historischer Frage- und Erklärungsmuster bewusst geblieben ist - und dass er zugleich an der Überzeugung festgehalten hat, dass dieser Ansatz noch immer ertragreich sein kann.
Das zeigt die nun publizierte Darstellung über "Arbeiterleben und Arbeiterkultur". Kockas Hartnäckigkeit geht schon aus dem Umstand hervor, dass das Buch als Band 3 der "Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts" die beiden Bände 1 und 2 der Reihe ergänzt, die er ebenfalls vorgelegt hat - und zwar bereits 1990. Und es mutet auf den ersten Blick beinahe schon ein wenig trotzig an, dass er im Untertitel am Begriff der Klasse festhält, der auch im Titel der beiden ersten Bände auftauchte ("Weder Stand noch Klasse" und "Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert").
Seitdem gerade im Jahr des Erscheinens der beiden ersten Bände die DDR endgültig bankrottging und verschwand, ist mit dem vorgeblichen "Arbeiter- und Bauernstaat" auch dessen Vokabular aus dem Bewusstsein der Mehrheit der Mitlebenden geschwunden. "Klasse" als Bezeichnung einer gesellschaftlichen Gruppe erscheint den meisten heute wohl fremd. Dennoch vermag Kocka in der Einleitung schlüssig zu begründen, dass der Klassenbegriff gerade zur Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen im frühen und mittleren 19. Jahrhundert nach wie vor handhabbar ist. Und zwar in Anlehnung an Überlegungen von Marx, Engels und insbesondere von Max Weber, allerdings dezidiert "ideologisch entschlackt" und "ohne alle geschichtsphilosophisch-teleologischen Ansprüche à la Marx".
Die begriffliche und theoretische Grundlage des neuesten Bandes wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Reihe in den 1970er Jahren auch als Gegenentwurf zur umfänglichen "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" konzipiert wurde, welche die SED-gesteuerte, strikt ideologiegebundene DDR-Geschichtswissenschaft 1966 vorgelegt hatte. Kockas Band stellt eine beeindruckende Tiefenbohrung dar und profitiert von 34 eigenen Veröffentlichungen zum 19. Jahrhundert, die im Literaturverzeichnis aufgelistet sind. Die Einleitung bietet einen knappen Abriss über (sozial-)geschichtliche Forschungskonjunkturen bis zur Gegenwart. Kocka knüpft damit nicht einfach an ein 40 Jahre altes Konzept an, sondern lässt inzwischen erarbeitete Kenntnisse (etwa zur damals nahezu unbekannten Arbeitergeschichte im außereuropäischen Raum) einfließen.
Vor dem Leser entfaltet sich ein breites Panorama der Lebenswelt der deutschen Arbeiterbevölkerung zwischen etwa 1830 und 1870/71. Geographischer Bezugsrahmen ist das Gebiet des späteren Deutschen Reiches. Wie in einem sozialgeschichtlichen Werk nicht anders zu erwarten, arbeitet der Berliner Historiker immer wieder mit statistischen Daten, die des Öfteren auch in Form von Tabellen präsentiert werden. Dennoch gerät das ganze Unternehmen nicht zu einem trockenen Zahlenreigen, denn Kocka hat neben den vorhandenen Statistiken auch eine Fülle anderer Quellen kritisch befragt, etwa autobiographische Texte von Arbeiterinnen und Arbeitern, zeitgenössische Publizistik unterschiedlicher Provenienz bis hin zu "Sozialromanen", die zumeist von Autoren bürgerlicher Herkunft stammten. So entsteht ein erstaunlich lebendiges, kontrast- und facettenreiches Bild von Selbst- und Fremdwahrnehmung der entstehenden "Arbeiterklasse".
Dass diese im Betrachtungszeitraum ganz und gar nicht auf einen Nenner zu bringen ist, sondern vielmehr in sich vielfach fragmentiert war, dass Unterschiede in Geschlecht, Konfession, regionaler Herkunft, beruflicher Ausbildung und manchem anderen Faktor nicht einfach verschwanden, sondern für ein zwischen Traditionsgebundenheit und Anpassungen an die Erfordernisse der neuartigen, sich aber eben auch erst herausbildenden industriellen Arbeitswelt oszillierendes Bild sorgten, ist eine der Grundaussagen des Buches. Diese wird mit einer gewaltigen Fülle an Sachwissen untermauert und illustriert.
Eine der Stärken der Studie liegt auch in zahlreichen Anknüpfungspunkten an gegenwärtige Diskussionen, etwa da, wo Kocka unterschiedliche Definitionsmodelle für Armut vorstellt, die naturgemäß unterschiedliche Antworten auf die Frage bedingen, wer "arm" ist. Oder da, wo er aufzeigt, dass Leitvorstellungen von "Familie", wie sollte es auch anders sein, historisch variabel sind. Er entwickelt ein differenziertes Bild der Voraussetzungen und Folgen des vielfältigen Migrationsgeschehens im vorletzten Jahrhundert und zeigt das komplexe Wechselverhältnis von räumlicher und sozialer Mobilität auf. Kocka macht ferner deutlich, dass vermeintliche Erfolgsgeschichten des 19. Jahrhunderts (Ausbreitung von Elementarbildung in der Gesamt- und damit auch der Arbeiterbevölkerung) und vermeintliche Abstiegserzählungen (Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen) zwar nicht grundlegend falsch sind, näher betrachtet aber ein kompliziertes Geflecht an Bewegungen in zumindest zeitweilig unterschiedliche Richtungen aufweisen.
Es ließe sich noch manches mehr anführen, was das Buch - seinem relativ engen chronologischen Betrachtungsrahmen zum Trotz - zu einer in vieler Beziehung erhellenden Lektüre macht. Es handelt sich aber auch um ein anspruchsvolles Werk, denn Kocka verlangt dem Leser durchweg die Bereitschaft ab, sich darauf einzulassen, dass auf über 400 Textseiten eines nirgendwo gegeben wird, nämlich einfache Antworten. Differenzierung ist vielmehr das verfolgte Grundprinzip. Ob man dies nun als Erfüllung der "emanzipatorischen Aufgabe" betrachten möchte oder nicht, dieser bemerkenswerte Spätling leistet, was Geschichtswissenschaft im besten Sinne zu leisten vermag: Sie schafft anhand des mehrdimensional betrachteten historischen Exempels Misstrauen gegen jedwede kurzschlüssige Vereinfachung auch in der Gegenwart.
WINFRID HALDER
Jürgen Kocka: Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse. Unter Mitarbeit von Jürgen Schmidt (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Band 3). J.H.W. Dietz Verlag, Bonn 2015. 509 S., 68,- [Euro].
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