Wie gelangen wir zu unseren Entscheidungen, und warum liegen wir so oft daneben?Daniel Kahneman war sich immer sicher, dass er sich irrte. Amos Tversky war sich immer sicher, dass er recht hatte. Der eine nimmt alles ernst, für den anderen ist das Leben ein Spaß. Die beiden weltberühmten Psychologen und Begründer der Verhaltensökonomie haben mit ihrer gemeinsamen Forschung unsere Annahmen über Entscheidungsprozesse völlig auf den Kopf gestellt. Michael Lewis entspinnt entlang zweier filmreifer Figuren eine fesselnde Geschichte über menschliches Denken in unkalkulierbaren Situationen und die Macht der Algorithmen. In seiner genialen Erzählung führt uns Lewis an die Grenzen unserer Entscheidungen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.12.2016Junge, stell dich dumm!
Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat das ökonomische Denken revolutioniert. Als jüdisches Kind musste er seine Intelligenz vor den Nazis verbergen. Der amerikanische Starautor Michael Lewis schildert, wie die Familie in Frankreich den deutschen Besatzern entkommen ist.
Daniel Kahneman war ein Mann mit vielen Zweifeln, aber der sonderbarste betraf sein Gedächtnis. Er hatte ganze Vorlesungsreihen aus dem Kopf gehalten. Seine Studenten hatten den Eindruck, er kenne die gesamte Fachliteratur auswendig, und nicht weniger verlangte er von ihnen. Aber wenn man ihn nach einem vergangenen Ereignis fragte, dann antwortete er, dass er seinem Gedächtnis nicht traue und dass man seinem eigenen ebenso nicht trauen solle. Vielleicht war das nur Teil seiner lebenslangen Strategie, sich selbst zu misstrauen. "Wenn es ein Gefühl gibt, das ihn definiert, dann ist das der Zweifel", sagt einer seiner ehemaligen Studenten. "Deshalb fragt er immer weiter und bohrt immer tiefer." Oder vielleicht war es auch nur ein Schutz gegen neugierige Frager, die ihn verstehen wollten. Wie dem auch sei, Kahneman hielt großen Abstand zu den Ereignissen und Kräften, die ihn geprägt hatten.
Auch wenn er seinen Erinnerungen misstraute, blieben ihm noch einige. Zum Beispiel daran, wie er Ende 1941 oder Anfang 1942 - jedenfalls ein gutes Jahr nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris - nach der Sperrstunde auf der Straße aufgegriffen wurde. Die neuen Gesetze verlangten von ihm, den gelben Davidstern auf seinem Pullover zu tragen. Das Symbol beschämte ihn so, dass er eine halbe Stunde früher zur Schule ging, damit die anderen Kinder ihn nicht sahen, wie er das Schulgebäude betrat. Und ehe er sich auf den Heimweg machte, drehte er seinen Pullover auf links. Als er eines Abends nach Hause ging, kam ein deutscher Soldat auf ihn zu. "Er trug die schwarze Uniform, die ich mehr fürchtete als die anderen - es war die Uniform der SS", erinnerte er sich in einer biographischen Skizze für das Nobelpreiskomitee. "Ich beschleunigte meine Schritte, doch ich bemerkte, dass er mich aufmerksam ansah. Dann winkte er mich zu sich, hob mich hoch und umarmte mich. Ich hatte Angst, dass er den Stern in meinem Pullover entdecken könnte. Aufgewühlt redete er auf Deutsch auf mich ein. Dann setzte er mich ab, zog seine Geldbörse heraus, zeigte mir das Foto eines Jungen und drückte mir ein paar Münzen in die Hand. Als ich nach Hause ging, war ich so sicher wie nie, dass meine Mutter recht hatte: Menschen waren unendlich kompliziert und interessant."
Er erinnerte sich auch an den Anblick seines Vaters, nachdem dieser in einer großen Verhaftungswelle im November 1941 abgeholt worden war. Tausende Juden wurden zusammengetrieben und in Lager transportiert. Mit seiner Mutter verband Daniel ein kompliziertes Verhältnis, aber seinen Vater liebte er ganz einfach. "Mein Vater leuchtete - er hatte großen Charme." Er wurde in dem Sammellager in Drancy vor den Toren von Paris interniert. In einer Wohnanlage, die für siebenhundert Mieter ausgelegt war, lebten zeitweilig mehr als siebentausend Juden zusammengepfercht. "Ich erinnere mich, wie ich und meine Mutter ihn da besucht haben. Das Gebäude war irgendwie rosa-orange. Es waren eine Menge Leute da, aber man konnte keine Gesichter sehen. Man konnte Frauen und Kinder hören. Und ich erinnere mich an einen Wächter, der sagte: Es ist hart da drin. Sie essen Kartoffelschalen." Für die meisten Juden war Drancy nur eine Station auf dem Weg in ein Konzentrationslager: Nach ihrer Ankunft wurden Kinder von ihren Müttern getrennt und in Zügen Richtung Osteuropa gebracht, um schließlich in Auschwitz vergast zu werden.
Daniels Vater wurde nach sechs Wochen entlassen, dank seiner Verbindung zu Eugène Schueller. Schueller war Gründer und Chef des französischen Kosmetikherstellers L'Oréal, wo Daniels Vater als Chemiker arbeitete. Später kam heraus, dass Schueller einer der Architekten einer Organisation war, die den Nationalsozialisten bei der Aufspürung und schließlichen Ermordung französischer Juden half. Bei seinem Star-Chemiker machte er allerdings eine Ausnahme: Er überzeugte die Deutschen, dass Daniels Vater "entscheidend für die Kriegsanstrengungen" sei, und so wurde er wieder nach Paris geschickt. An diesen Tag erinnert sich Daniel noch lebhaft. "Wir haben gewusst, dass er nach Hause kommt, und sind einkaufen gegangen. Als wir wiedergekommen sind, haben wir an der Tür geklingelt, und er hat aufgemacht. Er hat seinen besten Anzug getragen. Er hat 49 Kilo gewogen und bestand nur noch aus Haut und Knochen. Aber er hatte noch nichts gegessen. Das hat mich am meisten beeindruckt: dass er mit dem Essen auf uns gewartet hat."
Weil sie einsehen mussten, dass selbst Schueller sie nicht schützen konnte, flohen sie aus Paris. Die Grenzen waren inzwischen geschlossen, und es gab keine Möglichkeit, an einen sicheren Ort zu gelangen. Daniel, seine ältere Schwester Ruth und seine Eltern Ephraim und Rachel flohen in den Süden, der nominell von der Vichy-Regierung verwaltet wurde. Unterwegs versteckten sie sich in Scheunen und entkamen mehrmals nur knapp einer Verhaftung. Noch in Paris hatte sein Vater falsche Ausweise besorgt, die leider Rechtschreibfehler enthielten. Daniel, seine Schwester und seine Mutter hießen "Cadet", aber sein Vater hatte den Nachnamen "Godet" erhalten. Um nicht aufzufliegen, musste Daniel seinen Vater mit "Onkel" ansprechen. Außerdem musste er für seine Mutter sprechen, deren erste Sprache Jiddisch war und die Französisch mit deutlichem Akzent sprach. Es war sonderbar, seine Mutter schweigen zu sehen, denn sie war eine Frau, die ansonsten sehr viel zu sagen hatte. Sie gab ihrem Mann die Schuld für ihre Lage. Sie waren nur deshalb in Paris geblieben, weil er sich von seinen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg hatte täuschen lassen. Damals sind die Deutschen nicht bis nach Paris gekommen, hatte er gesagt, also werden sie es diesmal auch nicht schaffen. Sie war anderer Ansicht gewesen. "Schon lange vor ihm hatte meine Mutter den Schrecken kommen sehen - sie war Pessimistin und hat sich um alles Sorgen gemacht, aber er war Optimist und hatte ein sonniges Gemüt." Schon damals spürte Daniel, dass er seiner Mutter ähnelte.
Seine Haltung zu sich selbst war kompliziert. Zu Beginn des Winters 1942 lebten sie in großer Furcht in einem Küstenstädtchen namens Juan-les-Pins. Sie lebten in Angst. Dank des Kollaborateurs hatten sie ein eigenes Haus mit einem Labor, in dem Daniels Vater weiter arbeiten konnte. Um nicht aufzufallen, schickten die Eltern Daniel zur Schule, doch sie warnten ihn, möglichst den Mund zu halten, um nicht allzu intelligent zu erscheinen. "Sie hatten Angst, dass man mich als Juden erkennen könnte." Solange er zurückdenken konnte, hatte er sich immer für einen frühreifen Bücherwurm gehalten. Zu seinem Körper hatte er wenig Bezug. Im Sportunterricht war er so schlecht, dass ihn Mitschüler später als "die lebende Leiche" bezeichnen sollten. Ein Sportlehrer verhinderte einmal, dass er eine akademische Auszeichnung erhielt, mit der Begründung "es hat alles seine Grenzen". Doch sein Gehirn war stark und beweglich. Seit er zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte, was er als Erwachsener werden wollte, ging er davon aus, dass er ganz einfach ein Intellektueller sein würde. Das war das Bild, das er von sich selbst hatte: ein Gehirn ohne Körper. Nun hatte er ein neues Bild: ein gejagter Hase. Nun ging es nur noch ums Überleben.
Ab dem 11. November 1942 besetzten die Deutschen auch den Süden Frankreichs. Deutsche Soldaten in schwarzen Uniformen zerrten Männer aus Bussen und zogen sie aus, um zu sehen, ob sie beschnitten waren. "Wer erwischt wurde, war tot", erinnert sich Daniel. Sein Vater glaubte nicht an Gott. Als junger Mann hatte er seinem Geburtsland Litauen und einer Ahnenreihe illustrer Rabbiner den Rücken gekehrt und war nach Paris gegangen. Daniel war noch nicht bereit, den Glauben an eine fürsorgliche Macht im Universum aufzugeben: "Ich schlief unter demselben Moskitonetz wie meine Eltern. Sie lagen in einem großen Bett, ich in einem kleinen. Ich war neun. Ich habe zu Gott gebetet und gesagt, ich weiß, dass du sehr beschäftigt bist und dass die Zeiten schwer sind. Ich habe keine große Bitte, aber gib mir bitte noch einen Tag."
Wieder mussten sie fliehen, diesmal die Côte d'Azur hinauf nach Cagnes-sur-Mer und in ein Haus, das einem ehemaligen Oberst der französischen Armee gehörte. In den nächsten Monaten durfte Daniel das Haus nicht verlassen. Wieder und wieder las er "In 80 Tagen um die Welt" und verliebte sich in alles, was mit England zu tun hatte, vor allem aber in Phileas Fogg. Der Oberst hatte ein ganzes Regal voller Bücher über die Schlacht von Verdun; auch die las Daniel und wurde so etwas wie ein Experte auf diesem Gebiet. Sein Vater arbeitete noch im Labor ihres alten Hauses und kam an den Wochenenden mit dem Bus, um bei seiner Familie zu sein. Freitags saß Daniel mit seiner Mutter im Garten, sah ihr dabei zu, wie sie Socken stopfte, und wartete auf die Ankunft des Vaters. "Wir wohnten auf einem Hügel und konnten die Bushaltestelle sehen. Wir haben nie gewusst, ob er kommen würde. Seit damals hasse ich das Warten." Unterstützt durch die Vichy-Regierung und private Kopfgeldjäger, wurden die Nationalsozialisten bei der Verfolgung der Juden immer effizienter. Daniels Vater litt an Diabetes, aber inzwischen war es für ihn gefährlicher, zum Arzt zu gehen, als sich nicht behandeln zu lassen. Wieder mussten sie fliehen. Erst kamen sie in Hotels unter und schließlich in einem Hühnerstall im Garten eines Landgasthauses in einem Dorf bei Limoges. Hier gab es keine deutschen Soldaten, nur die Miliz, die den Deutschen bei der Jagd nach Juden und dem Kampf gegen die Résistance half. Daniel hatte keine Ahnung, wie sein Vater diesen Ort gefunden hatte, doch er nahm an, dass L'Oréal damit zu tun hatte, denn das Unternehmen schickte weiterhin Lebensmittelpakete.
Sie hatten den Hühnerstall abgeteilt, damit seine Schwester ein bisschen Privatsphäre besaß, doch das änderte nichts daran, dass der Stall nicht für menschliche Bewohner gemacht war. Im Winter wurde es so kalt, dass die Tür zufror. Bei dem Versuch, auf dem Ofen zu schlafen, handelte sich seine Schwester Brandflecken auf ihren Kleidern ein. Um als Christen durchzugehen, besuchten die Kinder und die Mutter den Sonntagsgottesdienst in der Kirche des Ortes. Daniel, der inzwischen zehn war, ging wieder zur Schule, weil die Eltern der Ansicht waren, so falle er weniger auf, als wenn er sich im Hühnerstall versteckte. Seine neuen Mitschüler waren noch einfältiger als in Juan-les-Pins. Die einzige Stunde, an die sich Daniel erinnerte, war die über Sexualkunde.Was er da hörte, erschien ihm derart absurd, dass er annahm, der Lehrer müsse sich irren. "Ich habe gesagt, das kann doch gar nicht sein! Zu Hause habe ich meine Mutter gefragt, aber die hat mir bestätigt, dass es genau so ist." Er glaubte es trotzdem nicht, bis er eines Nachts aufwachte und nach draußen musste. Dabei musste er über seine Mutter, die neben ihm schlief, hinwegklettern. Sie wachte auf und sah ihren Sohn über sich. "Sie war entsetzt. Da habe ich mir gedacht, vielleicht ist ja doch was dran."
Schon als Kind hegte er ein wissenschaftliches Interesse an anderen Menschen und wollte wissen, warum sie so dachten, wie sie dachten, und warum sie so handelten, wie sie handelten. Eigene Begegnungen machte er kaum. Er ging zur Schule, doch er mied den persönlichen Kontakt zu seinen Mitschülern und Lehrern. Doch aus der Distanz beobachtete er eine Menge interessante Verhaltensweisen. Sein Lehrer und die Gastwirtin mussten ahnen, dass er Jude war. Warum sonst sollte dieser frühreife Stadtjunge neben diesen Dorfbengeln die Schulbank drücken? Warum sonst sollte sich eine vierköpfige Familie in einen Hühnerstall zwängen? Aber sie ließen sich nichts anmerken. Sein Lehrer gab Daniel gute Noten und lud ihn sogar zu sich nach Hause ein, und die Gastwirtin Madame Andrieux bat ihn, bei ihr auszuhelfen, gab ihm vom Trinkgeld ab und versuchte sogar, seine Mutter zu überzeugen, mit ihr ein Bordell zu eröffnen. Auch viele andere Leute sahen offensichtlich nicht, was sie waren. Daniel erinnert sich besonders an einen jungen französischen Nazi, der ein Mitglied der Miliz war und erfolglos seiner Schwester nachstellte. Sie war inzwischen neunzehn und sah aus wie ein Filmstar. (Nach dem Krieg eröffnete sie dem Nazi genüsslich, dass er sich in eine Jüdin verliebt hatte.)
Am Abend des 27. April 1944 - Daniel weiß noch genau das Datum - unternahm sein Vater einen Spaziergang mit ihm. Er hatte dunkle Flecken im Mund. Er war 49, sah aber viel älter aus. "Er hat mir gesagt, dass ich Verantwortung übernehmen müsse", erinnert sich Daniel. "Dass ich mich als Mann im Haus verstehen solle. Er hat mir erklärt, wie ich zusammen mit meiner Mutter die Dinge in den Griff bekomme und dass ich der einzig Vernünftige in der Familie sei. Ich hatte ein Heft mit Gedichten, die habe ich ihm gegeben. In der Nacht ist er gestorben." Von dieser Nacht weiß Daniel nur noch, dass seine Mutter ihn zu Monsieur und Madame Andrieux schickte. In ihrem Dorf versteckte sich außer ihnen ein weiterer Jude. Seine Mutter kannte ihn, und zusammen brachten sie den Leichnam des Vaters weg, ehe Daniel nach Hause kam. Sie gab dem Vater ein jüdisches Begräbnis, aber Daniel durfte nicht teilnehmen, vermutlich weil es zu gefährlich gewesen wäre. "Ich war wütend über seinen Tod", sagt Daniel. "Er war ein guter Vater. Aber er war nicht stark gewesen."
Sechs Wochen später landeten die Alliierten in der Normandie. Nie begegnete Daniel einem Soldaten, keine Panzer rollten durch das Dorf, keine GIs verteilten Bonbons an die Kinder. Eines Tages wachte er auf, und es lag ein Gefühl der Freude in der Luft. Die Angehörigen der Miliz wurden abgeführt und erschossen oder eingesperrt, und einige Frauen liefen mit kahlgeschorenen Köpfen herum - als Strafe, dass sie sexuelle Beziehungen zu Deutschen unterhalten hatten. Im Dezember waren die Besatzer aus Frankreich zurückgedrängt worden, und Daniel und seine Mutter konnten nach Paris fahren, um zu sehen, was aus ihrer Wohnung und ihren Sachen geworden war. Daniel führte ein Notizbuch mit dem Titel "Was ich von meinen Gedanken notiere" ("Ich war vermutlich unausstehlich"). In Paris las er in einem der Schulbücher seiner Schwester einen Text von Blaise Pascal, der ihn inspirierte, in seinem Notizbuch einen eigenen Aufsatz zu verfassen. Die Deutschen unternahmen eine letzte Gegenoffensive in den Ardennen, und während Daniel und seine Mutter fürchteten, dass ihnen der Durchbruch glücken könnte, schrieb er einen Aufsatz, in dem er sich daranmachte, das menschliche Bedürfnis nach Religion zu erklären. Er begann mit einem Pascal-Zitat "Das ist der Glaube: Gott dem Herzen fühlbar, nicht dem Verstand" und fügte hinzu: "Wie wahr!" Dann folgte sein Gedanke: "Kirchen und Orgeln sind künstliche Möglichkeiten, dieses Gefühl zu erzeugen." Gott erschien ihm nicht mehr wie eine Macht, zu der man betete. Jahre später sollte er sich mit einer Mischung aus Stolz und Beschämung an seine jugendliche Anmaßung erinnern. Seine frühreifen Aufsätze "hingen in meiner Vorstellung eng damit zusammen, dass ich Jude war, dass ich einen Kopf, aber keinen nützlichen Körper hatte und dass ich nie so sein würde wie die anderen Jungen".
Als Daniel und seine Mutter in ihre alte Wohnung in Paris zurückkamen, fanden sie nur noch zwei ramponierte grüne Stühle vor. Sie blieben trotzdem. Zum ersten Mal seit fünf Jahren konnte Daniel die Schule besuchen, ohne sich verstellen zu müssen. Jahrelang trug er in seinem Gedächtnis die Erinnerung an eine Freundschaft mit zwei gut aussehenden russischen Adeligen mit sich herum, die er damals schloss. Die Erinnerung war vielleicht deshalb so stark, weil er so lange gar keine Freunde gehabt hatte. Viele Jahre später stellte er seine Erinnerung auf die Probe, indem er die Brüder ausfindig machte und ihnen einen Brief schrieb. Einer der beiden war Architekt geworden, der andere Arzt. Sie antworteten ihm, dass sie sich natürlich an ihn erinnerten, und schickten ihm ein Foto, auf dem sie alle zu sehen waren. Daniel war nicht auf dem Bild. Sie mussten ihn mit jemand anderem verwechselt haben. Seine Freundschaft war die Ausgeburt einer einsamen Phantasie. Die Kahnemans fühlten sich in Europa nicht mehr wohl und wanderten 1946 aus. Die Familie seines Vaters war in Litauen geblieben und zusammen mit rund sechstausend anderen Juden in ihrer Heimatstadt ermordet worden. Nur Daniels Onkel, ein Rabbiner, der zufällig zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls außer Landes war, hatte überlebt. Genau wie die Familie der Mutter lebte er inzwischen in Palästina, also zogen auch sie dorthin.
"Aus der Welt" heißt das neue Buch von Michael Lewis (Original: "The Undoing Project"). Es erscheint am 12. Januar 2017 auf Deutsch im Campus-Verlag, das E-Book ist dort bereits erhältlich.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat das ökonomische Denken revolutioniert. Als jüdisches Kind musste er seine Intelligenz vor den Nazis verbergen. Der amerikanische Starautor Michael Lewis schildert, wie die Familie in Frankreich den deutschen Besatzern entkommen ist.
Daniel Kahneman war ein Mann mit vielen Zweifeln, aber der sonderbarste betraf sein Gedächtnis. Er hatte ganze Vorlesungsreihen aus dem Kopf gehalten. Seine Studenten hatten den Eindruck, er kenne die gesamte Fachliteratur auswendig, und nicht weniger verlangte er von ihnen. Aber wenn man ihn nach einem vergangenen Ereignis fragte, dann antwortete er, dass er seinem Gedächtnis nicht traue und dass man seinem eigenen ebenso nicht trauen solle. Vielleicht war das nur Teil seiner lebenslangen Strategie, sich selbst zu misstrauen. "Wenn es ein Gefühl gibt, das ihn definiert, dann ist das der Zweifel", sagt einer seiner ehemaligen Studenten. "Deshalb fragt er immer weiter und bohrt immer tiefer." Oder vielleicht war es auch nur ein Schutz gegen neugierige Frager, die ihn verstehen wollten. Wie dem auch sei, Kahneman hielt großen Abstand zu den Ereignissen und Kräften, die ihn geprägt hatten.
Auch wenn er seinen Erinnerungen misstraute, blieben ihm noch einige. Zum Beispiel daran, wie er Ende 1941 oder Anfang 1942 - jedenfalls ein gutes Jahr nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris - nach der Sperrstunde auf der Straße aufgegriffen wurde. Die neuen Gesetze verlangten von ihm, den gelben Davidstern auf seinem Pullover zu tragen. Das Symbol beschämte ihn so, dass er eine halbe Stunde früher zur Schule ging, damit die anderen Kinder ihn nicht sahen, wie er das Schulgebäude betrat. Und ehe er sich auf den Heimweg machte, drehte er seinen Pullover auf links. Als er eines Abends nach Hause ging, kam ein deutscher Soldat auf ihn zu. "Er trug die schwarze Uniform, die ich mehr fürchtete als die anderen - es war die Uniform der SS", erinnerte er sich in einer biographischen Skizze für das Nobelpreiskomitee. "Ich beschleunigte meine Schritte, doch ich bemerkte, dass er mich aufmerksam ansah. Dann winkte er mich zu sich, hob mich hoch und umarmte mich. Ich hatte Angst, dass er den Stern in meinem Pullover entdecken könnte. Aufgewühlt redete er auf Deutsch auf mich ein. Dann setzte er mich ab, zog seine Geldbörse heraus, zeigte mir das Foto eines Jungen und drückte mir ein paar Münzen in die Hand. Als ich nach Hause ging, war ich so sicher wie nie, dass meine Mutter recht hatte: Menschen waren unendlich kompliziert und interessant."
Er erinnerte sich auch an den Anblick seines Vaters, nachdem dieser in einer großen Verhaftungswelle im November 1941 abgeholt worden war. Tausende Juden wurden zusammengetrieben und in Lager transportiert. Mit seiner Mutter verband Daniel ein kompliziertes Verhältnis, aber seinen Vater liebte er ganz einfach. "Mein Vater leuchtete - er hatte großen Charme." Er wurde in dem Sammellager in Drancy vor den Toren von Paris interniert. In einer Wohnanlage, die für siebenhundert Mieter ausgelegt war, lebten zeitweilig mehr als siebentausend Juden zusammengepfercht. "Ich erinnere mich, wie ich und meine Mutter ihn da besucht haben. Das Gebäude war irgendwie rosa-orange. Es waren eine Menge Leute da, aber man konnte keine Gesichter sehen. Man konnte Frauen und Kinder hören. Und ich erinnere mich an einen Wächter, der sagte: Es ist hart da drin. Sie essen Kartoffelschalen." Für die meisten Juden war Drancy nur eine Station auf dem Weg in ein Konzentrationslager: Nach ihrer Ankunft wurden Kinder von ihren Müttern getrennt und in Zügen Richtung Osteuropa gebracht, um schließlich in Auschwitz vergast zu werden.
Daniels Vater wurde nach sechs Wochen entlassen, dank seiner Verbindung zu Eugène Schueller. Schueller war Gründer und Chef des französischen Kosmetikherstellers L'Oréal, wo Daniels Vater als Chemiker arbeitete. Später kam heraus, dass Schueller einer der Architekten einer Organisation war, die den Nationalsozialisten bei der Aufspürung und schließlichen Ermordung französischer Juden half. Bei seinem Star-Chemiker machte er allerdings eine Ausnahme: Er überzeugte die Deutschen, dass Daniels Vater "entscheidend für die Kriegsanstrengungen" sei, und so wurde er wieder nach Paris geschickt. An diesen Tag erinnert sich Daniel noch lebhaft. "Wir haben gewusst, dass er nach Hause kommt, und sind einkaufen gegangen. Als wir wiedergekommen sind, haben wir an der Tür geklingelt, und er hat aufgemacht. Er hat seinen besten Anzug getragen. Er hat 49 Kilo gewogen und bestand nur noch aus Haut und Knochen. Aber er hatte noch nichts gegessen. Das hat mich am meisten beeindruckt: dass er mit dem Essen auf uns gewartet hat."
Weil sie einsehen mussten, dass selbst Schueller sie nicht schützen konnte, flohen sie aus Paris. Die Grenzen waren inzwischen geschlossen, und es gab keine Möglichkeit, an einen sicheren Ort zu gelangen. Daniel, seine ältere Schwester Ruth und seine Eltern Ephraim und Rachel flohen in den Süden, der nominell von der Vichy-Regierung verwaltet wurde. Unterwegs versteckten sie sich in Scheunen und entkamen mehrmals nur knapp einer Verhaftung. Noch in Paris hatte sein Vater falsche Ausweise besorgt, die leider Rechtschreibfehler enthielten. Daniel, seine Schwester und seine Mutter hießen "Cadet", aber sein Vater hatte den Nachnamen "Godet" erhalten. Um nicht aufzufliegen, musste Daniel seinen Vater mit "Onkel" ansprechen. Außerdem musste er für seine Mutter sprechen, deren erste Sprache Jiddisch war und die Französisch mit deutlichem Akzent sprach. Es war sonderbar, seine Mutter schweigen zu sehen, denn sie war eine Frau, die ansonsten sehr viel zu sagen hatte. Sie gab ihrem Mann die Schuld für ihre Lage. Sie waren nur deshalb in Paris geblieben, weil er sich von seinen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg hatte täuschen lassen. Damals sind die Deutschen nicht bis nach Paris gekommen, hatte er gesagt, also werden sie es diesmal auch nicht schaffen. Sie war anderer Ansicht gewesen. "Schon lange vor ihm hatte meine Mutter den Schrecken kommen sehen - sie war Pessimistin und hat sich um alles Sorgen gemacht, aber er war Optimist und hatte ein sonniges Gemüt." Schon damals spürte Daniel, dass er seiner Mutter ähnelte.
Seine Haltung zu sich selbst war kompliziert. Zu Beginn des Winters 1942 lebten sie in großer Furcht in einem Küstenstädtchen namens Juan-les-Pins. Sie lebten in Angst. Dank des Kollaborateurs hatten sie ein eigenes Haus mit einem Labor, in dem Daniels Vater weiter arbeiten konnte. Um nicht aufzufallen, schickten die Eltern Daniel zur Schule, doch sie warnten ihn, möglichst den Mund zu halten, um nicht allzu intelligent zu erscheinen. "Sie hatten Angst, dass man mich als Juden erkennen könnte." Solange er zurückdenken konnte, hatte er sich immer für einen frühreifen Bücherwurm gehalten. Zu seinem Körper hatte er wenig Bezug. Im Sportunterricht war er so schlecht, dass ihn Mitschüler später als "die lebende Leiche" bezeichnen sollten. Ein Sportlehrer verhinderte einmal, dass er eine akademische Auszeichnung erhielt, mit der Begründung "es hat alles seine Grenzen". Doch sein Gehirn war stark und beweglich. Seit er zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte, was er als Erwachsener werden wollte, ging er davon aus, dass er ganz einfach ein Intellektueller sein würde. Das war das Bild, das er von sich selbst hatte: ein Gehirn ohne Körper. Nun hatte er ein neues Bild: ein gejagter Hase. Nun ging es nur noch ums Überleben.
Ab dem 11. November 1942 besetzten die Deutschen auch den Süden Frankreichs. Deutsche Soldaten in schwarzen Uniformen zerrten Männer aus Bussen und zogen sie aus, um zu sehen, ob sie beschnitten waren. "Wer erwischt wurde, war tot", erinnert sich Daniel. Sein Vater glaubte nicht an Gott. Als junger Mann hatte er seinem Geburtsland Litauen und einer Ahnenreihe illustrer Rabbiner den Rücken gekehrt und war nach Paris gegangen. Daniel war noch nicht bereit, den Glauben an eine fürsorgliche Macht im Universum aufzugeben: "Ich schlief unter demselben Moskitonetz wie meine Eltern. Sie lagen in einem großen Bett, ich in einem kleinen. Ich war neun. Ich habe zu Gott gebetet und gesagt, ich weiß, dass du sehr beschäftigt bist und dass die Zeiten schwer sind. Ich habe keine große Bitte, aber gib mir bitte noch einen Tag."
Wieder mussten sie fliehen, diesmal die Côte d'Azur hinauf nach Cagnes-sur-Mer und in ein Haus, das einem ehemaligen Oberst der französischen Armee gehörte. In den nächsten Monaten durfte Daniel das Haus nicht verlassen. Wieder und wieder las er "In 80 Tagen um die Welt" und verliebte sich in alles, was mit England zu tun hatte, vor allem aber in Phileas Fogg. Der Oberst hatte ein ganzes Regal voller Bücher über die Schlacht von Verdun; auch die las Daniel und wurde so etwas wie ein Experte auf diesem Gebiet. Sein Vater arbeitete noch im Labor ihres alten Hauses und kam an den Wochenenden mit dem Bus, um bei seiner Familie zu sein. Freitags saß Daniel mit seiner Mutter im Garten, sah ihr dabei zu, wie sie Socken stopfte, und wartete auf die Ankunft des Vaters. "Wir wohnten auf einem Hügel und konnten die Bushaltestelle sehen. Wir haben nie gewusst, ob er kommen würde. Seit damals hasse ich das Warten." Unterstützt durch die Vichy-Regierung und private Kopfgeldjäger, wurden die Nationalsozialisten bei der Verfolgung der Juden immer effizienter. Daniels Vater litt an Diabetes, aber inzwischen war es für ihn gefährlicher, zum Arzt zu gehen, als sich nicht behandeln zu lassen. Wieder mussten sie fliehen. Erst kamen sie in Hotels unter und schließlich in einem Hühnerstall im Garten eines Landgasthauses in einem Dorf bei Limoges. Hier gab es keine deutschen Soldaten, nur die Miliz, die den Deutschen bei der Jagd nach Juden und dem Kampf gegen die Résistance half. Daniel hatte keine Ahnung, wie sein Vater diesen Ort gefunden hatte, doch er nahm an, dass L'Oréal damit zu tun hatte, denn das Unternehmen schickte weiterhin Lebensmittelpakete.
Sie hatten den Hühnerstall abgeteilt, damit seine Schwester ein bisschen Privatsphäre besaß, doch das änderte nichts daran, dass der Stall nicht für menschliche Bewohner gemacht war. Im Winter wurde es so kalt, dass die Tür zufror. Bei dem Versuch, auf dem Ofen zu schlafen, handelte sich seine Schwester Brandflecken auf ihren Kleidern ein. Um als Christen durchzugehen, besuchten die Kinder und die Mutter den Sonntagsgottesdienst in der Kirche des Ortes. Daniel, der inzwischen zehn war, ging wieder zur Schule, weil die Eltern der Ansicht waren, so falle er weniger auf, als wenn er sich im Hühnerstall versteckte. Seine neuen Mitschüler waren noch einfältiger als in Juan-les-Pins. Die einzige Stunde, an die sich Daniel erinnerte, war die über Sexualkunde.Was er da hörte, erschien ihm derart absurd, dass er annahm, der Lehrer müsse sich irren. "Ich habe gesagt, das kann doch gar nicht sein! Zu Hause habe ich meine Mutter gefragt, aber die hat mir bestätigt, dass es genau so ist." Er glaubte es trotzdem nicht, bis er eines Nachts aufwachte und nach draußen musste. Dabei musste er über seine Mutter, die neben ihm schlief, hinwegklettern. Sie wachte auf und sah ihren Sohn über sich. "Sie war entsetzt. Da habe ich mir gedacht, vielleicht ist ja doch was dran."
Schon als Kind hegte er ein wissenschaftliches Interesse an anderen Menschen und wollte wissen, warum sie so dachten, wie sie dachten, und warum sie so handelten, wie sie handelten. Eigene Begegnungen machte er kaum. Er ging zur Schule, doch er mied den persönlichen Kontakt zu seinen Mitschülern und Lehrern. Doch aus der Distanz beobachtete er eine Menge interessante Verhaltensweisen. Sein Lehrer und die Gastwirtin mussten ahnen, dass er Jude war. Warum sonst sollte dieser frühreife Stadtjunge neben diesen Dorfbengeln die Schulbank drücken? Warum sonst sollte sich eine vierköpfige Familie in einen Hühnerstall zwängen? Aber sie ließen sich nichts anmerken. Sein Lehrer gab Daniel gute Noten und lud ihn sogar zu sich nach Hause ein, und die Gastwirtin Madame Andrieux bat ihn, bei ihr auszuhelfen, gab ihm vom Trinkgeld ab und versuchte sogar, seine Mutter zu überzeugen, mit ihr ein Bordell zu eröffnen. Auch viele andere Leute sahen offensichtlich nicht, was sie waren. Daniel erinnert sich besonders an einen jungen französischen Nazi, der ein Mitglied der Miliz war und erfolglos seiner Schwester nachstellte. Sie war inzwischen neunzehn und sah aus wie ein Filmstar. (Nach dem Krieg eröffnete sie dem Nazi genüsslich, dass er sich in eine Jüdin verliebt hatte.)
Am Abend des 27. April 1944 - Daniel weiß noch genau das Datum - unternahm sein Vater einen Spaziergang mit ihm. Er hatte dunkle Flecken im Mund. Er war 49, sah aber viel älter aus. "Er hat mir gesagt, dass ich Verantwortung übernehmen müsse", erinnert sich Daniel. "Dass ich mich als Mann im Haus verstehen solle. Er hat mir erklärt, wie ich zusammen mit meiner Mutter die Dinge in den Griff bekomme und dass ich der einzig Vernünftige in der Familie sei. Ich hatte ein Heft mit Gedichten, die habe ich ihm gegeben. In der Nacht ist er gestorben." Von dieser Nacht weiß Daniel nur noch, dass seine Mutter ihn zu Monsieur und Madame Andrieux schickte. In ihrem Dorf versteckte sich außer ihnen ein weiterer Jude. Seine Mutter kannte ihn, und zusammen brachten sie den Leichnam des Vaters weg, ehe Daniel nach Hause kam. Sie gab dem Vater ein jüdisches Begräbnis, aber Daniel durfte nicht teilnehmen, vermutlich weil es zu gefährlich gewesen wäre. "Ich war wütend über seinen Tod", sagt Daniel. "Er war ein guter Vater. Aber er war nicht stark gewesen."
Sechs Wochen später landeten die Alliierten in der Normandie. Nie begegnete Daniel einem Soldaten, keine Panzer rollten durch das Dorf, keine GIs verteilten Bonbons an die Kinder. Eines Tages wachte er auf, und es lag ein Gefühl der Freude in der Luft. Die Angehörigen der Miliz wurden abgeführt und erschossen oder eingesperrt, und einige Frauen liefen mit kahlgeschorenen Köpfen herum - als Strafe, dass sie sexuelle Beziehungen zu Deutschen unterhalten hatten. Im Dezember waren die Besatzer aus Frankreich zurückgedrängt worden, und Daniel und seine Mutter konnten nach Paris fahren, um zu sehen, was aus ihrer Wohnung und ihren Sachen geworden war. Daniel führte ein Notizbuch mit dem Titel "Was ich von meinen Gedanken notiere" ("Ich war vermutlich unausstehlich"). In Paris las er in einem der Schulbücher seiner Schwester einen Text von Blaise Pascal, der ihn inspirierte, in seinem Notizbuch einen eigenen Aufsatz zu verfassen. Die Deutschen unternahmen eine letzte Gegenoffensive in den Ardennen, und während Daniel und seine Mutter fürchteten, dass ihnen der Durchbruch glücken könnte, schrieb er einen Aufsatz, in dem er sich daranmachte, das menschliche Bedürfnis nach Religion zu erklären. Er begann mit einem Pascal-Zitat "Das ist der Glaube: Gott dem Herzen fühlbar, nicht dem Verstand" und fügte hinzu: "Wie wahr!" Dann folgte sein Gedanke: "Kirchen und Orgeln sind künstliche Möglichkeiten, dieses Gefühl zu erzeugen." Gott erschien ihm nicht mehr wie eine Macht, zu der man betete. Jahre später sollte er sich mit einer Mischung aus Stolz und Beschämung an seine jugendliche Anmaßung erinnern. Seine frühreifen Aufsätze "hingen in meiner Vorstellung eng damit zusammen, dass ich Jude war, dass ich einen Kopf, aber keinen nützlichen Körper hatte und dass ich nie so sein würde wie die anderen Jungen".
Als Daniel und seine Mutter in ihre alte Wohnung in Paris zurückkamen, fanden sie nur noch zwei ramponierte grüne Stühle vor. Sie blieben trotzdem. Zum ersten Mal seit fünf Jahren konnte Daniel die Schule besuchen, ohne sich verstellen zu müssen. Jahrelang trug er in seinem Gedächtnis die Erinnerung an eine Freundschaft mit zwei gut aussehenden russischen Adeligen mit sich herum, die er damals schloss. Die Erinnerung war vielleicht deshalb so stark, weil er so lange gar keine Freunde gehabt hatte. Viele Jahre später stellte er seine Erinnerung auf die Probe, indem er die Brüder ausfindig machte und ihnen einen Brief schrieb. Einer der beiden war Architekt geworden, der andere Arzt. Sie antworteten ihm, dass sie sich natürlich an ihn erinnerten, und schickten ihm ein Foto, auf dem sie alle zu sehen waren. Daniel war nicht auf dem Bild. Sie mussten ihn mit jemand anderem verwechselt haben. Seine Freundschaft war die Ausgeburt einer einsamen Phantasie. Die Kahnemans fühlten sich in Europa nicht mehr wohl und wanderten 1946 aus. Die Familie seines Vaters war in Litauen geblieben und zusammen mit rund sechstausend anderen Juden in ihrer Heimatstadt ermordet worden. Nur Daniels Onkel, ein Rabbiner, der zufällig zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls außer Landes war, hatte überlebt. Genau wie die Familie der Mutter lebte er inzwischen in Palästina, also zogen auch sie dorthin.
"Aus der Welt" heißt das neue Buch von Michael Lewis (Original: "The Undoing Project"). Es erscheint am 12. Januar 2017 auf Deutsch im Campus-Verlag, das E-Book ist dort bereits erhältlich.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2017Wahrheit
und Erzählung
Das neue Buch des amerikanischen
Autors Michael Lewis handelt von zwei
genialen Psychologen. Und es erklärt,
wie beeinflussbar der Mensch
in der Demokratie ist
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Manchmal verändert ein Buch den Blick auf die Verhältnisse – und manchmal verändern die Verhältnisse den Blick auf ein Buch. „Aus der Welt: Grenzen der Entscheidung oder Eine Freundschaft, die unser Denken verändert hat“ von dem amerikanischen Sachbuch-Autor Michael Lewis ist der seltene Fall, auf den beides zutrifft. Was für ein Glücksfall in diesen Tagen.
Die aktuellen Erfolge der Populisten gehen ja oft mit hanebüchenen Lügen einher, leider ist der liberale Zorn darüber jedoch aus zwei Gründen eine zutiefst ambivalente Angelegenheit. Der nicht so interessante Grund ist natürlich, dass auch auf der liberalen Seite glatte Lügen keine Seltenheit sind. Der wichtigere Grund ist, dass schon die Deutung, also die ideologische Lackierung von unstrittigen Fakten, auch auf der liberalen Seite nicht so unschuldig ist, wie man sich das wünschen würde. Das Buch „Aus der Welt“ handelt im größtmöglichen Kontrast dazu von der skrupulösen Suche nach Fakten und Wahrheit und – fein säuberlich getrennt – von ihren Interpretationen. Man blickt nach der Lektüre anders auf den Populismus, als liberaler Demokrat vor allem aber auch anders auf seine eigenen Überzeugungen.
Lewis’ Buch, im Campus Verlag erschienen (aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Sebastian Vogel, 359 Seiten, 24,95 Euro, E-Book 20,99 Euro), erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen den beiden Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky, zwei ziemlich unterschiedlichen, auf je eigene Art genialen israelischen Wissenschaftlern. Kahneman erhielt – sechs Jahre nach dem Tod Tverskys – für die gemeinsamen Erkenntnisse, die das Denken über menschliche Entscheidungen für immer verändert haben, 2002 den Wirtschaftsnobelpreis. Sein 2011 erschienenes, fabelhaftes Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“, in dem er ihre Arbeit für ein breiteres Publikum aufgeschrieben hat, ist ein Bestseller. Der Mensch, so die Quintessenz der gemeinsamen Forschungen, entscheidet nicht so rational, wie insbesondere die Wirtschaftswissenschaft lange glaubte.
Kahneman und Tversky legten die Grundlage für das, was man heute Verhaltensökonomie nennt. Sie fanden heraus, was der Mensch oft wirklich tut, wenn er glaubt, er handele vernünftig: Er handelt in hohem Maße irrational. „Aus der Welt“ schafften sie so mit cleveren sozialen Experimenten, von denen viele im Buch anschaulich beschrieben werden, den Glauben an die prinzipielle Rationalität menschlichen Handelns. Sie entdeckten zum Beispiel den „Ankereffekt“. Dafür sollten die Versuchsteilnehmer an einem Glücksrad mit den Zahlen 1 bis 100 drehen. Danach sollten sie die Zahl afrikanischer Staaten in den Vereinten Nationen schätzen. Die Schätzung fiel umso höher aus, je höher die zuvor gedrehte Glücksradzahl war – obwohl das Glücksrad mit der Schätzfrage rein gar nichts zu tun hatte.
Wie es dazu kam, ist ein spannendes Kapitel Wissenschaftsgeschichte. So hoch hängt es Michael Lewis aber dankenswerterweise erst einmal gar nicht. Er beginnt lieber mit einer eigenen kleinen Erleuchtung: In seinem 2003 erschienenen Bestseller „Moneyball“ erzählte er die Geschichte des findigen amerikanischen Baseball-Managers Billy Beane. Der hatte ein zweitklassiges Profi-Team zu einer Spitzenmannschaft gemacht, indem er sich nicht mehr auf die Einschätzungen von erfahrenen Baseball-Experten verließ, sondern mit neuen Statistiken effektivere Spielerbewertungskriterien entdeckte.
Von diesem Buch, so Lewis, sei ihm selbst später vor allem die eine Kritik im Kopf geblieben, die darauf hingewiesen habe, dass die psychologischen Hintergründe für die Denkfehler der erfahrenen Baseball-Experten schon vor Jahren von zwei israelischen Forschern beschrieben worden seien: eben von Daniel Kahneman und Amos Tversky, die ihre Schüler Cass Sunstein und Richard Thaler im New Yorker kürzlich als „Lennon und McCartney der Sozialwissenschaft“ bezeichneten.
Danach geht es bei den Hauptdarstellern und so manchen Schülern, Helfern und Gegnern ähnlich anekdotisch weiter. Bei schwächeren Erzählern hätte das leicht zu allerlei allzu braven biografischen Oberflächlichkeiten geführt. Aber wie schon bei seinem 1989 veröffentlichten Debüt „Liar’s Poker“ über den Wall-Street-Wahnsinn der Achtzigerjahre oder bei dem unlängst verfilmten Buch „The Big Short“ (2010) über die unvorstellbare Habgier und Verantwortungslosigkeit von Hedgefonds-Managern oder bei „Flash Boys“ (2014) über den Wahnsinn des Hochfrequenz-Börsenhandels ist Michael Lewis eben gerade nicht bloß an den Menschen hinter den Ereignissen interessiert. Ihn interessiert, wie die Ideen mit den Menschen, die sie entwickeln, zusammenhängen. Und das, was passieren muss, damit sie zusammenkommen können.
Einzelne Kapitel werden so zu Abenteuergeschichten eigenen Rechts. Gleich am Anfang etwa, wenn Lewis die frühen Jahre Kahnemans erzählt, der anders als Tversky ein notorischer Pessimist war, der vorsichtshalber immer das Schlimmste befürchtete. Kahneman war Kind französischer Juden. Sein Vater arbeitete als angesehener Chemiker für L’Oréal in Paris. Als der Zweite Weltkrieg begann, rettete der Firmenchef, der sonst mit den Nazis kollaborierte, Kahnemans Vater zwar vor den Nazis, die Familie flüchtete dennoch bald aus Paris und verbrachte die nächsten Jahre in der ständigen Angst, entdeckt zu werden. „In meiner gesamten Kindheit wie ein Hase gejagt worden zu sein“, so Kahneman, habe ihn einen ausgeprägten Überlebensinstinkt entwickeln lassen und eine ständige Furcht vor dem Schlimmsten. Beides sollte sich in der Zusammenarbeit mit dem drei Jahre jüngeren, ungleich optimistischeren und selbstgewisseren geborenen Israeli Tversky noch als äußerst fruchtbar erweisen. Eine gute Weile jedenfalls.
Irgendwann ist die Unterschiedlichkeit, wie bei so vielen großen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen, auch der Grund für das schmerzhafte Ende. Aber da hatten die beiden, im Grunde mit gerade einmal acht kurzen Aufsätzen, die sie allesamt in den Siebzigerjahren gemeinsam an einer Schreibmaschine sitzend geschrieben hatten, eine ganze wissenschaftliche Disziplin revolutioniert. Nicht ohne zwischendurch noch am Tag des Ausbruchs des Jom-Kippur-Krieges 1973 von den USA nach Israel zu fliegen, um sich zum Kriegsdienst zu melden. Sie landeten im „psychologischen Frontdienst“, für den Daniel Kahneman in den Fünfzigern schon neue Auswahlsysteme entwickelt hatte.
Dieser Abschnitt ergeht sich dann jedoch zum Glück nicht in Kriegsszenen, der Ideen-Detektiv Michael Lewis versucht dem Leser lieber tatsächlich einen Eindruck davon zu vermitteln, worin ihre Arbeit als Militärpsychologen bestand und auf welche Gedanken sie die Forscher brachte: „Amos war vielleicht der praktisch Begabte, aber Daniel verfügte mehr als er über das Talent, Lösungen für Probleme zu finden, wo anderen noch nicht einmal aufgefallen war, dass ein Problem der Lösung harrte.“ Als sie einmal in Richtung Front gefahren seien, habe Daniel Kahneman am Straßenrand riesige Abfallhaufen bemerkt, die Überreste von Dosengerichten, die von der amerikanischen Armee geliefert worden waren: „Er untersuchte, was die Soldaten gegessen und was sie weggeworfen hatten. (Am liebsten mochten sie Grapefruitkonserven.) Später machte er Schlagzeilen mit der Empfehlung, die israelische Armee solle den Müll analysieren und die Soldaten mit dem versorgen, was sie wirklich mochten.“
Was allerdings ist nun daran das Unschmeichelhafte für das Selbstverständnis der liberal-demokratischen Republik und ihrer Freunde? Es versteckt sich in einer der zentralen Erkenntnisse von Kahneman und Tversky. Sie besagt, dass man menschliches Verhalten nur versteht, wenn man versteht, dass Menschen keine intuitiven Statistiker sind. Im Gegenteil: Menschen brauchen Geschichten. Sie werden massiv davon beeinflusst, wie eine Entscheidung präsentiert wird. Man nehme das berühmte Kahneman/Tversky-Experiment, in dem ein Mensch ein Programm zur Bekämpfung einer tödlichen Epidemie auswählen soll. Ob er sich für die Variante entscheidet, bei der 400 von 600 Menschen sterben, hängt allein davon ab, ob das Programm als Gewinn oder Verlust formuliert ist. Die Fakten spielen keine Rolle. Kann er sich dafür entscheiden, dass entweder 600 Menschen mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit sterben oder 200 Menschen sicher gerettet werden, wird er die 200 Menschen retten. Betont die Formulierung den Verlust und lautet „Wenn Programm XY umgesetzt wird, sterben sicher 400 Menschen“, geht er absurderweise lieber das Risiko ein, dass alle 600 Menschen sterben müssen.
Als politische Taktik produktiv gemacht, steht diese Erkenntnis auch hinter der Diskussion darüber, auf welche selbstverschuldeten Probleme des Liberalismus die Erfolge des Populismus hinweisen. Das Zauberwort der Debatte lautet „Narrativ“, dessen Gebrauch bei Beobachtern wie Politikern in jüngerer Vergangenheit rapide zugenommen hat. Der Liberalismus, heißt es, brauche ein neues „Narrativ“ gegenüber dem Populismus, Europa ein neues gegenüber den Anti-Europäern, der Westen gegenüber Putin.
Der Begriff „Narrativ“ stammt aus der Literaturtheorie. Über den postmodernen französischen Theoretiker Jean-François Lyotard, der Ende der Siebzigerjahre das „Ende der großen Erzählungen“ diagnostizierte, gelangte er in den politischen Diskurs. Gemeint ist im Großen dasselbe wie bei Kahneman und Tversky im psychologischen Kleinen: Die Fakten allein bedeuten nicht viel. Entscheidend ist, welche Geschichte mit ihnen erzählt wird. Oder in den Worten Barack Obamas vergangene Woche in einem Interview mit der New York Times, das die SZ nachdruckte: „Ich denke, eine der wesentlichen Aufgaben politischer Führer ist es, die bessere Geschichte davon zu erzählen, was uns Menschen zusammenhält. Was Amerika so einzigartig macht, ist die Fähigkeit, so viele disparate Elemente vereinen zu können.“ Auf die bessere Geschichte kommt es an.
Das ist schön und gut und auch natürlich überhaupt nicht falsch. Angesichts der Tatsache jedoch, dass sich die Gegensätze in den USA unter dem hoch talentierten Erzähler Obama eher verschärft haben, klingt es auch etwas schal. Vor allem aber zeigt es auch den problematischen Kern liberaler Politik. Überzeugende liberale, also im weitesten Sinne antipopulistische Politik kann nicht dem Gegner einen zweifelhaften Umgang mit Fakten vorwerfen, sich gleichzeitig selbst aber offen das Recht zugestehen, sie so zu erzählen, wie sie sie eben braucht.
Donald Trumps Inaugurationsrede am vergangenen Freitag machte in diesem Zusammenhang noch einmal erschreckend deutlich, wie groß die Herausforderung für die antipopulistische Politik ist. Im Grunde war die Rede ein einziger Angriff auf die paternalistische Seite der etablierten liberalen Politik, ja sogar gegen die berühmten Worte John F. Kennedys, nach denen man sich nicht fragen solle, „was das Land für dich tun kann, sondern was du für das Land tun kannst“. Vor allem aus der Sicht derer, die sich abgehängt fühlen, obwohl sie sich als Mehrheit sehen, kann der Kennedy-Satz mit einigen guten Gründen auch heißen: „Mach einfach weiter, stell bloß keine Ansprüche.“
Was der Populismus für die Verhaltensökonomie bedeutet, in die das Buch von Michael Lewis so glänzend einführt, wird sich übrigens bald sehr konkret zeigen. Obama etablierte 2009 im Weißen Haus ein Büro für Informations- und Regulierungsangelegenheiten, das mithilfe der Verhaltensökonomie Vorschläge für bessere Politik erarbeiten sollte. Die Leitung übernahm bis 2015 der Kahneman/Tversky-Schüler Cass Sunstein. Nun erbt Trump das Büro. Was er damit vorhat, ist noch vollkommen unklar. Sicher scheint vorerst nur zu sein, dass der skrupulösen Wahrheitssuche und strengen Trennung von Fakten und Interpretationen im Stile Kahnemans und Tverskys vorerst nicht seine erste Sorge gilt. Umso wichtiger wird es sein, dass genau dies die liberale Seite versucht. Auch wenn es mühsam sein wird – und man auf manche gute Geschichte verzichten muss.
Es ist die Geschichte einer
Freundschaft – und der Abschied
von vielen Denkfehlern
Wir entscheiden rational? Na ja,
da wäre noch das Bedürfnis
nach einem „Narrativ“
Den anderen wirft man vor, die
Fakten zu verbiegen – und geht
selbst paternalistisch damit um
Der John Lennon und der Paul McCartney der Sozialwissenschaft:
Amos Tversky (links) und Daniel Kahneman stoßen in den Siebzigerjahren
auf ihre Zusammenarbeit an. Foto: Barbara Tversky
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Erzählung
Das neue Buch des amerikanischen
Autors Michael Lewis handelt von zwei
genialen Psychologen. Und es erklärt,
wie beeinflussbar der Mensch
in der Demokratie ist
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Manchmal verändert ein Buch den Blick auf die Verhältnisse – und manchmal verändern die Verhältnisse den Blick auf ein Buch. „Aus der Welt: Grenzen der Entscheidung oder Eine Freundschaft, die unser Denken verändert hat“ von dem amerikanischen Sachbuch-Autor Michael Lewis ist der seltene Fall, auf den beides zutrifft. Was für ein Glücksfall in diesen Tagen.
Die aktuellen Erfolge der Populisten gehen ja oft mit hanebüchenen Lügen einher, leider ist der liberale Zorn darüber jedoch aus zwei Gründen eine zutiefst ambivalente Angelegenheit. Der nicht so interessante Grund ist natürlich, dass auch auf der liberalen Seite glatte Lügen keine Seltenheit sind. Der wichtigere Grund ist, dass schon die Deutung, also die ideologische Lackierung von unstrittigen Fakten, auch auf der liberalen Seite nicht so unschuldig ist, wie man sich das wünschen würde. Das Buch „Aus der Welt“ handelt im größtmöglichen Kontrast dazu von der skrupulösen Suche nach Fakten und Wahrheit und – fein säuberlich getrennt – von ihren Interpretationen. Man blickt nach der Lektüre anders auf den Populismus, als liberaler Demokrat vor allem aber auch anders auf seine eigenen Überzeugungen.
Lewis’ Buch, im Campus Verlag erschienen (aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Sebastian Vogel, 359 Seiten, 24,95 Euro, E-Book 20,99 Euro), erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen den beiden Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky, zwei ziemlich unterschiedlichen, auf je eigene Art genialen israelischen Wissenschaftlern. Kahneman erhielt – sechs Jahre nach dem Tod Tverskys – für die gemeinsamen Erkenntnisse, die das Denken über menschliche Entscheidungen für immer verändert haben, 2002 den Wirtschaftsnobelpreis. Sein 2011 erschienenes, fabelhaftes Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“, in dem er ihre Arbeit für ein breiteres Publikum aufgeschrieben hat, ist ein Bestseller. Der Mensch, so die Quintessenz der gemeinsamen Forschungen, entscheidet nicht so rational, wie insbesondere die Wirtschaftswissenschaft lange glaubte.
Kahneman und Tversky legten die Grundlage für das, was man heute Verhaltensökonomie nennt. Sie fanden heraus, was der Mensch oft wirklich tut, wenn er glaubt, er handele vernünftig: Er handelt in hohem Maße irrational. „Aus der Welt“ schafften sie so mit cleveren sozialen Experimenten, von denen viele im Buch anschaulich beschrieben werden, den Glauben an die prinzipielle Rationalität menschlichen Handelns. Sie entdeckten zum Beispiel den „Ankereffekt“. Dafür sollten die Versuchsteilnehmer an einem Glücksrad mit den Zahlen 1 bis 100 drehen. Danach sollten sie die Zahl afrikanischer Staaten in den Vereinten Nationen schätzen. Die Schätzung fiel umso höher aus, je höher die zuvor gedrehte Glücksradzahl war – obwohl das Glücksrad mit der Schätzfrage rein gar nichts zu tun hatte.
Wie es dazu kam, ist ein spannendes Kapitel Wissenschaftsgeschichte. So hoch hängt es Michael Lewis aber dankenswerterweise erst einmal gar nicht. Er beginnt lieber mit einer eigenen kleinen Erleuchtung: In seinem 2003 erschienenen Bestseller „Moneyball“ erzählte er die Geschichte des findigen amerikanischen Baseball-Managers Billy Beane. Der hatte ein zweitklassiges Profi-Team zu einer Spitzenmannschaft gemacht, indem er sich nicht mehr auf die Einschätzungen von erfahrenen Baseball-Experten verließ, sondern mit neuen Statistiken effektivere Spielerbewertungskriterien entdeckte.
Von diesem Buch, so Lewis, sei ihm selbst später vor allem die eine Kritik im Kopf geblieben, die darauf hingewiesen habe, dass die psychologischen Hintergründe für die Denkfehler der erfahrenen Baseball-Experten schon vor Jahren von zwei israelischen Forschern beschrieben worden seien: eben von Daniel Kahneman und Amos Tversky, die ihre Schüler Cass Sunstein und Richard Thaler im New Yorker kürzlich als „Lennon und McCartney der Sozialwissenschaft“ bezeichneten.
Danach geht es bei den Hauptdarstellern und so manchen Schülern, Helfern und Gegnern ähnlich anekdotisch weiter. Bei schwächeren Erzählern hätte das leicht zu allerlei allzu braven biografischen Oberflächlichkeiten geführt. Aber wie schon bei seinem 1989 veröffentlichten Debüt „Liar’s Poker“ über den Wall-Street-Wahnsinn der Achtzigerjahre oder bei dem unlängst verfilmten Buch „The Big Short“ (2010) über die unvorstellbare Habgier und Verantwortungslosigkeit von Hedgefonds-Managern oder bei „Flash Boys“ (2014) über den Wahnsinn des Hochfrequenz-Börsenhandels ist Michael Lewis eben gerade nicht bloß an den Menschen hinter den Ereignissen interessiert. Ihn interessiert, wie die Ideen mit den Menschen, die sie entwickeln, zusammenhängen. Und das, was passieren muss, damit sie zusammenkommen können.
Einzelne Kapitel werden so zu Abenteuergeschichten eigenen Rechts. Gleich am Anfang etwa, wenn Lewis die frühen Jahre Kahnemans erzählt, der anders als Tversky ein notorischer Pessimist war, der vorsichtshalber immer das Schlimmste befürchtete. Kahneman war Kind französischer Juden. Sein Vater arbeitete als angesehener Chemiker für L’Oréal in Paris. Als der Zweite Weltkrieg begann, rettete der Firmenchef, der sonst mit den Nazis kollaborierte, Kahnemans Vater zwar vor den Nazis, die Familie flüchtete dennoch bald aus Paris und verbrachte die nächsten Jahre in der ständigen Angst, entdeckt zu werden. „In meiner gesamten Kindheit wie ein Hase gejagt worden zu sein“, so Kahneman, habe ihn einen ausgeprägten Überlebensinstinkt entwickeln lassen und eine ständige Furcht vor dem Schlimmsten. Beides sollte sich in der Zusammenarbeit mit dem drei Jahre jüngeren, ungleich optimistischeren und selbstgewisseren geborenen Israeli Tversky noch als äußerst fruchtbar erweisen. Eine gute Weile jedenfalls.
Irgendwann ist die Unterschiedlichkeit, wie bei so vielen großen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen, auch der Grund für das schmerzhafte Ende. Aber da hatten die beiden, im Grunde mit gerade einmal acht kurzen Aufsätzen, die sie allesamt in den Siebzigerjahren gemeinsam an einer Schreibmaschine sitzend geschrieben hatten, eine ganze wissenschaftliche Disziplin revolutioniert. Nicht ohne zwischendurch noch am Tag des Ausbruchs des Jom-Kippur-Krieges 1973 von den USA nach Israel zu fliegen, um sich zum Kriegsdienst zu melden. Sie landeten im „psychologischen Frontdienst“, für den Daniel Kahneman in den Fünfzigern schon neue Auswahlsysteme entwickelt hatte.
Dieser Abschnitt ergeht sich dann jedoch zum Glück nicht in Kriegsszenen, der Ideen-Detektiv Michael Lewis versucht dem Leser lieber tatsächlich einen Eindruck davon zu vermitteln, worin ihre Arbeit als Militärpsychologen bestand und auf welche Gedanken sie die Forscher brachte: „Amos war vielleicht der praktisch Begabte, aber Daniel verfügte mehr als er über das Talent, Lösungen für Probleme zu finden, wo anderen noch nicht einmal aufgefallen war, dass ein Problem der Lösung harrte.“ Als sie einmal in Richtung Front gefahren seien, habe Daniel Kahneman am Straßenrand riesige Abfallhaufen bemerkt, die Überreste von Dosengerichten, die von der amerikanischen Armee geliefert worden waren: „Er untersuchte, was die Soldaten gegessen und was sie weggeworfen hatten. (Am liebsten mochten sie Grapefruitkonserven.) Später machte er Schlagzeilen mit der Empfehlung, die israelische Armee solle den Müll analysieren und die Soldaten mit dem versorgen, was sie wirklich mochten.“
Was allerdings ist nun daran das Unschmeichelhafte für das Selbstverständnis der liberal-demokratischen Republik und ihrer Freunde? Es versteckt sich in einer der zentralen Erkenntnisse von Kahneman und Tversky. Sie besagt, dass man menschliches Verhalten nur versteht, wenn man versteht, dass Menschen keine intuitiven Statistiker sind. Im Gegenteil: Menschen brauchen Geschichten. Sie werden massiv davon beeinflusst, wie eine Entscheidung präsentiert wird. Man nehme das berühmte Kahneman/Tversky-Experiment, in dem ein Mensch ein Programm zur Bekämpfung einer tödlichen Epidemie auswählen soll. Ob er sich für die Variante entscheidet, bei der 400 von 600 Menschen sterben, hängt allein davon ab, ob das Programm als Gewinn oder Verlust formuliert ist. Die Fakten spielen keine Rolle. Kann er sich dafür entscheiden, dass entweder 600 Menschen mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit sterben oder 200 Menschen sicher gerettet werden, wird er die 200 Menschen retten. Betont die Formulierung den Verlust und lautet „Wenn Programm XY umgesetzt wird, sterben sicher 400 Menschen“, geht er absurderweise lieber das Risiko ein, dass alle 600 Menschen sterben müssen.
Als politische Taktik produktiv gemacht, steht diese Erkenntnis auch hinter der Diskussion darüber, auf welche selbstverschuldeten Probleme des Liberalismus die Erfolge des Populismus hinweisen. Das Zauberwort der Debatte lautet „Narrativ“, dessen Gebrauch bei Beobachtern wie Politikern in jüngerer Vergangenheit rapide zugenommen hat. Der Liberalismus, heißt es, brauche ein neues „Narrativ“ gegenüber dem Populismus, Europa ein neues gegenüber den Anti-Europäern, der Westen gegenüber Putin.
Der Begriff „Narrativ“ stammt aus der Literaturtheorie. Über den postmodernen französischen Theoretiker Jean-François Lyotard, der Ende der Siebzigerjahre das „Ende der großen Erzählungen“ diagnostizierte, gelangte er in den politischen Diskurs. Gemeint ist im Großen dasselbe wie bei Kahneman und Tversky im psychologischen Kleinen: Die Fakten allein bedeuten nicht viel. Entscheidend ist, welche Geschichte mit ihnen erzählt wird. Oder in den Worten Barack Obamas vergangene Woche in einem Interview mit der New York Times, das die SZ nachdruckte: „Ich denke, eine der wesentlichen Aufgaben politischer Führer ist es, die bessere Geschichte davon zu erzählen, was uns Menschen zusammenhält. Was Amerika so einzigartig macht, ist die Fähigkeit, so viele disparate Elemente vereinen zu können.“ Auf die bessere Geschichte kommt es an.
Das ist schön und gut und auch natürlich überhaupt nicht falsch. Angesichts der Tatsache jedoch, dass sich die Gegensätze in den USA unter dem hoch talentierten Erzähler Obama eher verschärft haben, klingt es auch etwas schal. Vor allem aber zeigt es auch den problematischen Kern liberaler Politik. Überzeugende liberale, also im weitesten Sinne antipopulistische Politik kann nicht dem Gegner einen zweifelhaften Umgang mit Fakten vorwerfen, sich gleichzeitig selbst aber offen das Recht zugestehen, sie so zu erzählen, wie sie sie eben braucht.
Donald Trumps Inaugurationsrede am vergangenen Freitag machte in diesem Zusammenhang noch einmal erschreckend deutlich, wie groß die Herausforderung für die antipopulistische Politik ist. Im Grunde war die Rede ein einziger Angriff auf die paternalistische Seite der etablierten liberalen Politik, ja sogar gegen die berühmten Worte John F. Kennedys, nach denen man sich nicht fragen solle, „was das Land für dich tun kann, sondern was du für das Land tun kannst“. Vor allem aus der Sicht derer, die sich abgehängt fühlen, obwohl sie sich als Mehrheit sehen, kann der Kennedy-Satz mit einigen guten Gründen auch heißen: „Mach einfach weiter, stell bloß keine Ansprüche.“
Was der Populismus für die Verhaltensökonomie bedeutet, in die das Buch von Michael Lewis so glänzend einführt, wird sich übrigens bald sehr konkret zeigen. Obama etablierte 2009 im Weißen Haus ein Büro für Informations- und Regulierungsangelegenheiten, das mithilfe der Verhaltensökonomie Vorschläge für bessere Politik erarbeiten sollte. Die Leitung übernahm bis 2015 der Kahneman/Tversky-Schüler Cass Sunstein. Nun erbt Trump das Büro. Was er damit vorhat, ist noch vollkommen unklar. Sicher scheint vorerst nur zu sein, dass der skrupulösen Wahrheitssuche und strengen Trennung von Fakten und Interpretationen im Stile Kahnemans und Tverskys vorerst nicht seine erste Sorge gilt. Umso wichtiger wird es sein, dass genau dies die liberale Seite versucht. Auch wenn es mühsam sein wird – und man auf manche gute Geschichte verzichten muss.
Es ist die Geschichte einer
Freundschaft – und der Abschied
von vielen Denkfehlern
Wir entscheiden rational? Na ja,
da wäre noch das Bedürfnis
nach einem „Narrativ“
Den anderen wirft man vor, die
Fakten zu verbiegen – und geht
selbst paternalistisch damit um
Der John Lennon und der Paul McCartney der Sozialwissenschaft:
Amos Tversky (links) und Daniel Kahneman stoßen in den Siebzigerjahren
auf ihre Zusammenarbeit an. Foto: Barbara Tversky
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»Die verblüffenden Erkenntnisse zweier berühmter Verhaltensökonomen: Hier werden sie packend und verständlich erzählt.«, DIE ZEIT, 16.03.2017»Manchmal verändert ein Buch den Blick auf die Verhältnisse - und manchmal verändern die Verhältnisse den Blick auf ein Buch. 'Aus der Welt: Grenzen der Entscheidung oder Eine Freundschaft, die unser Denken verändert hat' von dem amerikanischen Sachbuchautor Michael Lewis ist der seltene Fall, auf den beides zutrifft. Was für ein Glücksfall in diesen Tagen.« Jens-Christian Rabe, Süddeutsche Zeitung, 26.01.2017»Michael Lewis erzählt die Geschichte [von Daniel Kahneman und Amos Tversky] plastisch und mit dem Flair einer Reportage. [...] Am Ende bedauert man, dass 'Aus der Welt' nicht noch länger ausgefallen ist.« Alexander Kluy, Psychologie Heute, 12.04.2017"Michael Lewis ist ein Meister darin, abstrakte Geschehnisse in süffige Narrative zu gießen. So beeinflusst er nachhaltig das Bild, das die Gesellschaft von jenen Themen hat, die er sich in seinen Werken vornimmt." Christian Rickens, Handelsblatt, 13.01.2017»Michael Lewis ist ein eindrückliches Buch gelungen, informativ und kurzweilig, teils wie eine Dokumentation, teils wie eine Erzählung geschrieben. (...) eine faszinierende Geschichte.« Alexander Armbruster, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.2017»Lewis in Bestform. [...] Wie er die Geschichten der Hirnforscher Daniel Kahnemann und Amos Tversky erzählt, ist ein Genuss und handwerklich unschlagbar.«, Handelsblatt Online, 23.03.2017»Michael Lewis entspinnt entlang zweier filmreifer Figuren eine fesselnde Geschichte über menschliches Denken. Ein lesenswertes, gut geschriebenes Buch, das auf eine neue Disziplin und eine große Kontroverse mit politischen Folgen aufmerksam macht.« Gert Scobel, 3Sat Scobel, 30.03.2017»Genial hoch zwei«, Gehirn und Geist, 05.05.2017»Ob er irgendwann mal einen Flop landet? Es sieht nicht unbedingt danach aus. [...] Kein Sachbuchautor weltweit war in den vergangenen Jahren so erfolgreich wie Lewis.« Malte Buhse, Wirtschaftwoche, 06.01.2017"Michael Lewis (...) kann ohne jeden Zweifel aus der tristen Welt der Ökonomie unfassbare Geschichten erschaffen." Stefan Schmitz, Stern, 12.01.2017»Ein lesenswertes Denkmal für zwei herausragende Wissenschaftler.« Daniel Stelter, Manager Magazin, 16.12.2016»Michael Lewis gelingt in seinem Buch über die beiden Forscher ein Spagat: Detailliert rekonstruiert er ihre wissenschaftliche Erfolgsgeschichte und bleibt dabei trotz vieler Formeln immer verständlich. Gleichzeitig fühlt er sich behutsam ein in eine große Freundschaft zwischen zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.« Jakob Simmank, ZEIT Wissen, 21.02.2017