entdeckt zu werden.
Patrick Hamiltons Roman "Hangover Square", der 1941 erschien und nun erstmals auf deutsch vorliegt, erzählt die Geschichte eines Alkoholikers und seiner hündischen Ergebenheit, die auf Verachtung stößt, als sie zum erstenmal ausgesprochen wird: "Weil er nicht geschlafen hatte, verdarb er es so gründlich an diesem Abend in ihrer Wohnung. Er hatte viel getrunken, doch war er eher erschöpft als betrunken, als er sich ihr zu nähern versuchte, sie zu küssen versuchte. Sein Geist war umnebelt. Er mußte sich konzentrieren, um zu denken, um aufrecht zu stehen. Sie blieb einigermaßen gefaßt und verwies ihn natürlich der Wohnung. Wie ein Lamm zog er von dannen; so vernünftig war er noch. Als er schließlich in der Tür stand und Beteuerungen und Entschuldigungen vorbrachte, sagte sie: ,Ja. Gute Nacht' und schlug ihm die Tür vor der Nase zu."
So geht es immer, außer in den Momenten (die sich später zu Tagen weiten), in denen über George eine sonderbare Form des Weggetretenseins kommt, Nettas Anziehungskraft nicht mehr wirkt und etwas in ihm beschließt, daß er sie töten wird, um anschließend aufs Land zu ziehen, wo er dann, wie er sich vage ausmalt, "glücklich sein" wird.
Unter dieser Spannung steht der Roman bis zum Ende. Die Zustände, die über George kommen, wechseln unvermittelt; zwischen ihn und die Welt schiebt sich eine dünne Folie, die alle Geräusche abdämpft und jedes Mitgefühl betäubt, und weil das Buch mit einer solchen Phase anhebt, in der Georges mörderischer Entschluß ausgesprochen wird, steht dieses Vorhaben von Anfang an drohend über dem Fortgang der Handlung. Dazwischen finden sich kleine Aufhellungen des Elends; manchmal, so scheint es, hat Netta es zu weit getrieben und George endgültig genug von ihr; dann wieder kommt ein alter Freund ins Spiel, der sich des Säufers annimmt und ihm eine Perspektive bietet, aus alldem zu entkommen; am Ende aber, soviel ist rasch deutlich, wird es keinen Ausweg geben, und selbst die ländliche Utopie, fernab von allen Londoner Pubs, von Netta, erweist sich natürlich als grau und wenig rettend.
Das Dickicht aus Trunksucht, unerwiderter Liebe und zwanghaft vertaner Zeit hatte Hamilton bereits 1929 bis 1934 in seiner Trilogie "20 000 Straßen unter dem Himmel" beschrieben, jeden Teil aus der Perspektive einer anderen der drei Hauptfiguren. Einer seiner Bewunderer, der Schriftsteller J. B. Priestley, nannte das Werk 1935 Hamiltons "bisher beste Arbeit" und rühmte das große Vermögen des Autors bei der Schilderung des Milieus "in dem Gewirr des stein- und asphaltgebundenen Alltags des Londoner Kleinbürgertums".
Doch es scheint, als habe Hamilton, als er einige Jahre später "Hangover Square" begann, die Trilogie noch einmal neu schreiben wollen - kompakter, klarer, weniger sentimental und vor allem, bei aller Sympathie für seinen geschlagenen Helden, deutlich differenzierter, während er gleichzeitig die Erzählperspektive noch stärker an diese Figur band: George Bone, der hoffnungslos Liebende und haltlos Trinkende, der weichherzige Verehrer und kaltherzige Mörder, der Doppelgänger seiner selbst, ist in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und Fragwürdigkeit ein großartiges Medium für die Atmosphäre im Londoner Westen kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
So kommt Hamilton ganz ohne die moritathaften Kommentare aus, die noch in "20 000 Straßen unter dem Himmel" etwa den alkoholbedingten Abstieg des Mädchens Jenny zur Prostituierten mit warnenden Worten begleiten, und sein erkennbar aus eigenem Erleben gespeister Trinkerroman "Hangover Square" gewinnt seine Glaubwürdigkeit gerade aus dem Umstand, daß Hamilton der Hauptfigur bei allen Umschwüngen einfach zusieht und der Wirkung dieser Erzählweise vertraut.
Der entscheidende Fortschritt gegenüber der Trilogie aber ist, daß Hamilton keine Anstalten macht, das Rätsel Netta aufzulösen. Wir erfahren alles, was George unternimmt, wie er zu Netta redet - und gleichzeitig zwanghaft abschätzt, welche Folgen seine Worte für sein Verhältnis zu ihr haben werden. Wir erleben sein verzweifeltes Anrennen gegen ein Bollwerk von Ignoranz und Gereiztheit, gelegentlich auch schnöde Ausnutzung seiner Gutmütigkeit, so scheint es ihm - daß dahinter eine andere Wahrheit verborgen liegt, wird rasch deutlich, und daß wir von Netta selbst fast gar nichts erfahren, weil wir die verzerrte Brille George Bones tragen, eine Brille, die von Netta nur das hindurchläßt, was seine Obsession nähren kann.
Bevor er 1962 an Leberzirrhose und Nierenversagen starb, war Patrick Hamilton ein vielversprechender, erfolgreicher, sogar berühmter Autor gewesen. Seine Theaterstücke "Rope" ("Cocktail für eine Leiche") und "Gaslight" wurden von Hitchcock und Cukor verfilmt, und selbst als sein Ruhm verblaßt, seine Kreativität längst versiegt war, flossen die Tantiemen seiner Stücke noch reichlich genug für ein auskömmliches Leben - trotzdem wurde er zeitlebens seine finanziellen Sorgen nicht mehr los. Die Hoffnung auf eine bescheidene Hamilton-Renaissance in Deutschland aber erscheint mit diesem Band nicht unbegründet. Denn um das enorme Vermögen des Autors zu unterstreichen, mit kalter Hand und voller Mitgefühl das Elend seiner Zeitgenossen zu malen, hätte der Verlag kein besseres Werk präsentieren können.
Patrick Hamilton: "Hangover Square". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Miriam Mandelkow. Dörlemann Verlag, Zürich 2005. 380 S., geb., 23,- [Euro].
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