Ein Schlüsseldokument zum Verständnis der osteuropäischen und jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
»Wir leben in einer historischen Endzeit, die das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts in sämtlichen Bereichen des sozialen wie des individuellen Lebens tilgt. Unsere Epoche an der Wende zweier Jahrhunderte ist zu Ende gegangen und vieles deutet darauf hin, dass das zwanzigste Jahrhundert keine Fortsetzung, sondern die Umkehrung des neunzehnten werden wird. ... So will ich meine Erinnerungen als 'Materialien zur Geschichte meiner Zeit' verstanden wissen, einer Geschichte der geistigen Kämpfe zu Beginn dieser Ära und der politischen an ihrem Ende.«Simon Dubnow 1934Simon Dubnows Buch des Lebens umfasst drei Teile, die in drei Bänden veröffentlicht werden. Band 1 vergegenwärtigt Kindheit und Jugend, die Lehrjahre und den Beginn der publizistischen Arbeit wie der historischen Forschung in Petersburg und Odessa in den Jahren 1860 bis 1903. Darin schildert Dubnow das traditionelle jüdische Leben in Osteuropa und den Aufbruch in die Moderne.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
»Wir leben in einer historischen Endzeit, die das Erbe des neunzehnten Jahrhunderts in sämtlichen Bereichen des sozialen wie des individuellen Lebens tilgt. Unsere Epoche an der Wende zweier Jahrhunderte ist zu Ende gegangen und vieles deutet darauf hin, dass das zwanzigste Jahrhundert keine Fortsetzung, sondern die Umkehrung des neunzehnten werden wird. ... So will ich meine Erinnerungen als 'Materialien zur Geschichte meiner Zeit' verstanden wissen, einer Geschichte der geistigen Kämpfe zu Beginn dieser Ära und der politischen an ihrem Ende.«Simon Dubnow 1934Simon Dubnows Buch des Lebens umfasst drei Teile, die in drei Bänden veröffentlicht werden. Band 1 vergegenwärtigt Kindheit und Jugend, die Lehrjahre und den Beginn der publizistischen Arbeit wie der historischen Forschung in Petersburg und Odessa in den Jahren 1860 bis 1903. Darin schildert Dubnow das traditionelle jüdische Leben in Osteuropa und den Aufbruch in die Moderne.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.04.2006Jenseits einer möglichen jüdischen Geschichte
„Buch des Lebens”: Die Erinnerungen des Historikers Simon Dubnow sind ein großes Werk, jetzt mustergültig ediert
Die Zeitgenossen waren sich einig: Heinrich Graetz 1876 vollendete elfbändige „Geschichte des jüdischen Volkes von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart” bedeutete eine Leistung, die sich nicht wiederholen ließ. Noch fünfzig Jahre später hatte sich an dieser Einschätzung nichts geändert, auch wenn zentrale Thesen des Historikers nicht mehr haltbar waren. Doch 1925 sah der Judaist Ismar Elbogen einen Silberstreif am Horizont: „Wenn irgendeiner, dann ist Simon Dubnow dazu berufen, eine neue jüdische Geschichte zu schreiben; in seinen weit verbreiteten Werken hat er sich als ein Meister der Synthese, ein Künstler des architektonischen Aufbaus, als lebendiger, geistvoller Darsteller erwiesen und einen zahlreichen Leserkreis für sich gewonnen.”
Als Elbogen dies schrieb, war der 1860 in der russischen Schtetl-Kultur geborene und rasch aus ihr geflohene Autodidakt Dubnow ein weltweit beachteter Wissenschaftler. Einige seiner Texte erschienen auch in Deutschland. 1922 wählte Dubnow Berlin als Ziel nach seiner Flucht aus dem ehemaligen Petersburg. Dass er sich an der Spree niemals heimisch fühlte, konnten weder Festschriften noch die breite Aufnahme seines Werkes ändern. Die akademisch-liberale Kultur der „Wissenschaft des Judentums” etwa blieb ihm zeitlebens fremd.
Geistige Arbeit am Ich
Vor seiner Emigration hatte sich Dubnow mit gewichtigen Monografien und Artikeln um die Sammlung von Quellen zur jüdischen Geschichte verdient gemacht. Die zwischen 1925 und 1929 vorgelegte zehnbändige „Weltgeschichte des jüdischen Volkes” ließ ihn endgültig zu Graetz legitimem Nachfolger werden. Neben der deutschen Übersetzung erschienen rasch Ausgaben in russischer, hebräischer und jiddischer Sprache. Dubnow war auf dem Höhepunkt seines internationalen Ansehens. 1933 musste er erneut fliehen und hoffte in Riga seine Arbeit fortsetzen zu können. Mehrfach erhielt er dort Angebote, in die USA zu gehen. Doch eine erneute Verpflanzung wollte er nicht mitmachen, sondern als Chronist in der Nähe der schrecklichen Ereignisse bleiben. Bis heute ist nicht geklärt, ob Dubnow am 8. Dezember 1941 auf offener Straße im Rigaer Ghetto ermordet wurde oder im Jahr darauf in einem Altersheim elend starb.
Dubnow war ein von Aufklärung und Positivismus zutiefst geprägter Historiker, der jede Form von Dogmatismus und Orthodoxie ablehnte. Vor den Verengungen von Philosophie und Theologie bewahre einzig der „Historismus”, verstanden als präzise Methode, die sich - so Hanns Reißner in einer Kritik - „auf die Gemeinschaft als solche” richte. Nicht die Geschichte von Individuen erzählte Dubnow, sondern die des „jüdischen Volkes”. Sein Weg zu dieser letztlich soziologischen Vorgehensweise führte über die begeisterte Lektüre Tolstois und der später verurteilten „Geschichte des Volkes Israel” von Ernest Renan. Lange Zeit verkehrte er im Umfeld des Propagandisten eines „geistigen Zionismus” Achad Haam und des Schriftstellers Schalom Alejchem, wo ein spezifisches agnostisches Judentum gepflegt wurde. Doch obwohl Dubnow im Laufe seines Lebens noch weitere, sehr disparate Einflüsse aufnahm, lehnte er Moden vehement ab: Während Ende des 19. Jahrhunderts zahllose Intellektuelle in die Arme Nietzsches flüchteten, las er Rousseaus „Neue Heloise”. Diese geistige Freiheit verlor er auch in den Zeiten der Ermordung der europäischen Juden nicht.
Neben der „Weltgeschichte” ist eine zweibändige Geschichte des Chassidismus und vor allem seine umfangreiche Autobiografie „Buch des Lebens” der Erinnerungsarbeit verpflichtet. Nachdem noch 1937 in Deutschland eine Auswahl publiziert werden konnte, liegt nunmehr die komplette Wiedergabe dieser Memoiren in einer mustergültigen Edition vor. Mit ihr errichtet das in Leipzig ansässige Dubnow-Institut dem Namensgeber ein spätes Denkmal. Die drei Bände sind sorgfältig hergestellt, die Übersetzungen sind präzise und geben die lebendig-plastische Sprache Dubnows sehr gut wieder. Die ausführlichen Einleitungen bieten wichtige zusätzliche Informationen und regen auch in ihren nicht immer stimmigen Interpretationen zu weiterer Diskussion an. Die Abgrenzungen zur deutsch-jüdischen Kultur sind merkwürdig überpointiert, und die Rezeptionsgeschichte hätte noch die eine oder andere Nuance vertragen können. Insgesamt aber hat das Team um Verena Dohrn herausragende Arbeit geleistet.
Als Dubnow den ersten Band seiner in „historischer Manier” verfassten Aufzeichnungen 1934 abschließt, sieht er die Gegenwart als „historische Endzeit”. Sechs Jahre später, er hat den dritten Teil abgeschlossen, hat sich die Prophetie erfüllt. 1933, das ist für Dubnow längst unumkehrbare Gewissheit, hat etwas „Fatales” begonnen, über das der Chronist nicht mehr berichten möchte. Dubnow lebt seitdem jenseits einer möglichen jüdischen Geschichte.
Das „Buch des Lebens” ist nicht nur ein Dokument einer persönlichen Bildungsgeschichte, die Verlebendigung der jüdischen Kulturen in Russland und Deutschland, die Offenlegung einer ambitionierten Geschichtsphilosophie, sondern die Innenansicht eines Intellektuellen. Hier entsteht eine neue Darstellungsform geistiger Arbeit am Ich und der Ausdeutung der eigenen Lebenszeit, die immer auch Weltzeit ist. Dubnow nutzt sämtliche Aufzeichnungs- und Reflexionsformen wie den Brief, die Tagebuchaufzeichnung, den Essay, das Pamphlet, den Aufsatz, um das Gewordensein seines Lebens und seiner Zeit festzuhalten.
Dabei nimmt der Begriff der Authentizität beständig an Bedeutung zu. Während Kindheit, Abwendung vom religiösen Elternhaus, Flucht in die Bücher, das allmähliche Heimischwerden in den intellektuellen Milieus und in der strengen Observanz der wissenschaftlichen Arbeit vom Autor ohne weitere Beglaubigung erzählt werden, ändert sich während der russischen Revolution das Vorgehen. Immer öfter fällt er sich ins Wort, schiebt andere Egoquellen ein und besteht zusehends auf der Wahrheit des Geschriebenen.
Besonders eindrücklich wird das Verfahren in den Jahren 1932 und 1933. Dubnow berichtet vom Versagen der Regierung Brüning und Hitlers Machtergreifung und schildert gleichzeitig die 1880er Jahre. „Instinktiv wendet man sich von den Ereignissen der heutigen schrecklichen Zeit ab und einstigen, nicht ganz so hoffnungslosen Zeiten zu.” An einer anderen Stelle werden „russische Judophobie” und das „Deutschland des Jahres 1932” überblendet. Hier gelingt es Dubnow, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Charakteristikum von Zivilisationsbrüchen der beiden Länder deutlich zu machen. Die so erreichte „Authentizität” ist jenseits von Subjektivität. Sie ist Arbeit mit dem Gedächtnis, die Geschichte kommentiert, um sie dem bloßen Vergessen zu entreißen. Mit Simon Dubnows „Buch des Lebens” liegt jetzt ein großes Werk der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhundert in deutscher Sprache vor.
THOMAS MEYER
SIMON DUBNOW: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Hrsg. v. Verena Dohrn. Bd. 1: 1860-1903. Aus dem Russischen v. Vera Bischitzky. 2004, 537 S., 49,90 Euro. Bd. 2: 1903-1922. Aus dem Russischen v. Barbara Conrad. 2005, 478 S., 49,90 Euro. Bd. 3: 1922-1933. Aus d. Russischen v. Vera Bischitzky. 2005, 352 S., 39,90 Euro. Bei Gesamtabnahme 119 Euro. Alle Bände im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Simon Dubnow (1860-1941)
Foto: ullstein - Abraham Pisarek
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
„Buch des Lebens”: Die Erinnerungen des Historikers Simon Dubnow sind ein großes Werk, jetzt mustergültig ediert
Die Zeitgenossen waren sich einig: Heinrich Graetz 1876 vollendete elfbändige „Geschichte des jüdischen Volkes von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart” bedeutete eine Leistung, die sich nicht wiederholen ließ. Noch fünfzig Jahre später hatte sich an dieser Einschätzung nichts geändert, auch wenn zentrale Thesen des Historikers nicht mehr haltbar waren. Doch 1925 sah der Judaist Ismar Elbogen einen Silberstreif am Horizont: „Wenn irgendeiner, dann ist Simon Dubnow dazu berufen, eine neue jüdische Geschichte zu schreiben; in seinen weit verbreiteten Werken hat er sich als ein Meister der Synthese, ein Künstler des architektonischen Aufbaus, als lebendiger, geistvoller Darsteller erwiesen und einen zahlreichen Leserkreis für sich gewonnen.”
Als Elbogen dies schrieb, war der 1860 in der russischen Schtetl-Kultur geborene und rasch aus ihr geflohene Autodidakt Dubnow ein weltweit beachteter Wissenschaftler. Einige seiner Texte erschienen auch in Deutschland. 1922 wählte Dubnow Berlin als Ziel nach seiner Flucht aus dem ehemaligen Petersburg. Dass er sich an der Spree niemals heimisch fühlte, konnten weder Festschriften noch die breite Aufnahme seines Werkes ändern. Die akademisch-liberale Kultur der „Wissenschaft des Judentums” etwa blieb ihm zeitlebens fremd.
Geistige Arbeit am Ich
Vor seiner Emigration hatte sich Dubnow mit gewichtigen Monografien und Artikeln um die Sammlung von Quellen zur jüdischen Geschichte verdient gemacht. Die zwischen 1925 und 1929 vorgelegte zehnbändige „Weltgeschichte des jüdischen Volkes” ließ ihn endgültig zu Graetz legitimem Nachfolger werden. Neben der deutschen Übersetzung erschienen rasch Ausgaben in russischer, hebräischer und jiddischer Sprache. Dubnow war auf dem Höhepunkt seines internationalen Ansehens. 1933 musste er erneut fliehen und hoffte in Riga seine Arbeit fortsetzen zu können. Mehrfach erhielt er dort Angebote, in die USA zu gehen. Doch eine erneute Verpflanzung wollte er nicht mitmachen, sondern als Chronist in der Nähe der schrecklichen Ereignisse bleiben. Bis heute ist nicht geklärt, ob Dubnow am 8. Dezember 1941 auf offener Straße im Rigaer Ghetto ermordet wurde oder im Jahr darauf in einem Altersheim elend starb.
Dubnow war ein von Aufklärung und Positivismus zutiefst geprägter Historiker, der jede Form von Dogmatismus und Orthodoxie ablehnte. Vor den Verengungen von Philosophie und Theologie bewahre einzig der „Historismus”, verstanden als präzise Methode, die sich - so Hanns Reißner in einer Kritik - „auf die Gemeinschaft als solche” richte. Nicht die Geschichte von Individuen erzählte Dubnow, sondern die des „jüdischen Volkes”. Sein Weg zu dieser letztlich soziologischen Vorgehensweise führte über die begeisterte Lektüre Tolstois und der später verurteilten „Geschichte des Volkes Israel” von Ernest Renan. Lange Zeit verkehrte er im Umfeld des Propagandisten eines „geistigen Zionismus” Achad Haam und des Schriftstellers Schalom Alejchem, wo ein spezifisches agnostisches Judentum gepflegt wurde. Doch obwohl Dubnow im Laufe seines Lebens noch weitere, sehr disparate Einflüsse aufnahm, lehnte er Moden vehement ab: Während Ende des 19. Jahrhunderts zahllose Intellektuelle in die Arme Nietzsches flüchteten, las er Rousseaus „Neue Heloise”. Diese geistige Freiheit verlor er auch in den Zeiten der Ermordung der europäischen Juden nicht.
Neben der „Weltgeschichte” ist eine zweibändige Geschichte des Chassidismus und vor allem seine umfangreiche Autobiografie „Buch des Lebens” der Erinnerungsarbeit verpflichtet. Nachdem noch 1937 in Deutschland eine Auswahl publiziert werden konnte, liegt nunmehr die komplette Wiedergabe dieser Memoiren in einer mustergültigen Edition vor. Mit ihr errichtet das in Leipzig ansässige Dubnow-Institut dem Namensgeber ein spätes Denkmal. Die drei Bände sind sorgfältig hergestellt, die Übersetzungen sind präzise und geben die lebendig-plastische Sprache Dubnows sehr gut wieder. Die ausführlichen Einleitungen bieten wichtige zusätzliche Informationen und regen auch in ihren nicht immer stimmigen Interpretationen zu weiterer Diskussion an. Die Abgrenzungen zur deutsch-jüdischen Kultur sind merkwürdig überpointiert, und die Rezeptionsgeschichte hätte noch die eine oder andere Nuance vertragen können. Insgesamt aber hat das Team um Verena Dohrn herausragende Arbeit geleistet.
Als Dubnow den ersten Band seiner in „historischer Manier” verfassten Aufzeichnungen 1934 abschließt, sieht er die Gegenwart als „historische Endzeit”. Sechs Jahre später, er hat den dritten Teil abgeschlossen, hat sich die Prophetie erfüllt. 1933, das ist für Dubnow längst unumkehrbare Gewissheit, hat etwas „Fatales” begonnen, über das der Chronist nicht mehr berichten möchte. Dubnow lebt seitdem jenseits einer möglichen jüdischen Geschichte.
Das „Buch des Lebens” ist nicht nur ein Dokument einer persönlichen Bildungsgeschichte, die Verlebendigung der jüdischen Kulturen in Russland und Deutschland, die Offenlegung einer ambitionierten Geschichtsphilosophie, sondern die Innenansicht eines Intellektuellen. Hier entsteht eine neue Darstellungsform geistiger Arbeit am Ich und der Ausdeutung der eigenen Lebenszeit, die immer auch Weltzeit ist. Dubnow nutzt sämtliche Aufzeichnungs- und Reflexionsformen wie den Brief, die Tagebuchaufzeichnung, den Essay, das Pamphlet, den Aufsatz, um das Gewordensein seines Lebens und seiner Zeit festzuhalten.
Dabei nimmt der Begriff der Authentizität beständig an Bedeutung zu. Während Kindheit, Abwendung vom religiösen Elternhaus, Flucht in die Bücher, das allmähliche Heimischwerden in den intellektuellen Milieus und in der strengen Observanz der wissenschaftlichen Arbeit vom Autor ohne weitere Beglaubigung erzählt werden, ändert sich während der russischen Revolution das Vorgehen. Immer öfter fällt er sich ins Wort, schiebt andere Egoquellen ein und besteht zusehends auf der Wahrheit des Geschriebenen.
Besonders eindrücklich wird das Verfahren in den Jahren 1932 und 1933. Dubnow berichtet vom Versagen der Regierung Brüning und Hitlers Machtergreifung und schildert gleichzeitig die 1880er Jahre. „Instinktiv wendet man sich von den Ereignissen der heutigen schrecklichen Zeit ab und einstigen, nicht ganz so hoffnungslosen Zeiten zu.” An einer anderen Stelle werden „russische Judophobie” und das „Deutschland des Jahres 1932” überblendet. Hier gelingt es Dubnow, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Charakteristikum von Zivilisationsbrüchen der beiden Länder deutlich zu machen. Die so erreichte „Authentizität” ist jenseits von Subjektivität. Sie ist Arbeit mit dem Gedächtnis, die Geschichte kommentiert, um sie dem bloßen Vergessen zu entreißen. Mit Simon Dubnows „Buch des Lebens” liegt jetzt ein großes Werk der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhundert in deutscher Sprache vor.
THOMAS MEYER
SIMON DUBNOW: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Hrsg. v. Verena Dohrn. Bd. 1: 1860-1903. Aus dem Russischen v. Vera Bischitzky. 2004, 537 S., 49,90 Euro. Bd. 2: 1903-1922. Aus dem Russischen v. Barbara Conrad. 2005, 478 S., 49,90 Euro. Bd. 3: 1922-1933. Aus d. Russischen v. Vera Bischitzky. 2005, 352 S., 39,90 Euro. Bei Gesamtabnahme 119 Euro. Alle Bände im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Simon Dubnow (1860-1941)
Foto: ullstein - Abraham Pisarek
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2005Ein einzigartiges Dokument
Simon Dubnow erhellt die Geschichte der Juden in Osteuropa
Simon Dubnow wurde am 10. September 1860 alten Stils (nach dem Julianischen Kalender) als Sohn eines Holzhändlers in der weißrussischen Kreisstadt Mstislawl, Gouvernement Mogiljow, im sogenannten jüdischen Ansiedlungsrayon geboren. Sein genaues Todesdatum steht nicht fest, sicher ist nur, daß er nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Riga Anfang 1941 im Rigaer Ghetto im Alter von 81 Jahren ermordet worden ist. Den ersten Band seiner auf russisch geschriebenen Autobiographie hat er im Vorwort am 8. Juni 1934 unterzeichnet. Die erste vollständige deutsche Übersetzung der Erinnerungen Dubnows werden unter dem Titel "Buch des Lebens" in drei Bänden erscheinen; der erste, nun vorliegende Band umfaßt die Jahre 1860 bis 1903, die beiden weiteren Bände, die im Frühjahr und Herbst dieses Jahres erscheinen sollen, umfassen die Jahre 1903 bis 1922 beziehungsweise 1922 bis 1933. Der Untertitel ist genau zu betrachten, denn Dubnows "Erinnerungen und Gedanken" werden vorgestellt als "Materialien zur Geschichte meiner Zeit". Nicht die Person des Historikers Dubnow steht im Vordergrund, sondern die Ereignisse, mit denen er zu leben, gegen die er zu kämpfen hatte.
Die ersten 43 Jahre im Leben des später so berühmten Historikers des jüdischen Volkes können als Flucht und gleichzeitige Suche bezeichnet werden. Schon mit 17 Jahren verläßt er seine Geburtsstadt und flüchtet vor dem Jiddischen, Hebräischen, Jüdischen, der Orthodoxie seines Großvaters und den miefigen Verhältnissen zu Hause. Was er sucht, ist das Kosmopolitische, das allgemein Menschliche. Beides kulminiert für ihn in dem Versuch, russisch zu sein, und sehr früh (1874) legen er und sein älterer Bruder Wolf das Gelübde ab, miteinander in Zukunft ausschließlich nur noch russisch zu sprechen, ohne ein einziges jiddisches Wort zu verwenden. "Mein Bruder und ich blieben diesem Gelübde ein Leben lang treu."
Vorbilder waren für den jungen Dubnow der Epikuräer und Atheist Acher im babylonischen Talmud, der Ketzer Uriel da Costa und der Religionskritiker Baruch de Spinoza in Amsterdam, besonders immer wieder Uriel da Costa, "nachdem ich Gutzkows Drama gelesen hatte". Die Zentralsätze aus Karl Gutzkows Tragödie "Uriel da Costa" (1847) lauten: "Wir wollen Freiheit von dem alten Joch! / Nur die Vernunft sei das Symbol des Glaubens! / Und wenn wir zweifeln, Wahrheit aufzufinden, / So ist es besser, neue Götter suchen, / Als mit den alten, statt zu beten, fluchen!"
Der neue Gott Dubnows war die jüdische Geschichte, er verstand sich als "Missionar der Geschichte". In der Beschreibung religiöser Phänomene war ihm Ernest Renans Methode, das "Leben Jesu" (1863) und das der Apostel darzustellen, Vorbild. Es ist spannend zu lesen, wie Dubnow bei der Behandlung der jüdischen Mystik (Sabbatai Zwi, Jakob Frank) versucht, die eigentlichen mystischen Elemente zu verdrängen, um den Antitalmudismus, die Auflehnung gegen die Tradition, der Mystiker herauszuarbeiten. Hierin ist er ein genuiner Vorläufer des großen Kabbala-Forschers Gershom Scholem.
Heinrich Graetz hatte 1846 seine "Skizze" über "Die Construktion der jüdischen Geschichte" veröffentlicht. Zwischen 1853 und 1876 erschien dann seine elfbändige "Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart". Dubnows Lebenswerk kann als eine Entgegnung auf Graetz' Geschichte der Juden als Leidensgeschichte angesehen werden. 1893 publizierte er, der Graetz' dreibändige "Volkstümliche Geschichte der Juden" ins Russische übersetzt hatte, auf russisch "Was ist jüdische Geschichte? Versuch einer philosophischen Charakteristik" (deutsch 1897: "Die jüdische Geschichte. Ein geschichtsphilosophischer Versuch"). Von 1901 an erschien dann seine zehnbändige "Weltgeschichte des jüdischen Volkes von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart" (auf deutsch in Berlin 1925 bis 1929).
Der erste Band von Dubnows Erinnerungen beschreibt den Einbruch der Moderne in das russische Judentum und die Versuche der jüdischen Intellektuellen, auf diese Moderne zu reagieren, ihr Schwanken zwischen jüdischem Nationalismus, Zionismus und Kosmopolitismus. Die beiden weiteren Bände werden von den welthistorischen Umbrüchen und den sozialen Umwälzungen in St. Petersburg (1906 bis 1922) und in Berlin (1922 bis 1933) aus dem Blickwinkel dieses scharfen Analytikers berichten. In Berlin konnte Dubnow noch sein kritisches Alterswerk vollenden: die zweibändige "Geschichte des Chassidismus" (1931).
Dubnows Erinnerungen, die auf nicht mehr erhaltenen Tagebüchern basieren, waren in Berlin 1937 schon einmal auf deutsch erschienen, aber nur in einer gekürzten Fassung in einem Band ("Mein Leben". Aus dem Russischen von Elias Hurwicz). Die vollständige Übersetzung dieses einzigartigen Dokuments zur Geschichte der Juden in Osteuropa und zur wissenschaftlichen Erforschung des Werks von Dubnow ist ein großer Gewinn für die Wissenschaft des Judentums und die europäische Geschichtswissenschaft.
FRIEDRICH NIEWÖHNER.
Simon Dubnow: "Buch des Lebens". Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Band 1: 1860-1903. Hrsg. im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur von Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Mit einem Vorwort von Dan Diner. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2004. 537 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Simon Dubnow erhellt die Geschichte der Juden in Osteuropa
Simon Dubnow wurde am 10. September 1860 alten Stils (nach dem Julianischen Kalender) als Sohn eines Holzhändlers in der weißrussischen Kreisstadt Mstislawl, Gouvernement Mogiljow, im sogenannten jüdischen Ansiedlungsrayon geboren. Sein genaues Todesdatum steht nicht fest, sicher ist nur, daß er nach Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Riga Anfang 1941 im Rigaer Ghetto im Alter von 81 Jahren ermordet worden ist. Den ersten Band seiner auf russisch geschriebenen Autobiographie hat er im Vorwort am 8. Juni 1934 unterzeichnet. Die erste vollständige deutsche Übersetzung der Erinnerungen Dubnows werden unter dem Titel "Buch des Lebens" in drei Bänden erscheinen; der erste, nun vorliegende Band umfaßt die Jahre 1860 bis 1903, die beiden weiteren Bände, die im Frühjahr und Herbst dieses Jahres erscheinen sollen, umfassen die Jahre 1903 bis 1922 beziehungsweise 1922 bis 1933. Der Untertitel ist genau zu betrachten, denn Dubnows "Erinnerungen und Gedanken" werden vorgestellt als "Materialien zur Geschichte meiner Zeit". Nicht die Person des Historikers Dubnow steht im Vordergrund, sondern die Ereignisse, mit denen er zu leben, gegen die er zu kämpfen hatte.
Die ersten 43 Jahre im Leben des später so berühmten Historikers des jüdischen Volkes können als Flucht und gleichzeitige Suche bezeichnet werden. Schon mit 17 Jahren verläßt er seine Geburtsstadt und flüchtet vor dem Jiddischen, Hebräischen, Jüdischen, der Orthodoxie seines Großvaters und den miefigen Verhältnissen zu Hause. Was er sucht, ist das Kosmopolitische, das allgemein Menschliche. Beides kulminiert für ihn in dem Versuch, russisch zu sein, und sehr früh (1874) legen er und sein älterer Bruder Wolf das Gelübde ab, miteinander in Zukunft ausschließlich nur noch russisch zu sprechen, ohne ein einziges jiddisches Wort zu verwenden. "Mein Bruder und ich blieben diesem Gelübde ein Leben lang treu."
Vorbilder waren für den jungen Dubnow der Epikuräer und Atheist Acher im babylonischen Talmud, der Ketzer Uriel da Costa und der Religionskritiker Baruch de Spinoza in Amsterdam, besonders immer wieder Uriel da Costa, "nachdem ich Gutzkows Drama gelesen hatte". Die Zentralsätze aus Karl Gutzkows Tragödie "Uriel da Costa" (1847) lauten: "Wir wollen Freiheit von dem alten Joch! / Nur die Vernunft sei das Symbol des Glaubens! / Und wenn wir zweifeln, Wahrheit aufzufinden, / So ist es besser, neue Götter suchen, / Als mit den alten, statt zu beten, fluchen!"
Der neue Gott Dubnows war die jüdische Geschichte, er verstand sich als "Missionar der Geschichte". In der Beschreibung religiöser Phänomene war ihm Ernest Renans Methode, das "Leben Jesu" (1863) und das der Apostel darzustellen, Vorbild. Es ist spannend zu lesen, wie Dubnow bei der Behandlung der jüdischen Mystik (Sabbatai Zwi, Jakob Frank) versucht, die eigentlichen mystischen Elemente zu verdrängen, um den Antitalmudismus, die Auflehnung gegen die Tradition, der Mystiker herauszuarbeiten. Hierin ist er ein genuiner Vorläufer des großen Kabbala-Forschers Gershom Scholem.
Heinrich Graetz hatte 1846 seine "Skizze" über "Die Construktion der jüdischen Geschichte" veröffentlicht. Zwischen 1853 und 1876 erschien dann seine elfbändige "Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart". Dubnows Lebenswerk kann als eine Entgegnung auf Graetz' Geschichte der Juden als Leidensgeschichte angesehen werden. 1893 publizierte er, der Graetz' dreibändige "Volkstümliche Geschichte der Juden" ins Russische übersetzt hatte, auf russisch "Was ist jüdische Geschichte? Versuch einer philosophischen Charakteristik" (deutsch 1897: "Die jüdische Geschichte. Ein geschichtsphilosophischer Versuch"). Von 1901 an erschien dann seine zehnbändige "Weltgeschichte des jüdischen Volkes von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart" (auf deutsch in Berlin 1925 bis 1929).
Der erste Band von Dubnows Erinnerungen beschreibt den Einbruch der Moderne in das russische Judentum und die Versuche der jüdischen Intellektuellen, auf diese Moderne zu reagieren, ihr Schwanken zwischen jüdischem Nationalismus, Zionismus und Kosmopolitismus. Die beiden weiteren Bände werden von den welthistorischen Umbrüchen und den sozialen Umwälzungen in St. Petersburg (1906 bis 1922) und in Berlin (1922 bis 1933) aus dem Blickwinkel dieses scharfen Analytikers berichten. In Berlin konnte Dubnow noch sein kritisches Alterswerk vollenden: die zweibändige "Geschichte des Chassidismus" (1931).
Dubnows Erinnerungen, die auf nicht mehr erhaltenen Tagebüchern basieren, waren in Berlin 1937 schon einmal auf deutsch erschienen, aber nur in einer gekürzten Fassung in einem Band ("Mein Leben". Aus dem Russischen von Elias Hurwicz). Die vollständige Übersetzung dieses einzigartigen Dokuments zur Geschichte der Juden in Osteuropa und zur wissenschaftlichen Erforschung des Werks von Dubnow ist ein großer Gewinn für die Wissenschaft des Judentums und die europäische Geschichtswissenschaft.
FRIEDRICH NIEWÖHNER.
Simon Dubnow: "Buch des Lebens". Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Band 1: 1860-1903. Hrsg. im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur von Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Mit einem Vorwort von Dan Diner. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2004. 537 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'Die vollständige Übersetzung dieses einzigartigen Dokuments zur Geschichte der Juden in Osteuropa und zur wissenschaftlichen Erforschung des Werks von Dubnow ist ein großer Gewinn für die Wissenschaft des Judentums und die europäische Geschichtswissenschaft.' (Friedrich Niewöhner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Ein großes Werk der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts" stellt Simon Dubnows Autobiografie dar, urteilt Thomas Meyer. In drei Bänden wurde "Das Buch des Lebens" vom Leipziger Dubnow-Institut herausgegeben, in einer Übertragung, die des Verfassers "lebendig-plastischer Sprache" gerecht wird und bereichert ist um "ausführliche Einleitungen", an denen der Rezensent so recht keine Kritik üben mag; zwar seien die Interpretationen "nicht immer stimmig", auch fielen die "Abgrenzungen zur deutsch-jüdischen Kultur" überpointiert aus, und die Rezeptionsgeschichte hätte durchaus nuancenreicher aufbereitet werden können. Gleichwohl habe Verena Dohrns Mannschaft "herausragende Arbeit geleistet" und eine "mustergültige Edition" erstellt. Dubnow, der zu seiner Zeit als legitimer Nachfolger von Heinrich Graetz, dem Verfasser der 1876 vollendeten "Geschichte des jüdischen Volkes von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart", galt, stellt seinen geistigen Werdegang dar und verschränkt diese Entwicklungsgeschichte mit einer Darstellung der historischen Ereignisse und der Geschichte der jüdischen Kulturen in Russland und Deutschland. Eine "ambitionierte Geschichtsphilosophie", verquickt mit der "Innenansicht eines Intellektuellen", resümiert Meyer zufrieden.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH