Rambouillet-Verhandlungen unglaubwürdig gewesen wäre, erweist sich nun vollends als haltlos: das Harmoniestreben, in dem hier aus dem "silberfarbenen pannonischen Staub" ein "armes Land der reichen Kindheit" wiederauferstehen soll, will man diesen Erinnerungen nun gar nicht mehr abnehmen. Zwar ist der Wunsch des Autors nur allzu menschlich, im Andenken an seine im Zweiten Weltkrieg verlorengegangene Heimat etwas Unzerstörbares zu retten. Die kriegerische Kontinuität, die das gesamte Jahrhundert in Intervallen beherrscht und sich in der aktuellen Konfrontation erneut äußert, zeigt jedoch, daß der Balkan die am wenigsten geeignete europäische Region ist, die ethnischen Ursprünge und Dimensionen der Übel auszublenden.
Genau das aber tut Weidenheim in seinen als Roman verfaßten Memoiren. Der Geburtsort mit dem fiktiven Namen Maresi, hinter dem sich das authentische Backa Topola verbirgt, erhebt sich als paradiesische, von den Zeitläuften so gut wie unberührte Insel des Friedens. Obwohl sich in dem Städtchen und seiner Umgebung die verschiedensten Nationalitäten zusammenfinden - "Juden, Zigeuner, Magyaren, Deutsche, Serben, Tschechen, Ruthenen, Slowaken" -, blickt Weidenheim über das "tiefe Wasser Weltgeschichte" ohne viel Umstände und meist frohgemut hinweg. Auf diese Weise fließen auch die wenigen Fälle, in denen Ungemach droht und von Zwist oder gar Krieg die Rede ist, in den munter plätschernden Strom oft auch burlesker Anekdoten ein. Wir lernen den Totengräber Kaukereit kennen, die Buchhandlung Horowitz, Zoltán Toldy, den verrückten Sohn des Buchbinders, manche Doktorspiele und erste Lieben, Personen und Begebenheiten also, die man - würden nicht der Orientexpreß, ein fidelnder Zigeunerprimas, Kukuruz und Kürbis herbeizitiert - anderswo ähnlich antreffen könnte. Zwar merkt man auf, wenn von Häusern in Serbischblau und anderen in Schwäbischweiß die Rede ist, doch wenn der Vater dann wieder, seiner Gewohnheit folgend, einmal Radio Belgrad, das andere Mal Radio Budapest hört und irgendwann ein Ausflug ins nahe Serbien stattfindet, ist die vielsprachige Kleinbürgerwelt Maresis wieder in Ordnung.
Weidenheims Folklorismus hängt noch immer der Fiktion eines symbiotischen Miteinanders verschiedener Nationalitäten nach. Aber dieser Traum von Mitteleuropa war spätestens mit dem Zerfall Tito-Jugoslawiens zu Beginn der neunziger Jahre ausgeträumt. Eine einzige Erinnerung - die Geschichte des unnahbaren jüdischen Mädchens Agnes Szász, das später als russische Spionin während der Horthy-Ära erschossen wurde - lüftet für die Dauer von drei Seiten den von Weidenheim ausgebreiteten Mantel der Harmonie. Plötzlich denkt man daran, welch große Literatur das Drama des Balkans hervorgebracht hat. THOMAS MEDICUS
Johannes Weidenheim: "Maresi. Eine Kindheit in einem donauschwäbischen Dorf". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999. 272 S., geb., 38,- DM.
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