Finger gebraucht? Zum "Mutter sein, kochen, lieben, backen, Kinder versorgen, braten, heilen, waschen, bügeln, schrubben". Manchmal, heißt es dann, "wünschte sie, sie hätte an jeder Hand sechs Finger, so daß sie zwei für sich behalten könnte".
Als Edwidge Danticat, die 1969 in Port-au-Prince zur Welt kam, ein Kind war, emigrierten ihre Eltern nach New York. Mit ihrem Bruder blieb sie in Haiti zurück und wuchs bei Onkel und Tante auf. Mit zwölf Jahren folgte sie dann den Eltern nach Brooklyn, begann schon als Schülerin zu schreiben und avancierte rasch zu einem Star der "postkolonialen" Literatur. Ähnlichkeiten mit der Romanhandlung sind unübersehbar. Darin wird nämlich erzählt, was zwischen Brooklyn und Haiti weiter mit Sophie Caco geschah. Die wird allerdings keine Schriftstellerin, ihr Traumberuf heißt dactylo, Sekretärin. Außerdem gibt es im Roman statt der Eltern nur eine Mutter; und es gibt eine Tante, aber keinen Onkel. Danticats matrilineare Erzählweise hat dem haitianischen Mann schlicht den Garaus gemacht.
Im ländlichen Haiti verlebt Sophie Caco mit Grandmé Ifé und der sanft-verrückten Tante Atie eine glückliche Kindheit. Aus den Vereinigten Staaten schickt Martine, Sophies Mutter, Geld zur Unterstützung der Familie. Als Sophie zwölf Jahre alt wird, leistet sie dem Wunsch der Mutter Folge und kommt zu ihr nach Brooklyn. Dort zählen Haitianer neben Heroinabhängigen, Hämophilen und Homosexuellen zu den "vier Hs", die sich üblicherweise mit Aids infizieren. Schlechter noch als die kulturelle Fremde verkraftet Sophie das sogenannte Eigene. Die Mutter, magersüchtig und sittenstreng, wird von quälenden Erinnerungen an den Mann - Sophies Vater - heimgesucht, der sie als Sechzehnjährige brutal vergewaltigte.
Weil haitianische Männer darauf bestehen, daß ihre Frauen Jungfrauen sind, werden haitianische Mädchen von ihren Müttern auf ihre Jungfräulichkeit "getestet". Auch Sophies Mutter zählt es zu ihren Pflichten, dafür zu sorgen, daß die Tochter bis zum Hochzeitstag "rein bleibt". Sophie ist achtzehn, und Joseph, ein Saxophonist aus Louisiana, bemüht sich heftig um sie. Eines Tages setzt Sophie den mütterlichen Tests ein Ende und entjungfert sich auf grausame Weise selbst. Noch am selben Abend packt sie ihre Koffer, klopft an Josephs Tür und verlangt den sofortigen Vollzug der Ehe. Doch Sophies scheinbare Befreiung mündet in Phobien und Verzweiflung, in die Unterwerfung unter die "Mutterlinie", wie es Sophies Therapeutin, selbst eine Frau aus Hispaniola, nennt. Sie meint damit den Umstand, daß in Haiti "die Frauen ihre Alpträume durch Generationen weitergeben wie Erbstücke". Die Therapeutin rät Sophie und ihrer Mutter, noch einmal nach Haiti zurückzukehren, um in einer "Konfrontationstherapie" die Geister zu bannen. Also fährt Sophie mit ihrer kleinen Tochter für eine Weile heim zu Tante Atie und zu ihrer Großmutter, um sich mit Hilfe weiser Frauen aus ihren Albträumen zu befreien. Für Sophies Mutter kommt die Befreiung zu spät, der Tochter aber weist sie den Weg voraus in ein neues Leben mit ihrer Familie, ausgerechnet in Providence.
Man tut Edwidge Danticats Roman wohl nicht unrecht, wenn man ihn als einen feministischen, ethno-psychiatrischen Verständigungstext bezeichnet. Nach Absicht und Wirkung geht das Buch über solche Nutzanwendung allerdings hinaus. In Haiti seien die Dinge selbst schon eine Geschichte, mindestens aber eine Metapher oder ein Sprichwort, sagt die Autorin einmal. Das Poetische geht bei Danticat ohne viel Zutun aus den wunderlichen Tatsachen der haitianischen Vaudou-Kultur selbst hervor. Etwa in der Legende von den zwei Körpern des Präsidenten: teils, so heißt es, sind sie Fleisch und teils Schatten. "Nur so", erzählt Edwidge Danticat, "konnten sie so viele Menschen ermorden und vergewaltigen und dann nach Hause gehen, mit ihren Kindern spielen und mit ihren Frauen schlafen." CHRISTOPH BARTMANN
Edwidge Danticat: "Atem, Augen, Erinnerungen". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Friederike Jünemann. Marion von Schröder Verlag, Düsseldorf 1996. 261 S., geb., 36,- DM.
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