Hinsicht war er sogar Michail Gorbatschow voraus, der sich nicht vom Kommunismus lossagen wollte. Das tat erst Boris Jelzin. Aber da lag das östliche Imperium bereits in Trümmern.
Wolkogonow war lange Zeit das, was man heute einen Hardliner nennt. Er tat sich in der militärischen Propaganda hervor, brachte es zum Chef der Politischen Hauptverwaltung der Armee und wurde 1985, als Gorbatschow zum Kremlherrn avancierte, mit der Leitung des Instituts für Militärgeschichte betraut. Als solcher fand er Zugang zu den Geheimarchiven, was dann kurz vor dem Untergang der Sowjetunion dazu führte, daß er an die Spitze einer Kommission für die Freigabe von Staats- und Parteidokumenten berufen wurde. Das Resultat: Bis Ende 1993 machte Wolkogonow, der zwei Jahre später einem Krebsleiden erliegen sollte, der Öffentlichkeit Millionen Akten zugänglich.
Nicht wenige russische Historiker warfen ihm vor, seine Archivarbeit vornehmlich zu eigenen Zwecken zu nutzen. Diese Vermutung lag in der Tat nahe, denn Wolkogonow hatte bereits 1978 mit der Arbeit an einer Stalin-Biographie begonnen. Als diese zwölf Jahre später endlich auch in der Sowjetunion erscheinen durfte, entschloß sich der Autor zu einem bedeutend delikateren Unterfangen: den sowjetischen Staatsgründer Wladimir Lenin vom Sockel zu stoßen, ihn als einen Tyrannen zu entlarven.
In dem Buch über die sieben Sowjetführer führt Wolkogonow eine Reihe zusätzlicher Beweise für den despotischen Charakter Lenins an. Was sich an kultureller Herkunft dieses Mannes aus russischen, deutschen, jüdischen, kalmückischen und auch schwedischen Quellen speiste, verdichtete sich zu einem "bösen Genie", wie schon kurz nach der bolschewikischen Revolution der Menschewik Alexander Potressow befand. Zwar bescheinigten ihm selbst seine Feinde einen eisernen Willen und eine unbezähmbare Energie. Doch Lenins Sicht der Dinge war sozusagen eindimensional, war ganz auf totale Macht ausgerichtet und auf eine kommunistische "Weltrevolution", für die er zum Zwecke der Agitation und Propaganda seinem bitterarmen Land riesige Summen entzog. Von Nationalstolz hingegen konnte bei ihm keine Rede sein. Er war ein Mann von menschenverachtender Grausamkeit, der nur noch von seinem Nachfolger Jossif Stalin überboten wurde.
Der Tyrann georgischer Herkunft teilte mit seinem Lehrmeister zweierlei: eine sehr begrenzte, rein funktional von dem Streben nach absoluter Herrschaft bestimmte Kenntnis Rußlands sowie den Hang zu brutalen Experimenten, was im Falle Stalins besonders in der mörderischen Kollektivierung der Landwirtschaft und in den nicht minder blutigen "Säuberungen" vor allem der dreißiger Jahre seinen Niederschlag fand. Wolkogonow verdammt ihn wegen seines Paktierens mit Hitler.
Wenn nicht mit sensationellen Neuigkeiten, so doch mit interessanten, für Stalins Außenpolitik aufschlußreichen Details wartet der Autor unter anderem beim archivarischen Erhellen der sowjetisch-chinesischen Beziehungen und der Ursprünge des Koreakriegs auf. Doch was immer es an "Errungenschaften" während der Stalinzeit gegeben haben mochte: an allen klebte Blut, viel Blut. Zwischen 1929 und 1953, dem Todesjahr des zweiten Sowjetführers, nahm der Staat, wie Wolkogonow summiert, 21,5 Millionen seiner Bürger das Leben. Niemals zuvor in der jüngeren Menschheitsgeschichte hatte es einen solchen Krieg gegen die eigene Bevölkerung gegeben.
Es war Nikita Chruschtschow, der den Mut aufbrachte, aus dem verbrecherischen Wirken seines Vorgängers kein Hehl zu machen. Der dritte Sowjetführer ging sogar noch einen Schritt weiter und erkannte die Notwendigkeit zu wirtschaftlichen Reformen an. Dabei stand diesem, verglichen mit Lenin und Stalin geradezu gutmütig wirkenden Diktator jedoch nicht nur sein sprunghaftes, auch außenpolitisch höchst unberechenbares und manchmal abenteuerliches Verhalten im Wege, sondern ebenso eine verhängnisvolle Fehleinschätzung des gesamten Systems. Er erlag, wie nach ihm alle anderen Kremlherren bis hin zu Gorbatschow, dem Irrglauben, die leninistische Staats- und Gesellschaftsform sei für die Sowjetunion das einzig Zukunftsweisende und lediglich von Stalin in Mißkredit gebracht worden.
Nachfolger Leonid Breschnew sollte sich als die pure Personifizierung des alten Systems erweisen. Wolkogonow schreibt ihm die Psyche eines mittleren Parteifunktionärs zu: eitel, mißtrauisch, konventionell. Unter ihm konnte der Apparat schalten und walten, solange er die Ruhe innerhalb der Nomenklatura nicht störte. Daß die Sowjetunion durch das Streben ihres mächtigen militärisch-industriellen Komplexes, mit den Vereinigten Staaten rüstungsmäßig gleichzuziehen, wirtschaftlich immer größeren Schaden nahm, zumal sie obendrein militärisch in Afghanistan eingefallen war, schien ihm verborgen zu bleiben. Er war eine Marionette des Apparats und verkörperte nicht nur die alte "Ordnung", sondern das fortschreitende Siechtum der Sowjetunion schlechthin.
Dessen war sich sein Nachfolger Jurij Andropow wie kaum ein anderer in diesem Apparat bewußt, nachdem er zuvor den KGB geleitet hatte. Doch seine zaghaften Reformschritte führten nicht weit: zum einen, weil Andropow auf orthodoxe Weise dem Kommunismus verhaftet blieb, wie nicht zuletzt die Dissidenten zu spüren bekamen, und zum anderen, weil er nur fünfzehn Monate nach seinem Amtsantritt einem Nierenleiden erlag. Nicht einmal diese kurze Zeitspanne, sondern noch zwei Monate weniger blieben seinem Nachfolger Konstantin Tschernenko vergönnt, einem Parteibürokraten, der im Vorzimmer Breschnews zu fragwürdigen Ehren gekommen war und als Kremlherr keine Spuren hinterließ.
Das läßt sich von Gorbatschow wahrhaftig nicht sagen. Er war der erste (und letzte) der sieben Sowjetführer, der mit seiner Politik der Glasnost und Perestrojka die Sowjetvölker zum Nachdenken über die fundamentalen Fragen des Sowjetsystems anregte, ohne indes das System als solches in Frage zu stellen. So einsichtig und weitsichtig seine Außenpolitik war, die ihm zu Recht viel Anerkennung und Bewunderung eintrug, so sehr unterschätzte er im eigenen Land die ethnische und nationale Sprengkraft, die dem Vielvölkerstaat innewohnte und die sich beim ersten Nachlassen der Zwangsherrschaft prompt entladen sollte. Der einzige, wenngleich in mancher Hinsicht unfreiwillige Held unter den Kremlherren suchte wie seine Vorgänger an einer Lehre festzuhalten, die auch und gerade für ihn von Jugend an das kanonische A und O seines Lebens gewesen war - am Leninismus, mit dem in Wahrheit nicht nur für Rußland eine der schlimmsten Tragödien in der Menschheitsgeschichte ihren Anfang genommen hatte.
WERNER ADAM
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