Schulen, Strömungen und Bewegungen: jemand, der sich partout nicht einordnen lässt. Es ist also nur konsequent, dass er dieses Buch seinerseits einem philosophischen Solitär widmet. Zwar stand Spinoza keineswegs außerhalb der philosophischen Strömungen seiner Zeit, und wir wissen, dass er fleißig mit anderen Gelehrten korrespondierte. Mit seiner "Ethik", auf die Berger sich vornehmlich bezieht, hat er aber zugleich Nietzsche und Freud um zwei Jahrhunderte vorweggenommen. Und seine zurückgezogene Existenz als Linsenschleifer im Amsterdam des Goldenen Zeitalters muss den geborenen Londoner Berger, der seit Jahrzehnten in einem Dorf in der Haute Savoie lebt, selbstverständlich gefallen. Die beiden Herren gehören zur Gattung der (umgänglichen) Einzelgänger und Selbstdenker.
Selbstdenker interessieren sich naturgemäß für alles, und sie schreiben auch über alles. Das hat Berger sein Leben lang getan. Er hat über Bergarbeiter, das Kino, Renoir, August Sander, Zoobesuche, einen Landarzt und "Eine Fuhre Scheiße" geschrieben. Ein Skizzenbuch ist nun explizit dazu da, Einfälle zu sammeln, wie sie kommen. Deshalb lesen wir hier, durch Zeichnungen gestützt, über Zwetschgenbäume, die Begleichung der Kosten für eine Beerdigung, eine Schlossführung in Frankreich durch eine Zwergin und über Lucas Fahrrad. Luca lebt in einem Vorort im Südosten von Paris, hat dreißig Jahre lang als Wartungsinspekteur bei der Air France gearbeitet und kann alles reparieren. Wir verfolgen aber auch die ausführliche Auslegung eines Satzes von Tschechow und die Überlegungen darüber, was es wohl bedeuten mag, dass in einer Pariser Vorortbibliothek beide Exemplare von Dostojewskijs "Brüder Karamasow" ausgeliehen sind: "Wenn einer der beiden Leser und ich einander begegneten - sonntags auf dem Vorstadtmarkt, beim Ausgang der Metro, an einem Zebrastreifen, beim Brotkaufen -, würden wir uns vielleicht Blicke zuwerfen, die wir rätselhaft fänden? Würden wir uns, ohne es zu bemerken, erkennen?"
Da Berger oft von der Freundlichkeit der Welt schreibt, ist auch sein stilistischer Duktus dem Leser zugewandt, dabei nie nachlässig, sondern immer diszipliniert. Hans Jürgen Balmes hat das ausgezeichnet ins Deutsche gebracht. Man hätte sich allerdings gewünscht, er hätte bei den Zitaten aus Spinozas "Ethik" nicht die Übersetzung von Berthold Auerbach gewählt, die zuweilen doch arg am lateinischen Original klebt und für manchen heutigen Leser an einigen Stellen kaum verständlich sein mag. Und in einer zweiten Auflage, die diesem Buch auf jeden Fall zu wünschen ist, sollte man die drei Setzfehler auf den Seiten 12, 41 und 126 tilgen. Das macht wenig Mühe.
Von Seite 117 an wird das Buch ein ständiger Dialog mit Spinoza. Genauer: "Bento" ist jetzt der direkte Adressat von Bergers Erzählungen. Zu denen gehört auch die, "wie es dazu kam, dass ich einen japanischen Sho-Pinsel weggegeben habe", eine Geschichte, die im Hallenbad eines Pariser Vororts beginnt. Vororte, Randgebiete, Verstecktes, einfache Menschen gehören zu Bergers bevorzugten Sujets. Das ist nicht neu, so wenig wie sein entschiedener, fast möchte man sagen "natürlicher" Antikapitalismus, der dennoch nie etwas Naives hat, das man schnell ironisch abtun könnte. Im Gegenteil schärft er seinen Blick. Auf den Seiten 152 und 153 findet sich unter einer Porträtzeichnung ein zweiseitiger Text über "die Gesichter der neuen Tyrannen. Ich zögere, sie Plutokraten zu nennen, denn dieser Ausdruck klingt zu historisch, und die Männer sind Teil eines Phänomens, zu dem es keine Vorläufer gibt. Einigen wir uns auf Profiteure." Und dann folgt ein punktgenaue Analyse dieser neuen Gattung, etwa: "Sie sind unterschiedlich alt, aber ihr Stil entspricht dem von Männern Ende vierzig", oder: "Ihr Haarschopf ist akkurat hergerichtet, wie für den Test im Luftkanal", und am Ende: "Ihr stets wiederholter Glaubenssatz: Es gibt keine Alternative." Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen.
Bergers Zeichnungen sind ebenfalls durch die Verbindung von Freundlichkeit und Genauigkeit charakterisiert. Sie folgen in ihrem Duktus dem dreifach identisch auftretenden Satz aus den Anfangsseiten: "Wir zeichnen nicht nur, um etwas Beobachtetes für andere sichtbar zu machen, sondern auch, um etwas Unsichtbares an seinen ungewissen Bestimmungsort zu begleiten." Das tut dieses Buch. Der ungewisse Bestimmungsort könnten und sollten wir Leser sein.
JOCHEN SCHIMMANG
John Berger: "Bentos Skizzenbuch".
Aus dem Englischen von Hans-Jürgen Balmes. Carl Hanser Verlag, München 2013. 176 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
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