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So hat lange niemand mehr erzählt - Eva Menasses Familiensaga fängt von Wien aus ein ganzes Jahrhundert ein - von der Vergangenheit bleibt nur, was erzählt wird.
Eva Menasse macht das Erinnern zum Ausgangspunkt des Erzählens und entwirft mit den fulminanten Geschichten einer Wiener Familie mit jüdischen Wurzeln den Bilderreigen einer Epoche. "Mein Vater war eine Sturzgeburt": Kopfüber, wie die Hauptfigur, fällt der Leser in diesen Roman und erlebt, wie die Großmutter über ihrer Bridge-Partie beinahe die Geburt versäumt. So kommt der Vater der Erzählerin zu Hause zur Welt, ruiniert dabei den…mehr

Produktbeschreibung
So hat lange niemand mehr erzählt - Eva Menasses Familiensaga fängt von Wien aus ein ganzes Jahrhundert ein - von der Vergangenheit bleibt nur, was erzählt wird.

Eva Menasse macht das Erinnern zum Ausgangspunkt des Erzählens und entwirft mit den fulminanten Geschichten einer Wiener Familie mit jüdischen Wurzeln den Bilderreigen einer Epoche.
"Mein Vater war eine Sturzgeburt": Kopfüber, wie die Hauptfigur, fällt der Leser in diesen Roman und erlebt, wie die Großmutter über ihrer Bridge-Partie beinahe die Geburt versäumt. So kommt der Vater der Erzählerin zu Hause zur Welt, ruiniert dabei den kostbaren Pelzmantel und verhilft der wortgewaltigen Familie zu einer ihrer beliebtesten Anekdoten. Hier, wo man permanent durcheinander redet und sich selten einig ist, gilt der am meisten, der am lustigsten erzählt. Fragen stellt man besser nicht, obwohl die ungewöhnliche Verbindung der Großeltern, eines Wiener Juden und einer mährischen Katholikin, im zwanzigsten Jahrhundert höchst schicksa
Autorenporträt
Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman 'Vienna'. Es folgten Romane und Erzählungen ('Lässliche Todsünden', 'Quasikristalle', 'Tiere für Fortgeschrittene'), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman 'Dunkelblum' war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Mäßig begeistert zeigt sich Ulrich Rüdenauer von Eva Menasses Wien- und Familienroman, der seines Erachtens an die Tradition jüdisch-humoristischer Literatur anknüpfen will. Nicht dass Menasse dieses Unterfangen gar nicht gelungen wäre, eher im Gegenteil; der locker-lakonisch-witzige Gestus sei so dominant, versichert Rüdenauer, dass sich bei ihm Ermüdungserscheinungen einstellten. "Die Pointendichte entspricht etwa dem Kabarettprogramm eines Stand up-Comedian", behauptet er und schreibt dies dem Einfluss des Tagesjournalismus zu, dem die Autorin als Broterwerb im täglichen Leben nachgeht. Anekdote um Anekdote webe Menasse die skurrile und abenteuerliche Geschichte ihrer Eltern und Großeltern zu einem Flickenteppich zusammen, so Rüdenauer und merkt boshaft an: aber "nach einem Perser soll's ausschauen". Er konstatiert eine gewisse Geschwätzigkeit, eine Sammelwut, hinter der er durchaus auch die Verzweifelung der Verfasserin spürt, die sich so redselig und pointenreich gegen das Verschwinden der Erinnerungen zur Wehr setze. Eine Intention, die in der Umsetzung scheitert, zumal die Ich-Erzählerin, wie Rüdenauer feststellt, seltsam konturlos bleibt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2005

Brave Tochter, schöner Schmäh
Aus dem Pointenkraftwerk der Familie: Eva Menasses vergnügliches Romandebüt „Vienna”
Wo das Erzählen in der Familie liegt, dürfte das Klima für Schriftstellerkarrieren günstiger sein als dort, wo man sich am Mittagstisch hartnäckig anschweigt. Wo gar „manisches Mythologisieren” als liebstes Gesellschaftsspiel betrieben wird, muss im Laufe einiger Generationen der Drang zum Hervorbringen von Geschichten sich als Grundbedürfnis, als natürliche Lebensäußerung im genetischen Code verankern. Diese Vorstellung bleibt zurück, wenn man sich Eva Menasses Romandebüt „Vienna” einverleibt hat wie eine luftige Mehlspeise mit dezent alkoholisiertem Kompott. Zwar ist dies keines der inflationären Erinnerungsbücher, angeblich nicht einmal ein Schlüsselroman, sondern zu guten Teilen kühne Fiktion. Gewiss aber wird die hier porträtierte Wiener Familie mit jüdischen Wurzeln jener Sippe nicht ganz unähnlich sein, aus der bereits einer der renommiertesten österreichischen Gegenwartsautoren hervorgegangen ist. Robert Menasses Halbschwester, die sich zuvor als Journalistin einen Namen gemacht hat, vermag jedenfalls mit Leichtigkeit den Eindruck zu erwecken, als sei das Fabulieren ihr erstens in die Wiege gelegt und zweitens im Stimmengewirr eines sprachmächtigen Clans zwanglos bis zur Buchreife trainiert worden.
Ohne Zweifel sind auch noch andere Lehrmeister im Spiel. Die Ouvertüre beispielsweise, beginnend mit dem Satz „Mein Vater war eine Sturzgeburt”, wirkt allzu perfekt, wie aus dem Musterbuch der effektvollsten Romananfänge, und am Ende schließt sich der Kreis in ebenso schulmäßiger Manier, denn das letzte Wort, gleich nach einer Beerdigung gesprochen, gehört der kichernden Großmutter und lautet: „Mein Sohn war eine Sturzgeburt!” Dazwischen wird in siebzehn Kapiteln ein Feuerwerk von Anekdoten und tragikomischen Begebenheiten abgebrannt, an dem Friedrich Torberg und andere Koryphäen jüdisch-humoristischer Erzählkunst unübersehbar mitgezündelt haben. Auch der alte Doderer guckt zuweilen um die Ecke. Von ganz eigener Art aber ist die Methode der Autorin, familienhistorische Recherche und phantasievolle Camouflage so zu verquirlen, dass die Grenze zwischen Wahrheit und Erfindung unsichtbar wird. Exzentrische Figuren, abenteuerliche Lebensläufe und skurrile Vorfälle werden mit einer gewissen Beiläufigkeit so geschildert, dass sie völlig realistisch erscheinen, während eher Alltägliches durch pointierte Darstellung den Reiz des Unglaubwürdigen gewinnt.
Fuchsi und Katzi
Nun sind unter all jenen, die sich an einem Familienroman versuchen, nur wenige in der glücklichen Lage, auf derart ergiebiges Material zurückgreifen zu können. Das belegbare Faktengerüst dieser Geschichte ist spektakulär genug: ein wienerisch-jüdischer Großvater, der seiner Ehefrau, einer sudetendeutschen Katholikin, das Überleben im Holocaust verdankt, ein Vater, der während der Nazizeit in England aufwächst und später als Fußballer zum Ruhme Österreichs kickt, ein Onkel, der mit der britischen Armee in Burma gegen die Japaner kämpft, ein berühmter Bruder schließlich, dessen halb verzweifelter, halb koketter Ausruf „Ich musste Intellektueller werden!” sicher nicht aus der Luft gegriffen ist.
Und dann natürlich Wien - ein Schauplatz, der Welthaltigkeit und unverwechselbares Lokalkolorit gleichermaßen garantiert. Wo man in Kaffeehäusern Bridge spielt, wo Frauen „Katzi” oder „Fuchsi” heißen, wo düstere, holzgetäfelte Lokale wie das hier geschilderte „Weißkopf” bis heute florieren und der Umgangston des „Keppelns”, des halblauten, mürrischen Schimpfens, jedem Touristen in den Ohren klingt, bedarf es nur eines professionellen Zugriffs, um aus dem genius loci saftig-farbige Lektüre zu machen. Dass Eva Menasse ihr Handwerk beherrscht, spürt man in jedem Satz, und ihre solide, durch den gehobenen Journalismus geprägte Erzähltechnik hebt sich von einem Großteil der weiblichen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wohltuend ab. Dafür muss man ein paar tiefe Blicke in die folkloristische Requisitenkiste Österreichs in Kauf nehmen: Offenbar ist der Autorin während ihrer Auslandsjahre nicht entgangen, wie sehr die Deutschen Hans Moser schätzen.
Es gibt da aber noch ein Anliegen, auf das der Roman hinsteuert und dessen literarische Vermittlung schwieriger zu sein scheint, als es die Schwelgerei in kauzigen Individuen, schlitzohrigen Dialogen und unerhörten Vorkommnissen zunächst vermuten lässt. Es betrifft einerseits die Suche nach Identität in einer prekären Herkunftsmischung, andererseits die schmerzliche Erfahrung, dass die obsessive Mythen- und Anekdotenpflege, die über lange Zeit den familiären Zusammenhalt gestiftet hat, weil sie „unser flüchtiges Zusammensein mit einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit verankerte”, am Ende nicht mehr tragfähig ist, ja sogar dazu beiträgt, dass die „verminte Familiengeschichte” explodiert und zerreißt.
Wie das vonstatten geht, schildert Eva Menasse in Gesprächsszenen, die nicht recht zu packen vermögen, weil die Personen, zwischen Kenntlichkeit und Verfremdung marionettenhaft schwebend, nun zu blutleer wirken, um eine anrührende Auseinandersetzung zu führen. Je näher die Historie an die Gegenwart heranrückt, je mehr erlebte Realität die Imagination ersetzt, desto problematischer wird das Erzählkonzept. Dieser Widerspruch mag die Autorin bewogen haben, ihre Ich-Figur weitgehend bedeckt zu halten und ängstlich alles zu vermeiden, was dieser Instanz über die Funktion des Erinnerns, Archivierens und Phantasierens hinaus eine Individualität, eine tragende Rolle im Roman - oder im Clan? - zuweisen könnte. „Früher, als ich noch ein Kind war und dieser wortgewaltigen Familie zuhörte”, heißt es an einer der wenigen bekenntnishaften Stellen, „hatte ich einen großen Wunsch: Ich wollte eine eigene Meinung. Der Wunsch hatte ungelogen diesen Wortlaut.”
In einem Werk, das ganz auf die Verschmelzung von Lüge und Wirklichkeit setzt, nimmt sich das „ungelogen” merkwürdig rührend aus. Es deutet darauf hin, dass das Aufwachsen in einem Wiener Geschichtenwald, unter dem Dauerbeschuss einer familiären Pointenkanone, nicht immer der reine Kaiserschmarrn ist. Und es enthält vielleicht die Erklärung dafür, warum dieses bravouröse Debüt keinerlei Anstalten macht, sich über das zu erheben, was man von einer braven Tochter erwartet.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
EVA MENASSE: Vienna. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 432 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2005

Frau Menasses Gespür für Schmäh
Der Roman "Vienna" handelt von einer jüdischen Familie im Wien des letzten Jahrhunderts und von lebensrettenden Anekdoten

Das ist doch mal ein Anfang: "Mein Vater war eine Sturzgeburt." So beginnt der erste Roman von Eva Menasse, der in diesen Tagen erscheint. Was für ein erster Satz. Da ist schon alles drin: die Rasanz, das Sich-Hineinstürzen ins Leben, eine gewisse Leichtfertigkeit jenes Vaters, der offensichtlich nicht vorhat, aus dem Vorgang der eigenen Geburt eine große Sache zu machen. Und der zu sagen scheint: Hier bin ich. Wo ist das Leben? Wo kann ich mich melden? Kann bitte die Geschichte meines Lebens jetzt und gleich beginnen?

Und sie beginnt, wie schon lange keine Geschichte einer deutschen Autorin mehr begonnen hat. Sofort sind wir mittendrin in einem Kaffeehaus in Wien, Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Gebärende ist keineswegs gewillt, ihre Partie Bridge wegen dieser lästigen Geburtssache zu beenden. Irgendwann muß es dann aber sein. Doch dann geht alles sehr schnell, die Hebamme kommt zu spät, der Mann, eben erst von seiner Geliebten gekommen, steht hilflos dabei, der Pelzmantel ist verdorben, sie haßt das Kind. Es ist ein Jammer. Und sie und ihr Mann reden und streiten und streiten, während der kleine, neue, blutige Mensch seinen Kopf aus dem Pelzmantel steckt, mit dem sich die Mutter schamvoll einhüllt. Denn das ist das über alle Streitigkeiten und Lebensunglücke hinaus verbindende Element der ganzen großen Familie, die die gut vierhundert Seiten des Romans bevölkert: quatschen, streiten, Anekdoten sammeln und Anekdoten weitergeben. Immer dieselben und immer wieder neue Geschichten aus einem scheinbar unendlichen Familiensagenschatz. "M M" nennt sich dies verbindende, zusammenschweißende Plaudergeheimnis im Kreise der Familie: "Manisches Mythologisieren". Und dabei ist es von zweitrangiger Bedeutung, wie wahr die Geschichten sind. Hauptsache, sie sind gut erzählt. Gute Regel, auch für einen Roman.

Halb Jude, halb nicht

Es ist die Geschichte einer halbjüdischen Familie im Wien des letzten Jahrhunderts. Und in diesem "halb" steckt der Kern der ganzen Geschichte. Der Kern der Erzählung. Der Großvater der Ich-Erzählerin ist Jude, die Großmutter sudetendeutsche Katholikin. Die drei Kinder sind . . . Tja. Spätestens ab 1938 ist das in Wien eine Frage des Überlebens. Auf jeden Fall werden die Kinder zur Sicherheit nach England verschickt. Die Eltern bleiben. Die Gesetze sagen, Juden in Mischehen seien geschützt. Doch die Gesetze können sich auch wieder ändern. Und je länger der Krieg dauert, desto unwichtiger werden Gesetze. Immer wieder hören die beiden von Deportationen auch von Mischehen-Juden. Am Anfang verläßt sie noch bei Fliegerangriffen die Wohnung, um sich in Bunkern in Sicherheit zu bringen. Er darf natürlich nicht und bleibt allein zurück. Irgendwann geht sie auch nicht mehr in die Bunker. Und im Roman steht nur der Satz: "Zu diesem Zeitpunkt waren meine Großeltern schon lange ganz allein auf der Welt." Was für ein trauriger, kleiner, großer Satz.

Das ist die Kunst der Erzählerin Eva Menasse. Das Schweigen im rechten Moment. Plötzlich ist eben einfach Schluß mit Anekdotenreigen. Der Tod der Mutter des Großvaters wird fast schon unterkühlt registriert. "Sie hat in Theresienstadt dann keine große Mühe mehr gemacht, denn sie überlebte die anstrengende Zugfahrt nur um einundzwanzig Tage." Zuvor, die Abfahrt des Zuges, ist eigentlich die dramatischste Szene, die man sich vorstellen kann. Ihr Sohn, der Großvater der Ich-Erzählerin, hat von ihrem Abtransport erfahren. Er eilt zum Bahnhof. Der Zug ist noch da. Aber wir erfahren nicht, ob er seine Mutter noch ein letztes Mal sieht. Nichts davon. Statt dessen eine Stimme, die ruft: "Kannst gleich mitfahren, Saujud!", und jemand stößt ihn hinein, in den Todeswaggon. Mit größter Mühe kommt er wieder heraus und bleibt auf dem Bahnsteig liegen. Der nächste Absatz beginnt dann damit, daß sich die Großeltern zu Kriegsende wieder stritten wie früher. Das ist natürlich eine gute Nachricht. Für "meine Großeltern", wie sie im Roman immer heißen.

"Mein Großvater", "meine Großmutter", "mein Vater", "mein Bruder". So heißen die namenlosen Protagonisten des Romans. Das wirft die Frage auf: Wer spricht? Ein rätselhaftes Ich, gleichfalls namenlos, ohne Eigenschaften, ohne Meinung, ein Alles-Beobachter, um den sich niemand zu kümmern scheint. Ein Rätsel. Eine Leerstelle. Wer?

Eva Menasse hat sich für unser Treffen den österreichischsten Ort Berlins ausgesucht. Das Café Einstein in der Kurfürstenstraße. "Weil es da immer einen Parkplatz gibt", sagt sie. Sentimentalität, sachlich begründet. Eva Menasse wurde 1970 in Wien geboren, sie begann als Journalistin für das österreichische Nachrichtenmagazin "Profil", wechselte dann zu den Berliner Seiten dieser Zeitung, für die sie später als Kulturkorrespondentin aus Wien berichtete. Als sie sich von dieser Aufgabe vor mehr als zwei Jahren beurlauben ließ, um an dem Roman zu schreiben, kam sie wieder nach Berlin. In Österreich herrscht schon seit Wochen große Aufregung um das Buch. Die Menasses sind hier eine berühmte Familie. Der Vater war zu Zeiten größten österreichischen Fußballruhms ein gefeierter Nationalspieler, der Bruder Robert ist ein berühmter Schriftsteller. Und jetzt schreibt also die "Tochter" und "kleine Schwester" einen Familienroman über einen "Vater", der umjubelter österreichischer Nationalspieler war, und über einen feinsinnigen, intellektuellen, berühmten Bruder. Helle Aufregung, "Profil" brachte auf sechs Seiten ein großes Familienalbum der Menasses, die Auslieferung des Buches wurde vorgezogen.

Zum Krieg nach Burma

Erzählt das Buch die Familiengeschichte der Menasses? Diese Frage stellt sich beim Lesen automatisch, auch wenn hier die Familie weniger bekannt ist. Gerade weil das Ich so eine merkwürdige Leerstelle ist. Viele äußere Daten und Fakten stimmen jedenfalls überein. Der jüdische Großvater und die katholische Großmutter, die die Nazi-Zeit in Wien überlebten; der Vater, der lange Jahre bei Pflegeeltern in England wohnte und dabei die deutsche Sprache verlernte; der Onkel, der, sieben Jahre älter als sein kleiner Bruder, unbedingt in die britische Armee wollte, um Österreich von den Nazis zu befreien, abgelehnt wurde und schließlich in Burma kämpfen mußte, noch lange Zeit nachdem der Krieg in Europa beendet war. Ja, das sind die Menasses, und das sind die Menasses natürlich nicht. Denn, auch wenn in der Familie der Autorin ebenso wie in der Romanfamilie der manische Anekdotenwettstreit zu jedem Familienzusammentreffen unbedingt dazugehörte - die entscheidenden Dinge wurden nie besprochen. Daß ihr Vater in England aufwuchs, erfuhr Eva Menasse erst, als sie zwanzig war. Und wenn sie die Großeltern fragte, wie das war, damals, zur Nazi-Zeit, wie sie überlebten, reagierten diese mit Schweigen. Nicht mal ein "Darüber möchte ich nicht reden" oder ein "Dazu sag ich nichts". Sie taten einfach, als hätten sie die Frage nicht gehört. Diese Fragen gab es nicht. Und so gab es auch keine Antworten.

Eva Menasse hat recherchiert, Gesetzeslage, Erlebnisberichte, hat Verwandte interviewt, Geschichten gesammelt, Zeitungen, Gerichtsberichte, und einen Roman geschrieben, der die eigene Familiengeschichte zum Ausgangspunkt hat und eine neue Geschichte ist. Eine andere Geschichte. Die dreißiger Jahre, die Nazi-Zeit, die Erlebnisse des Vaters in England, des Onkels in Burma, das Sterben der Tante in Kanada, das Überleben der Großeltern in Wien, all das ist nur der Anfang der Geschichte, die sich dann weiter, immer weiter schlängelt, ins Nachkriegsösterreich, das sich flugs zum Opferland erklärt, das von den Deutschen brutal besetzt und zum Mitmachen gezwungen worden sei, ein Land, in dem die wenigen zurückkehrenden Juden von ihren Hausmeistern mit einem lockeren "Ach, Sie sind wieder da, ich dacht', die hätten Sie vergast" begrüßt wurden. Bis in die Gegenwart hinein zieht sich dieses Gesellschaftspanorama in Anekdoten. Und manchmal wünscht man sich als Leser einen Thomas Bernhard herbei, der einmal sagte, wann immer er eine Geschichte am Horizont erblicke, schieße er sie ab. Eva Menasse schießt gar nichts ab. Sie wirft Anekdote auf Anekdote in die Luft und läßt sie selig flattern. Das ist manchmal etwas zuviel. Und man fragt sich, was sie umkreisen, die Geschichten.

Ich soll kein Jude sein?

Irgendwann fällt dieser Satz: "Eines Tages erschien mein Bruder mit sensationsheischendem Gesichtsausdruck und verkündete, daß wir gar keine Juden seien." Ein Satz, der alle Sicherheiten raubt. Der Vater erwidert nur: "Was soll das heißen?" Und dann: "Warum bin ich dann emigriert?" Die ganze Lebensgeschichte, all die Opfer, die man brachte, sollen umsonst gewesen sein? Es ist ja lächerlich einfach seit undenklichen Zeiten: Nur wenn die Mutter Jüdin ist, sind auch die Kinder automatisch Juden. Der Vater zählt in diesem Falle nicht. Diese späte Erkenntnis wirft das Familienleben um, den Lebensgeschichten ist der Boden entzogen, und zunächst wird das Anekdotenmäntelchen noch fester um den Körper gezurrt. Erzählen, um sich zu vergewissern. Daß die Wahrheit die war, die man kennt, daß alles logisch, lustig und erstaunlich, aber doch notwendig aufeinanderfolgte, daß nichts umsonst gewesen ist.

Eva Menasse sitzt im mintgrünen Pullover bei Toast und Apfelschorle in einem Wiener Kaffeehaus in Berlin und erzählt in diesem wundersamen, leicht gesungenen, geschwungenen Wiener Dialekt, im Gespräch hört man es kaum, wenn sie aus dem Roman vorliest, wird es stärker. Der ist in dieser Melodie geschrieben. Wenn sie sich selbst im Radio hört, erschrickt sie, sagt sie, vor dem eigenen Dialekt. Sie dachte, sie habe sich schon ganz naturalisiert, hier in Berlin. Das hat sie nicht.

Lange Jahre sei diese Familiengeschichte in ihrem Kopf gewesen, sagt sie. Sie habe es zunächst als kleines Dossier schreiben wollen. Ein paar Seiten, nur für die Familie als Leser. Doch die wahren Geschichten waren eben nicht zu erfahren. Und so mußte es eben darüber hinausgehen und Roman werden. Vor zehn Jahren entstanden die ersten Szenen.

Welche Rolle spielt das Judentum noch für sie? Ja, sie habe einmal darüber nachgedacht, zu konvertieren, aber nicht wirklich. Sie wischt es schnell weg, das Wort. Sie kenne aber viele in ihrer Generation, für die das wieder eine größere Bedeutung erhalte. Und die Geschichten von damals, die könne man erst jetzt richtig erzählen. Die erste Generation schwieg und baute auf, die zweite Generation kämpfte gegen die schweigenden Väter - erst die Enkel könnten die Geschichten wirklich schreiben. Die Enkel können von all dem erzählen.

Eva Menasse hat das getan. Genau zur richtigen Zeit.

VOLKER WEIDERMANN

Eva Menasse: "Vienna". Kiepenheuer und Witsch. 430 Seiten. 16,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»ein Ereignis« Martin Oehlen Kölner Stadt-Anzeiger 20181103
Brave Tochter, schöner Schmäh

Aus dem Pointenkraftwerk der Familie: Eva Menasses vergnügliches Romandebüt „Vienna”

Wo das Erzählen in der Familie liegt, dürfte das Klima für Schriftstellerkarrieren günstiger sein als dort, wo man sich am Mittagstisch hartnäckig anschweigt. Wo gar „manisches Mythologisieren” als liebstes Gesellschaftsspiel betrieben wird, muss im Laufe einiger Generationen der Drang zum Hervorbringen von Geschichten sich als Grundbedürfnis, als natürliche Lebensäußerung im genetischen Code verankern. Diese Vorstellung bleibt zurück, wenn man sich Eva Menasses Romandebüt „Vienna” einverleibt hat wie eine luftige Mehlspeise mit dezent alkoholisiertem Kompott. Zwar ist dies keines der inflationären Erinnerungsbücher, angeblich nicht einmal ein Schlüsselroman, sondern zu guten Teilen kühne Fiktion. Gewiss aber wird die hier porträtierte Wiener Familie mit jüdischen Wurzeln jener Sippe nicht ganz unähnlich sein, aus der bereits einer der renommiertesten österreichischen Gegenwartsautoren hervorgegangen ist. Robert Menasses Halbschwester, die sich zuvor als Journalistin einen Namen gemacht hat, vermag jedenfalls mit Leichtigkeit den Eindruck zu erwecken, als sei das Fabulieren ihr erstens in die Wiege gelegt und zweitens im Stimmengewirr eines sprachmächtigen Clans zwanglos bis zur Buchreife trainiert worden.

Ohne Zweifel sind auch noch andere Lehrmeister im Spiel. Die Ouvertüre beispielsweise, beginnend mit dem Satz „Mein Vater war eine Sturzgeburt”, wirkt allzu perfekt, wie aus dem Musterbuch der effektvollsten Romananfänge, und am Ende schließt sich der Kreis in ebenso schulmäßiger Manier, denn das letzte Wort, gleich nach einer Beerdigung gesprochen, gehört der kichernden Großmutter und lautet: „Mein Sohn war eine Sturzgeburt!” Dazwischen wird in siebzehn Kapiteln ein Feuerwerk von Anekdoten und tragikomischen Begebenheiten abgebrannt, an dem Friedrich Torberg und andere Koryphäen jüdisch-humoristischer Erzählkunst unübersehbar mitgezündelt haben. Auch der alte Doderer guckt zuweilen um die Ecke. Von ganz eigener Art aber ist die Methode der Autorin, familienhistorische Recherche und phantasievolle Camouflage so zu verquirlen, dass die Grenze zwischen Wahrheit und Erfindung unsichtbar wird. Exzentrische Figuren, abenteuerliche Lebensläufe und skurrile Vorfälle werden mit einer gewissen Beiläufigkeit so geschildert, dass sie völlig realistisch erscheinen, während eher Alltägliches durch pointierte Darstellung den Reiz des Unglaubwürdigen gewinnt.

Fuchsi und Katzi

Nun sind unter all jenen, die sich an einem Familienroman versuchen, nur wenige in der glücklichen Lage, auf derart ergiebiges Material zurückgreifen zu können. Das belegbare Faktengerüst dieser Geschichte ist spektakulär genug: ein wienerisch-jüdischer Großvater, der seiner Ehefrau, einer sudetendeutschen Katholikin, das Überleben im Holocaust verdankt, ein Vater, der während der Nazizeit in England aufwächst und später als Fußballer zum Ruhme Österreichs kickt, ein Onkel, der mit der britischen Armee in Burma gegen die Japaner kämpft, ein berühmter Bruder schließlich, dessen halb verzweifelter, halb koketter Ausruf „Ich musste Intellektueller werden!” sicher nicht aus der Luft gegriffen ist.

Und dann natürlich Wien - ein Schauplatz, der Welthaltigkeit und unverwechselbares Lokalkolorit gleichermaßen garantiert. Wo man in Kaffeehäusern Bridge spielt, wo Frauen „Katzi” oder „Fuchsi” heißen, wo düstere, holzgetäfelte Lokale wie das hier geschilderte „Weißkopf” bis heute florieren und der Umgangston des „Keppelns”, des halblauten, mürrischen Schimpfens, jedem Touristen in den Ohren klingt, bedarf es nur eines professionellen Zugriffs, um aus dem genius loci saftig-farbige Lektüre zu machen. Dass Eva Menasse ihr Handwerk beherrscht, spürt man in jedem Satz, und ihre solide, durch den gehobenen Journalismus geprägte Erzähltechnik hebt sich von einem Großteil der weiblichen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wohltuend ab. Dafür muss man ein paar tiefe Blicke in die folkloristische Requisitenkiste Österreichs in Kauf nehmen: Offenbar ist der Autorin während ihrer Auslandsjahre nicht entgangen, wie sehr die Deutschen Hans Moser schätzen.

Es gibt da aber noch ein Anliegen, auf das der Roman hinsteuert und dessen literarische Vermittlung schwieriger zu sein scheint, als es die Schwelgerei in kauzigen Individuen, schlitzohrigen Dialogen und unerhörten Vorkommnissen zunächst vermuten lässt. Es betrifft einerseits die Suche nach Identität in einer prekären Herkunftsmischung, andererseits die schmerzliche Erfahrung, dass die obsessive Mythen- und Anekdotenpflege, die über lange Zeit den familiären Zusammenhalt gestiftet hat, weil sie „unser flüchtiges Zusammensein mit einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit verankerte”, am Ende nicht mehr tragfähig ist, ja sogar dazu beiträgt, dass die „verminte Familiengeschichte” explodiert und zerreißt.

Wie das vonstatten geht, schildert Eva Menasse in Gesprächsszenen, die nicht recht zu packen vermögen, weil die Personen, zwischen Kenntlichkeit und Verfremdung marionettenhaft schwebend, nun zu blutleer wirken, um eine anrührende Auseinandersetzung zu führen. Je näher die Historie an die Gegenwart heranrückt, je mehr erlebte Realität die Imagination ersetzt, desto problematischer wird das Erzählkonzept. Dieser Widerspruch mag die Autorin bewogen haben, ihre Ich-Figur weitgehend bedeckt zu halten und ängstlich alles zu vermeiden, was dieser Instanz über die Funktion des Erinnerns, Archivierens und Phantasierens hinaus eine Individualität, eine tragende Rolle im Roman - oder im Clan? - zuweisen könnte. „Früher, als ich noch ein Kind war und dieser wortgewaltigen Familie zuhörte”, heißt es an einer der wenigen bekenntnishaften Stellen, „hatte ich einen großen Wunsch: Ich wollte eine eigene Meinung. Der Wunsch hatte ungelogen diesen Wortlaut.”

In einem Werk, das ganz auf die Verschmelzung von Lüge und Wirklichkeit setzt, nimmt sich das „ungelogen” merkwürdig rührend aus. Es deutet darauf hin, dass das Aufwachsen in einem Wiener Geschichtenwald, unter dem Dauerbeschuss einer familiären Pointenkanone, nicht immer der reine Kaiserschmarrn ist. Und es enthält vielleicht die Erklärung dafür, warum dieses bravouröse Debüt keinerlei Anstalten macht, sich über das zu erheben, was man von einer braven Tochter erwartet.

KRISTINA MAIDT-ZINKE

EVA MENASSE: Vienna. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 432 Seiten, 19,90 Euro.

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