerlicht er für den Film die Lektion der Pop-art: Das technisch modifizierte Bild gibt seinen Adelsstand auf, und auch die Erzählungen werden brüchig. Verfremdung ist das Rezept der Stunde. Neue Formen müssen herbei. Von einem Buch über Godards wichtigsten Mitarbeiter, den Kameramann Raoul Coutard, könnte man Informationen über ein kreatives Tandem erwarten, das loszog, um die Filmwelt außerhalb des Ateliers und der klassischen Dramaturgie gemeinsam zu revolutionieren.
Doch weit gefehlt. Godard stellt sich als unberechenbarer Kompagnon heraus. Er will, nach einem seiner bekanntesten Sätze, keine andere Geschichte, sondern eine Geschichte anders erzählen. Was die Bildgestaltung betrifft, und das bedeutet beim Aufnehmen: die Bewegung der Kamera, die Wahl des Ausschnitts und die Lichtgestaltung, votiert er immer für das Experiment und für die Improvisation.
Die Erfahrung des Kameramanns, der sein Handwerk als Kriegsfotograf und Operateur der Wochenschau gelernt hatte, ist das Fundament, auf das Godard baut, nicht mehr und nicht weniger. Coutard selbst greift kaum einmal kreativ ein; er liefert nur, was man von ihm erwartet. Seine Wahl zum ersten Träger des "Marburger Kamerapreises" vor vier Jahren war daher eine besondere Herausforderung an alle Laudatoren, deren Einsichten nun in gedruckter Form vorliegen.
Die Annäherung an eine legendäre Phase des europäischen Kunstkinos zeichnet aus, daß sie auf den Versuch einer kunstwissenschaftlichen Darstellung verzichtet. Statt dessen bietet sie, was einen Sammelband ausmacht, der eine lebende Person mit Hilfe ihres Werkes ehren soll: die allfälligen Hommagen, das notorische Frage-und-Antwort-Spiel sowie einen Vergleich mit der Revolte der Impressionisten, der sich als einsichtig erweist. Es komme darauf an, im letzten Moment präzise zu sein, sagt Godard sinngemäß. Nach diesem Motto hat auch ein Monet seine Pinselstriche ausgeführt.
Dagegen sind unter den Filmen, die Raoul Coutard für andere Regisseure gedreht hat, solide Arbeiten, große Erzählungen sogar, Filme von Demy, Rouch und Costa-Gavras und natürlich von François Truffaut. Entscheidend erweist sich stets, ob beim Filmen an das Illustrieren von Drehbuchseiten gedacht wird oder an die Visualisierung von Ideen, auf die der Zuschauer von selbst stoßen kann.
Nach Raoul Coutard sind Robby Müller, Frank Griebe und Slawomir Idziak nach Marburg gekommen. Das intensive Befragen solch versierter Praktiker birgt freilich die Gefahr, den überkommenen Autorenbegriff durch eine andere Politik zu ersetzen - als habe es nicht Mr. Hitchcock, sondern der Kameramann "gemacht". Ein Künstler? Ein Handwerker? Prototypisch für alle Marburger Preisträger erscheint Coutards Bescheidenheit, sein ständiges Relativieren von Produktionsanekdoten, das einen neuen Personenkult verhindert. Einen von diesen Bildern ausgehenden "Zweifel am Stand der Dinge" deuten die meisten Autoren des Bandes an. Auch auf ihrer Seite spürt man einen Aufbruchsmut: den Unterschied zwischen filmischer Rede und filmischer Repräsentanz zu verringern. Oder anders: nicht länger der Intention eines Autors nachzuforschen, wer immer es sei, sondern dem, was zwischen den Nahtstellen der Erzählung passiert, also mitten im Bild.
Wenn praktisches Filmen im engen Sinn aber nur ein Handwerk ist, das zur Kunst führt oder führen kann, dann ist es um so mehr in der Gefahr, irgendwann einfach zu verschwinden wie die Erfindung der Brüder van Eyck, die Ölmalerei. Dieses Jahr hat Slawomir Idziak in Marburg ein Problem geschildert: Er habe zunehmend Probleme, seine ästhetischen Finessen gegen die Postproduktion durchzusetzen. Die Festlegung der Farben und des Lichts erfolge immer seltener am Set, dafür habe sich mit dem Lichtbestimmer ein neuer Berufsstand entwickelt. Die digitale Technik öffnet solchen Entwicklungen Tür und Tor. Die Arbeit am Set wird zum ästhetischen Rohmaterial, zum Sekundärgut - wie die Realität, die es zu Hoch-Zeiten der Kamerakunst nicht zuletzt im emphatischen Sinn zu belichten galt.
THOMAS MEDER
Karl Prümm, Michael Neubauer, Peter Riedel (Hrsg.): "Raoul Coutard". Kameramann der Moderne. Schüren Verlag, Marburg 2004. 208 S., Abb., br., 19,90 [Euro].
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