den fertigen Bildern stecken.
Tatsächlich stellt sich Infante einen Leser vor, der ähnlich unschuldig und wundergläubig ist wie der frühe Kinogänger. Im Vollzug seiner inflationären Beweissucht ad usum delphini laufen begreifliche Idiosynkrasien und groteske Schmähungen wild durcheinander: "María Montez war schön, wenn man die Vorstellung von weiblicher Schönheit hat, die der greise Borges hatte." Schier unbezwingbar ist sein Hang zu Kalauern und Gemeinplätzen, der die Lektüre mitunter zu einer wirklichen Pein macht: "Der Film Die freudlose Gasse, der tatsächlich nichts mir Doktor Freud zu tun hat" oder: "Niemand weiß, wofür das Herz einer Schauspielerin schlägt. Man weiß nur, daß es in 24 Bildern pro Sekunde schlägt."
Daß Infante Jean-Luc Godard und fast die gesamte Nouvelle Vague verachtet (gloriose Ausnahme: François Truffaut), daß Kino für ihn vor allem amerikanisches Kino ist, mag sich mit seiner kubanischen Herkunft und seiner Rolle als Mitbegründer der Kinemathek von Havanna ante Castro erklären. Doch scheint es ihm nie in den Sinn gekommen zu sein, daß zum Beispiel die Leute der Nouvelle Vague zum ersten Mal Film und Filmgeschichte in einer unerhörten Synthese miteinander verschränkt haben. Wenn er, durchaus zu Recht, Orson Welles vor allem deshalb lobt, weil er das Kino - durch die kunstreiche Zusammenführung von Theater und Radio - neu erfunden hat, dann klingt es mehr als verwunderlich, wenn er Bergman und Antonioni (und natürlich Godard) beschimpft, sie hätten "Verbrechen gegen das Kino begangen im Namen der Angst". Auf eine Begründung für dieses absurde Urteil verzichtet er. Dennoch mag man von dem Buch nicht lassen.
Unbestreitbar hat Infante nicht nur sehr viele Filme gesehen, und die Erinnerung an seine affektive Wahrnehmung ist ebenso unerschöpflich wie bewundernswert. Sein gleichermaßen mnemotechnisches wie psychisches Gedächtnis fördert immer wieder großartige Einsichten in das zutage, was man die Triebstruktur des Kinos nennen könnte. Selten hat man eine so leidenschaftliche Hommage an Heddy Lamarr und Louise Brooks gelesen wie bei ihm. Mit marianisch-katholischer Inbrunst zeichnet er die Fetische der blonden und der schwarzhaarigen Stars nach, einschließlich aller erregenden Mischformen und Augentäuschungen.
Wie besessen umkreist er die Erscheinung von Marlene Dietrich; er schmäht sie - "eine Puppe, zum Leben erweckt von einem irrsinnigen Erfinder", nämlich Josef von Sternberg -, und er betet sie an; in einem grellen Schlaglicht auf Orson Welles' "Touch of Evil" entziffert er aus den Dialogen und Accessoires den Grabgesang beider Stars: "Du hast keine Zukunft, mein Lieber, du hast sie verbraucht", sagt sie zu Welles. Doch sie selbst, so Infante, "verspielte mit der schwarzen Perücke ihr blondes Image".
Erhellend ist seine in einem atemlosen Parlando vorgetragene Beobachtung über Hitchcocks russisches Erbe - hinsichtlich der Montage. Und wann hat man je eine so augenfällige Definition des suspense geboten bekommen: "Nach Hitchcock ist der suspense, den er, wenn er ihn nicht gar erfand, für unser Leben zentral machte, der Gegensatz zur Überraschung." Hier wäre vielleicht "das Gegenteil von" noch treffender gewesen, doch ist die Übersetzung von Claudia Hammerschmidt und Gerhard Poppenberg insgesamt erfreulich flüssig; sie haben die Tücken der Übertragung von Kalauern und beiläufigen Anspielungen bravourös gemeistert.
Infantes von gläubiger Besessenheit getragenes, panoramatisches Buch des Hollywoodfilms ist heute, da die meisten aus den Kinos verbannten Meisterwerke durch VHS und DVD zum ersten Mal wirklich zugänglich sind, eine wunderbare Lesehilfe. In seinen schönsten Momenten liefern seine Seiten uns den Abglanz dessen, was im Kinosaal der Augenblick der Entrückung ist: wenn es dunkel wird und die Leinwand von den Strahlen der großen Projektion erfüllt wird.
Guillermo Cabrera Infante: "Nichts als Kino". Aus dem Spanischen übersetzt von Claudia Hammerschmidt und Gerhard Poppenberg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 460 S., geb., 58,- DM.
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