Wie Kinder sich entwickeln - die (R)Evolution im Kinderzimmer
Kinder folgen in ihrer Entwicklung uralten Programmen. Diese haben Tausende von Jahren dafür gesorgt, dass kleine Menschen gut mit dem Leben zurechtkommen. Doch mit ihrem evolutionären Erbe stoßen Kinder heute oft an ihre Grenzen und an die ihrer Eltern. Die Erkenntnisse der aktuellen Evolutionsforschung und besonnener Rat eines erfahrenen Kinderarztes helfen, auf Erziehungsfragen im wahrsten Sinne des Wortes kindgerechte Antworten zu finden.
Warum ist die Evolutionsforschung so wichtig, um Kinder wirklich zu verstehen?
Herbert Renz-Polster: Kinder verhalten sich oft anders, als wir Erwachsenen uns das wünschen: Sie wollen partout nicht einschlafen, kein Gemüse essen, dafür schreien sie ausgiebig und ohne erkennbaren Grund. Es hat sich eingebürgert, all das als ein Defizit der Kinder zu sehen. Da glauben Eltern dann nur allzu leicht, sie machen bei der Erziehung etwas falsch.
Eltern müssen also nicht immer gleichan sich selbst zweifeln?
Herbert Renz-Polster: Die Evolutionsforschung kann Eltern den Rücken stärken. Kinder entwickeln sich so, wie sie sich entwickeln, weil es einmal gut für ihr Überleben war. Ihr Verhalten war eine Stärke, kein Defekt. Hätten Kleinkinder früherer Jahrhunderte auf der Wiese wahllos grüne Blätter in den Mund gesteckt, hätten sie nicht lange überlebt. Kein Wunder, dass Kinder auch heute noch Gemüse skeptisch beäugen. Wer das evolutionäre Erbe versteht, das Kinder mit auf die Welt bringen, kann ihre Entwicklung kompetenter und gelassener begleiten.
"Lesenswert, erfrischend undogmatisch..." -- Manuela Lenzen in der FAZ
"Es geht um eine Erziehungshaltung, die den Kindern möglichst gerecht wird, aber für die Eltern auch lebbar ist. Dieses Buch kann Eltern bei ihrer Aufgabe unterstützen." -- Remo Largo, Autor von "Babyjahre" und "Kinderjahre"
"Vergnügliche Einblicke in die menschliche Verhaltensforschung und originelle Standpunkte zu den wichtigsten Erziehungsthemen." -- Gehirn und Geist
Kinder folgen in ihrer Entwicklung uralten Programmen. Diese haben Tausende von Jahren dafür gesorgt, dass kleine Menschen gut mit dem Leben zurechtkommen. Doch mit ihrem evolutionären Erbe stoßen Kinder heute oft an ihre Grenzen und an die ihrer Eltern. Die Erkenntnisse der aktuellen Evolutionsforschung und besonnener Rat eines erfahrenen Kinderarztes helfen, auf Erziehungsfragen im wahrsten Sinne des Wortes kindgerechte Antworten zu finden.
Warum ist die Evolutionsforschung so wichtig, um Kinder wirklich zu verstehen?
Herbert Renz-Polster: Kinder verhalten sich oft anders, als wir Erwachsenen uns das wünschen: Sie wollen partout nicht einschlafen, kein Gemüse essen, dafür schreien sie ausgiebig und ohne erkennbaren Grund. Es hat sich eingebürgert, all das als ein Defizit der Kinder zu sehen. Da glauben Eltern dann nur allzu leicht, sie machen bei der Erziehung etwas falsch.
Eltern müssen also nicht immer gleichan sich selbst zweifeln?
Herbert Renz-Polster: Die Evolutionsforschung kann Eltern den Rücken stärken. Kinder entwickeln sich so, wie sie sich entwickeln, weil es einmal gut für ihr Überleben war. Ihr Verhalten war eine Stärke, kein Defekt. Hätten Kleinkinder früherer Jahrhunderte auf der Wiese wahllos grüne Blätter in den Mund gesteckt, hätten sie nicht lange überlebt. Kein Wunder, dass Kinder auch heute noch Gemüse skeptisch beäugen. Wer das evolutionäre Erbe versteht, das Kinder mit auf die Welt bringen, kann ihre Entwicklung kompetenter und gelassener begleiten.
"Lesenswert, erfrischend undogmatisch..." -- Manuela Lenzen in der FAZ
"Es geht um eine Erziehungshaltung, die den Kindern möglichst gerecht wird, aber für die Eltern auch lebbar ist. Dieses Buch kann Eltern bei ihrer Aufgabe unterstützen." -- Remo Largo, Autor von "Babyjahre" und "Kinderjahre"
"Vergnügliche Einblicke in die menschliche Verhaltensforschung und originelle Standpunkte zu den wichtigsten Erziehungsthemen." -- Gehirn und Geist
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2009Die Fitness der Mutter ist nicht verhandelbar
Glücklicherweise sind Kinder nicht auf perfekte Welten angewiesen. Ausgeglichene Eltern können sich mehr Fehler leisten, als Erziehungsratgeber erlauben, meint der Kinderarzt Herbert Renz-Polster.
Darwin muss im Darwin-Jahr für so manches herhalten, von der Landschaftsarchitektur (englische Gärten als Abbild der Savanne) bis zur Ernährungsberatung (Steak mit Salat statt Butterbrot). Kommt jetzt auch noch der darwinsche Erziehungsberater, der die Kinder fitmachen will fürs Überleben? Glücklicherweise nicht. Das neue Buch des Kinderarztes Herbert Renz-Polster ist eine lesenswerte, erfrischend undogmatische Variation auf das Thema "Mammutjäger in der Metro".
Es geht ihm gerade nicht darum, was Eltern alles tun müssen, damit ihre Kinder werden, wie sie sollen; er rät genau im Gegenteil, was sie bleiben lassen sollten, um keinen unnötigen Stress zu veranstalten, wo sie ohnehin nichts ändern können. Der Blick in die Evolutionsgeschichte dient Renz-Polster dazu, Verhalten und Entwicklung kleiner Kinder verständlich zu machen. Es gibt einen Rahmen, den zu verlassen Kosten physischer und psychischer Art verursacht, so Renz-Polster, doch es gibt keinen evolutionär vorgesehenen Lebensstil. Es widerspricht seinem eigenen Projekt, wenn er dem ganzen Unternehmen am Ende doch noch den Titel "evolutionäre Erziehung" anheftet, die Lektüre stört das nicht.
Kinder, so seine zentrale Botschaft, sind keine unvollkommenen Erwachsenen, keine Mängelwesen. Sie sind vielmehr perfekte Kinder, sie haben alles, was sie brauchen, um Kinder zu sein und Erwachsene zu werden. Diese Ausstattung allerdings ist ein Erbe der Evolutionsgeschichte, was dazu führt, dass Kinder, ebenso wie die Erwachsenen, nie ganz in unsere Welt passen. Mangelndes Verständnis für dieses evolutionäre Erbe lässt uns bisweilen an unseren Kindern und an unseren Fähigkeiten als Eltern zweifeln, und es lässt uns immer wieder pädagogischen Spekulationsblasen aufsitzen, vom ach so gesunden Spinat über das Schlafen im eigenen Bett bis zum Englischunterricht im Kindergarten.
Renz-Polster will Eltern ermutigen, in dem manchmal rätselhaften Verhalten ihrer Kinder Stärken statt Defizite zu erkennen. Denn die Evolutionsgeschichte ist bekanntlich die Geschichte der Überlebenden, und so sind die kindlichen Verhaltensweisen offenbar diejenigen, die die Kinder überleben ließen.
Gerade im Kleinkindalter, in dem erste eigene Experimente anstehen, ist es in evolutionärer Perspektive durchaus sinnvoll, beim Essen wählerisch zu sein und sich im Zweifel an das Süße und Fettige zu halten: Es macht satt und ist höchstwahrscheinlich ungefährlich. Keine Gemüse zu mögen ist Teil einer normalen Entwicklung, legt sich zumeist von selbst wieder und ist kein Grund für viel Erziehungsstress am Mittagstisch. Dass der Säugling die ersten sechs Monate zur Verhütung von Allergien nichts als Muttermilch bekommen sollte, hält Renz-Polster nicht für plausibel. In Muttermilch und Speichel des Babys findet sich das zum Abbau von Stärke nötige Enzym Amylase. Stärkehaltige Beikost vertragen Babys demnach von Anfang an. Somit scheint Nahrungsergänzung von Beginn an vorgesehen, es wäre wohl Verschwendung gewesen, hätte die Mutter in der Steinzeit ihrem Baby nicht von den reifen Heidelbeeren abgegeben, die sie im Wald gefunden hat. Das heißt aber nicht, dass Muttermilch schon in zartem Alter zu ersetzen wäre. Es verträgt sich zwar nicht mit der modernen Arbeitswelt, doch eine lange Phase, in der Kinder parallel gestillt und gefüttert wurden, scheint die längste Zeit normal gewesen zu sein. Zudem kommen Kinder mit zerkleinerter Erwachsenennahrung gut zurecht, und außer der Gewohnheit gibt es keinen Grund, warum es erst nur Möhren, dann Kartoffeln und dann Blumenkohl sein müsste.
Ein ebenso emotionsbefrachtetes Thema wie das Essen ist das Schlafen. Es ist leicht einsehbar, dass es für das extrem hilflose Neugeborene nur einen sicheren Platz auf der Welt gibt: nah bei Mama. Die Sicherheit von Gitterbettchen und Babyphonen will sich einem Säugling nicht erschließen, und entsprechend ist seine Reaktion, mutet man ihm zu, allein im Kinderzimmer zu schlafen. Gefühlsmäßig haben auch viele Mütter ihren Nachwuchs gerne neben sich liegen, doch wird er damit nicht verwöhnt? Wird es je gelingen, ihn ins eigene Bett umzusiedeln?
Denn auch wenn das Neugeborene sich an die Mutter schmiegt, spätestens der Zweijährige liegt quer im Elternbett, was die Nachtruhe nicht gerade verbessert. Und beeinträchtigt das Schlafen im Elternbett nicht die Selbständigkeit? Kann man das Kind am Ende im Schlaf erdrücken? Renz-Polster winkt ab. Die dokumentierten Fälle von "Todliegen" seien sämtlich auf "nachträgliche Familienplanung" zurückzuführen, der plötzliche Kindstod sei bei den Kindern häufiger, die allein schlafen müssen. Die körperliche Nähe der Mutter scheint vielmehr die Körperfunktionen des Neugeborenen zu stützen, seine Reifung zu beschleunigen. Und was die nicht nur in der westlichen Welt so ersehnte frühe Selbständigkeit angeht, scheint die Erziehung insgesamt nicht viel auszumachen. Selbständigkeit ist ein Reifungsprozess und das Beste, was die Eltern tun können, besteht oft darin, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Kinder ihre Erfahrungen machen zu lassen.
Als Faustregel wird in diesem Buch die Maxime hochgehalten, dass die Kräfte aller Beteiligten geschont werden müssen. Die Fitness der Mutter ist nicht verhandelbar: den Satz sollten gestresste Mütter sich über den Familientisch hängen.
Erziehung wird heute oft als eine gnadenlose Verantwortung betrachtet, als müsse jedes Neuron im kindlichen Gehirn gehegt und gepflegt werden. Eltern Schuld in die Schuhe zu schieben ist ein erfolgreiches Geschäftsmodell der Psychologie, so Renz-Postler. Doch glücklicherweise sind Kinder nicht auf perfekte Welten angewiesen. Sie brauchen zufriedene, ausgeglichene Eltern, sie brauchen die Möglichkeit, sich selbst als aktiv und tüchtig zu erfahren.
Mathe und Englisch können warten, und auch die hundertste Ermahnung an Klein Lisa, doch Klein Paul nicht die Schaufel wegzunehmen, beruhigt allenfalls die Eltern. Förderprogramme, die zu früh an Kinder herangetragen werden, verpuffen ohnehin wirkungslos. Es mag für engagierte Eltern frustrierend und zugleich erleichternd sein, sich nicht als die Macher im Leben ihrer Kinder betrachten zu müssen. Genaugenommen müssen Kinder nicht verändert und erzogen, sie müssen in ihrer Entwicklung unterstützt werden.
Wenn wir ehrlich sind, so Renz-Polster erziehen wir unsere Kinder einfach so, wie es alle machen. Wie es richtig ist, sagen uns weder Intuition noch Großeltern oder vermeintliche Naturvölker. Auch der Blick zurück in die Evolutionsgeschichte zeigt lediglich, wie manche Erziehungsprobleme aus der verlorengegangenen Passung unserer evolutionären Ausstattung und der modernen Welt entstehen. Doch er kann vielleicht verhüten, dass wir immer wieder aufs Neue zweifelhaften Moden und Ratgebern folgen. Und er kann uns beruhigen: Unsere Kinder sind von Natur aus ziemlich fehlertolerant.
MANUELA LENZEN
Herbert Renz-Polster: "Kinder verstehen". Born to be wild. Wie die Evolution unsere Kinder prägt. Kösel Verlag, München 2009. 511 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Glücklicherweise sind Kinder nicht auf perfekte Welten angewiesen. Ausgeglichene Eltern können sich mehr Fehler leisten, als Erziehungsratgeber erlauben, meint der Kinderarzt Herbert Renz-Polster.
Darwin muss im Darwin-Jahr für so manches herhalten, von der Landschaftsarchitektur (englische Gärten als Abbild der Savanne) bis zur Ernährungsberatung (Steak mit Salat statt Butterbrot). Kommt jetzt auch noch der darwinsche Erziehungsberater, der die Kinder fitmachen will fürs Überleben? Glücklicherweise nicht. Das neue Buch des Kinderarztes Herbert Renz-Polster ist eine lesenswerte, erfrischend undogmatische Variation auf das Thema "Mammutjäger in der Metro".
Es geht ihm gerade nicht darum, was Eltern alles tun müssen, damit ihre Kinder werden, wie sie sollen; er rät genau im Gegenteil, was sie bleiben lassen sollten, um keinen unnötigen Stress zu veranstalten, wo sie ohnehin nichts ändern können. Der Blick in die Evolutionsgeschichte dient Renz-Polster dazu, Verhalten und Entwicklung kleiner Kinder verständlich zu machen. Es gibt einen Rahmen, den zu verlassen Kosten physischer und psychischer Art verursacht, so Renz-Polster, doch es gibt keinen evolutionär vorgesehenen Lebensstil. Es widerspricht seinem eigenen Projekt, wenn er dem ganzen Unternehmen am Ende doch noch den Titel "evolutionäre Erziehung" anheftet, die Lektüre stört das nicht.
Kinder, so seine zentrale Botschaft, sind keine unvollkommenen Erwachsenen, keine Mängelwesen. Sie sind vielmehr perfekte Kinder, sie haben alles, was sie brauchen, um Kinder zu sein und Erwachsene zu werden. Diese Ausstattung allerdings ist ein Erbe der Evolutionsgeschichte, was dazu führt, dass Kinder, ebenso wie die Erwachsenen, nie ganz in unsere Welt passen. Mangelndes Verständnis für dieses evolutionäre Erbe lässt uns bisweilen an unseren Kindern und an unseren Fähigkeiten als Eltern zweifeln, und es lässt uns immer wieder pädagogischen Spekulationsblasen aufsitzen, vom ach so gesunden Spinat über das Schlafen im eigenen Bett bis zum Englischunterricht im Kindergarten.
Renz-Polster will Eltern ermutigen, in dem manchmal rätselhaften Verhalten ihrer Kinder Stärken statt Defizite zu erkennen. Denn die Evolutionsgeschichte ist bekanntlich die Geschichte der Überlebenden, und so sind die kindlichen Verhaltensweisen offenbar diejenigen, die die Kinder überleben ließen.
Gerade im Kleinkindalter, in dem erste eigene Experimente anstehen, ist es in evolutionärer Perspektive durchaus sinnvoll, beim Essen wählerisch zu sein und sich im Zweifel an das Süße und Fettige zu halten: Es macht satt und ist höchstwahrscheinlich ungefährlich. Keine Gemüse zu mögen ist Teil einer normalen Entwicklung, legt sich zumeist von selbst wieder und ist kein Grund für viel Erziehungsstress am Mittagstisch. Dass der Säugling die ersten sechs Monate zur Verhütung von Allergien nichts als Muttermilch bekommen sollte, hält Renz-Polster nicht für plausibel. In Muttermilch und Speichel des Babys findet sich das zum Abbau von Stärke nötige Enzym Amylase. Stärkehaltige Beikost vertragen Babys demnach von Anfang an. Somit scheint Nahrungsergänzung von Beginn an vorgesehen, es wäre wohl Verschwendung gewesen, hätte die Mutter in der Steinzeit ihrem Baby nicht von den reifen Heidelbeeren abgegeben, die sie im Wald gefunden hat. Das heißt aber nicht, dass Muttermilch schon in zartem Alter zu ersetzen wäre. Es verträgt sich zwar nicht mit der modernen Arbeitswelt, doch eine lange Phase, in der Kinder parallel gestillt und gefüttert wurden, scheint die längste Zeit normal gewesen zu sein. Zudem kommen Kinder mit zerkleinerter Erwachsenennahrung gut zurecht, und außer der Gewohnheit gibt es keinen Grund, warum es erst nur Möhren, dann Kartoffeln und dann Blumenkohl sein müsste.
Ein ebenso emotionsbefrachtetes Thema wie das Essen ist das Schlafen. Es ist leicht einsehbar, dass es für das extrem hilflose Neugeborene nur einen sicheren Platz auf der Welt gibt: nah bei Mama. Die Sicherheit von Gitterbettchen und Babyphonen will sich einem Säugling nicht erschließen, und entsprechend ist seine Reaktion, mutet man ihm zu, allein im Kinderzimmer zu schlafen. Gefühlsmäßig haben auch viele Mütter ihren Nachwuchs gerne neben sich liegen, doch wird er damit nicht verwöhnt? Wird es je gelingen, ihn ins eigene Bett umzusiedeln?
Denn auch wenn das Neugeborene sich an die Mutter schmiegt, spätestens der Zweijährige liegt quer im Elternbett, was die Nachtruhe nicht gerade verbessert. Und beeinträchtigt das Schlafen im Elternbett nicht die Selbständigkeit? Kann man das Kind am Ende im Schlaf erdrücken? Renz-Polster winkt ab. Die dokumentierten Fälle von "Todliegen" seien sämtlich auf "nachträgliche Familienplanung" zurückzuführen, der plötzliche Kindstod sei bei den Kindern häufiger, die allein schlafen müssen. Die körperliche Nähe der Mutter scheint vielmehr die Körperfunktionen des Neugeborenen zu stützen, seine Reifung zu beschleunigen. Und was die nicht nur in der westlichen Welt so ersehnte frühe Selbständigkeit angeht, scheint die Erziehung insgesamt nicht viel auszumachen. Selbständigkeit ist ein Reifungsprozess und das Beste, was die Eltern tun können, besteht oft darin, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Kinder ihre Erfahrungen machen zu lassen.
Als Faustregel wird in diesem Buch die Maxime hochgehalten, dass die Kräfte aller Beteiligten geschont werden müssen. Die Fitness der Mutter ist nicht verhandelbar: den Satz sollten gestresste Mütter sich über den Familientisch hängen.
Erziehung wird heute oft als eine gnadenlose Verantwortung betrachtet, als müsse jedes Neuron im kindlichen Gehirn gehegt und gepflegt werden. Eltern Schuld in die Schuhe zu schieben ist ein erfolgreiches Geschäftsmodell der Psychologie, so Renz-Postler. Doch glücklicherweise sind Kinder nicht auf perfekte Welten angewiesen. Sie brauchen zufriedene, ausgeglichene Eltern, sie brauchen die Möglichkeit, sich selbst als aktiv und tüchtig zu erfahren.
Mathe und Englisch können warten, und auch die hundertste Ermahnung an Klein Lisa, doch Klein Paul nicht die Schaufel wegzunehmen, beruhigt allenfalls die Eltern. Förderprogramme, die zu früh an Kinder herangetragen werden, verpuffen ohnehin wirkungslos. Es mag für engagierte Eltern frustrierend und zugleich erleichternd sein, sich nicht als die Macher im Leben ihrer Kinder betrachten zu müssen. Genaugenommen müssen Kinder nicht verändert und erzogen, sie müssen in ihrer Entwicklung unterstützt werden.
Wenn wir ehrlich sind, so Renz-Polster erziehen wir unsere Kinder einfach so, wie es alle machen. Wie es richtig ist, sagen uns weder Intuition noch Großeltern oder vermeintliche Naturvölker. Auch der Blick zurück in die Evolutionsgeschichte zeigt lediglich, wie manche Erziehungsprobleme aus der verlorengegangenen Passung unserer evolutionären Ausstattung und der modernen Welt entstehen. Doch er kann vielleicht verhüten, dass wir immer wieder aufs Neue zweifelhaften Moden und Ratgebern folgen. Und er kann uns beruhigen: Unsere Kinder sind von Natur aus ziemlich fehlertolerant.
MANUELA LENZEN
Herbert Renz-Polster: "Kinder verstehen". Born to be wild. Wie die Evolution unsere Kinder prägt. Kösel Verlag, München 2009. 511 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ah, wie beruhigend: Kinder sind nicht auf die perfekte Welt angewiesen, also auch nicht auf die perfekten Eltern. Manuela Lenzen freut sich über einen Erziehungsberater, der zum Glück gar keiner ist. Stattdessen rät der Autor frisch und undogmatisch zu mehr Gelassenheit. Wenn sich Herbert Renz-Polster zu diesem Zweck Unterstützung bei Darwin holt, geht das für Lenzen in Ordnung. Schließlich liest der Autor Darwin nicht im Hinblick auf das Überleben des Fittesten, sondern als Hinweis für die Selbständigkeit des kindlichen Reifungsprozesses. Wir dürfen entspannen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Hinter vielen typischen Familienproblemen stecken keine Erziehungsfehler, sondern evolutionär bedingte Entwicklungen. So lautet eine der wichtigen Botschaften in diesem locker geschriebenen Standardwerk.« Der Spiegel Wissen