erfolgreich verwaltet, jetzt eine Art Volksausgabe heraus, ein Existenzminimum im Taschenbuchformat, handlich, ohne gelehrten und bibliographischen "Ballast".
Das Team, das der dänische Germanist Bengt Algot Sørensen um sich versammelt hat - alle Autoren lehren an der Universität Odense -, hat den Mut, die gesamte Geschichte der deutschen Literatur auf 770 Seiten zu präsentieren. Die Abmessungen, so scheint es, sind reichlich. Doch müssen sich die meisten Epochen mit etwa vierzig Seiten begnügen. Das gilt für das hohe Mittelalter wie für das Barock, für Aufklärung, Weimarer Klassik und Romantik. Üppiger schon wird das Fin de siècle ausgestattet, dafür reicht es mit seinen Ausläufern bis in die Mitte des Jahrhunderts. Die "Strömungen" der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts bringen es auf gut neunzig Seiten. Für die Literatur von 1945 bis zur Gegenwart (1995) brechen dann die Dämme: 170 Seiten.
Die Proportionen geben ein Spiegelbild des gegenwärtigen Literaturunterrichts. Mit Qualität haben sie weniger zu tun. Besonders kraß tritt die Disproportion von Genie und Raum bei den Außenseitern in Erscheinung, die in kein Epochen-Päckchen passen wollen. Die berühmtesten dieser Sonderwegler, Jean Paul, Hölderlin und Kleist, müssen deshalb ihre Abwegigkeit noch einmal büßen. Für jeden bleiben ungefähr vier Seiten - weniger als für Lenz, Wieland oder Brecht, etwa gleich viel wie für Enzensberger (der gleich mit drei Phasen vorgestellt wird) oder für Christa Wolf (deren Besprechung Züge einer unfreiwilligen Parodie annimmt).
Pech haben Johann Michael von Loën, Johann Karl Wezel, Robert Walser, Joseph Breitbach, Robert Gernhardt - sie kommen erst gar nicht vor. Kaum besser ergeht es Karl Kraus oder Thomas Bernhard, die in wenigen Zeilen abgefertigt werden, oder Alfred Döblin, der - nach einer halben Seite zum "Alexanderplatz" - nur noch im name dropping erscheint: kein "Wang-lun", kein "Wallenstein", kein "Hamlet". Ob man auch die Bedeutung der Werke solchermaßen vermessen kann? Je eine halbe Seite für "Iphigenie" und "Tasso", anderthalb Seiten für den "Wallenstein", zweieinhalb für "Faust". Der "Bitterfelder Weg" und die "Ankunftsliteratur" der DDR beanspruchen mehr Platz. Die "Henneckegeschichten" nehmen so viel Raum ein wie der "Heinrich von Ofterdingen" und mehr als Thomas Manns "Joseph", der sich mit ein paar Floskeln begnügen muß. Nur soviel zum Thema Mißverhältnis.
Epochen, Gattungen, Autoren - so lautet das Schema, nach dem man vorgeht. Kein neuer "Ismus" sei nach Expressionismus und Dadaismus entstanden, heißt es gelegentlich, wohl mit Bedauern. Von da ab helfen dann eben Jahreszahlen. Sonst tun die alten Epochenbegriffe mehr oder weniger verdrossen ihren Dienst - machen sich geltend und treten verspätet auf (Barock), sind eine Bewegung mit Wurzeln (Aufklärung), beschränken sich auf ein Jahrzehnt (Sturm und Drang), sind umstritten (Klassik), begreifen "einen wesentlichen Teil der Literatur" unter sich (Romantik), sind "Strömungen", die manchmal ein und denselben Autor "gleichzeitig oder kurz nacheinander" erfassen (Fin de siècle). Wie gut, daß nach dem Verscheiden der "Ismen" wenigstens die Kulturpolitik der DDR für Begriffe und Ordnung sorgt ("Aufbau" und "Ankunft", "WTR" und "NÖSPL") und daß es "Literaturdebatten" gibt, an die man sich klammern kann. Soviel zum Dilemma der Ordnungsbegriffe.
Funken, Überraschungen, Pointen versprüht das Werk nicht. Es hat kein Temperament. Dafür sind die Mühen der Verknappung und Synthetisierung zu groß und die Ängste vor dem Klischee zu klein. Die Aufklärung "bejahte das Streben nach Glückseligkeit . . ., auch in der Form eines Weiterlebens der tugendhaften Seele nach dem Tode". Brockes "verwendet neben den anderen Sinnen vor allem den Gesichtssinn, den er, von Erkenntnisdrang getrieben, manchmal durch Zuhilfenahme eines Vergrößerungsglases schärft". "Der Unterschied zur bisherigen Faust-Tradition hängt mit Goethes Auffassung der Frau und der Liebe zusammen", denn: "Die Liebe bleibt im ,Faust' so vieldeutig wie das Leben selbst." "Der ,neue westdeutsche Roman' war durch seine Länge und eine Tendenz zum sprachlichen Ausufern charakterisiert."
"Das Buch enthält knapp und prägnant, was jeder über die deutsche Literatur wissen sollte", erklärt wohlgemut der Einbandtext. Nicht jeder Jedermann wird sich da richtig eingeschätzt fühlen. HANS-JÜRGEN SCHINGS
Bengt Algot Sørensen (Hrsg.): "Geschichte der deutschen Literatur". Bd. I: Vom Mittelalter bis zur Romantik. Bd. II: Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 1997. 352 und 448 S., br., je 24,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main