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»Eine paradiesische Parabel.« Paul Jandl in der 'NZZ'
Ingo Schulze erzählt vom Spätsommer 1989 - und entdeckt in der Wendezeit die menschliche Urgeschichte von Verbot und Verlockung, Liebe und Erkenntnis. Im Spiel mit dem biblischen Mythos von Adam und Eva gelingt ihm eine grandiose Tragikomödie.
Die Frauen lieben Adam, weil er ihnen schöne Kleider schneidert. Und Adam liebt schöne Frauen. Abgesehen davon liebt er Evelyn. Die aber ertappt ihn eines heißen Augusttages 1989 in flagranti. Statt mit Adam fährt Evelyn gemeinsam mit einer Freundin und deren Westcousin an den Balaton. Und Adam
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Produktbeschreibung
»Eine paradiesische Parabel.« Paul Jandl in der 'NZZ'

Ingo Schulze erzählt vom Spätsommer 1989 - und entdeckt in der Wendezeit die menschliche Urgeschichte von Verbot und Verlockung, Liebe und Erkenntnis. Im Spiel mit dem biblischen Mythos von Adam und Eva gelingt ihm eine grandiose Tragikomödie.

Die Frauen lieben Adam, weil er ihnen schöne Kleider schneidert. Und Adam liebt schöne Frauen. Abgesehen davon liebt er Evelyn. Die aber ertappt ihn eines heißen Augusttages 1989 in flagranti. Statt mit Adam fährt Evelyn gemeinsam mit einer Freundin und deren Westcousin an den Balaton. Und Adam fährt mit seinem alten Wartburg hinterher. Ungarn will die Grenze gen Westen öffnen. Plötzlich ist das Paradies zum Greifen nah - und alle müssen sich entscheiden.
Autorenporträt
Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren und lebt in Berlin. Er wurde u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Seine Bücher erscheinen in 30 Sprachen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2008

Bis die Schildkröte einschläft

Wie man mit dem Wendehammer philosophiert: Ingo Schulze hat eine Mauersündenfallgeschichte aus Alltagsperspektive geschrieben.

Von Oliver Jungen

Plötzlich" ist das erste Wort dieses Romans, und es scheint, als hätten wir eine mit der Hans-Dampf-Metaphysik Karl-Heinz Bohrers kurzgeschlossene Theologie vor uns, denn was sich hier so plötzlich vollzieht, ist die Schöpfung, zweiter Akt, aber ohne allen Hokuspokus: "Plötzlich waren sie da, die Frauen." Es handelt sich freilich um Kreativität zweiter Ordnung im Zeitalter der fototechnischen Reproduzierbarkeit. Im Entwicklerbad schwimmt das Papier, auf dem von einem Moment auf den nächsten ein Konterfei erscheint. Dann folgen Stoppbad und Fixierer, damit die Schönheit von Dauer ist.

Wir befinden uns in der Deutschen Demokratischen Provinz, und zwar im brodelnden August 1989. Über die Schulter schauen wir Adam, der eigentlich Lutz Frenzel heißt und freischaffender Damenmaßschneider ist, gewissermaßen das Design seiner Kundinnen nachbessert. Eine charmante Idee und zudem historisch unterfüttert: Kurt Flasch hat in seinem klugen, ironischen "Eva und Adam"-Buch angemerkt, dass die beiden Titelhelden früh Schutzpatrone der Schneiderzunft wurden. Ingo Schulze stellt die Passage seiner Neuerzählung der ältesten Paargeschichte als Motto voran. Adam wohnt mit der bildhübschen, einundzwanzigjährigen Evelyn zusammen, genannt Evi. Dann gibt es noch die Schildkröte Elfi.

Man muss nicht den Film "All about Adam" kennen, um zu ahnen: Sie lieben ihn alle, die Frauen (im Osten), besonders die drallen. Er liebt zurück, und so kommt es, dass ihn Evi eines Tages mit Lilli erwischt. Den feministischen Dreh, die apokryphe Lilith zur autonomen Gegenfigur Evas zu überhöhen, macht Schulze nicht mit: Im Gegenteil, Evi hat hier die Hosen an. Auf der Stelle - "Paradise lost" - zieht sie zu einer Freundin, wo nun pikanterweise mit Michael ein Erzengel-Cousin aus dem Westen weilt. Mit ihnen tritt Evi eine lange geplante Reise nach Ungarn an. So leicht aber schüttelt man den genügsamen, keineswegs untertänigen Adam nicht ab, der sich ständig die Brust reibt (da, wo die Rippe fehlt). Er folgt dem Dreiergespann im klapprigen Wartburg, der so etwas ist wie sein Alter Ego und nicht zufällig auf den Namen Heinrich hört - man denke an die faustische Grundierung von "Neue Leben". Über Dresden und Prag geht es zur befreundeten Angyal-Familie nach Ungarn und schließlich weiter in den Westen, ein On-the-Road-Roman. Weil das Paradies immer nebenan liegt, ist nicht Vertreibung, sondern Sehnsucht die eigentliche Gefahr. Die Protagonisten befinden sich inmitten des ersten Stroms ausreisewilliger DDR-Bürger, die ihr Glück über Ungarn und Österreich versuchen. Unterwegs gabelt Adam eine weitere Einundzwanzigjährige auf, Katja, die bald ein bisschen in ihn verliebt ist, sich aber auch mit Evi bestens versteht, welche ihrerseits dem Westen in Form von Michael erliegt.

Formal besteht das Buch zum größten Teil aus Dialogsequenzen, und Schulze ist ein Meister dieser Form: Leicht kommen die Gespräche daher, stilsicher und lebensnah. Das Gesprächs-Ping-Pong ist immer dann am besten, wenn es die großen Themen streift, ohne sie zu diskutieren. Adam etwa scherzt gegenüber Katja, er könne doch von der Stasi sein: ",Mit so ner ollen Pritsche fährt kein Spitzel.' ,Na gerade! Noch nie was von Tarnung gehört, Mimikry des Gegners?' ,Ach komm, ganz blöd bin ich nicht. Und dann noch Elfi, das ist ganz schön schräg, musst du schon zugeben.' ,Ich sag ja, Mimikry.'" Turtel Stories, sommerlich.

Der utopische Ort, plötzlich aufscheinend, ohne dass es Stoppbad oder Fixierer für ihn gäbe, ist das ungarische Eden am Balaton, obwohl gerade hier alle Protagonisten unsanft aufeinandertreffen. Gemeinsam aber meistert man die Situation. Daraus entwickelt sich eine zarte, multiple Liebesgeschichte von "Jules und Jim"-Format, in der - trotz allen Schmerzes - die Schönheit des Menschlichen herrscht, bis der Zugzwang der Verhältnisse den paradiesischen Schwebezustand auflöst.

Schulze hat aus dem alten Lehm höchst liebenswerte (Ost-)Figuren erschaffen, deren Geradlinigkeit und Larmoyanzferne gefangennehmen. Dass für Adam der Verlust einer Welt dominiert, während Katja und Evelyn die Öffnung zum Westen als Befreiung sehen, scheint in manchen Momenten gar nicht so zentral. Aber leider steht dies im Vordergrund: "Adam und Evelyn" erscheint als lockeres Pendant zu Schulzes sperriger Wendechronik "Neue Leben". Der Autor selbst weist auf die allegorische Dimension hin: "Wie hat sich der Westen durch den Kollaps des Ostblocks entwickelt? Mein Buch spielt auch auf die Hoffnungen an, die es damals gab." (F.A.Z. vom 1. August)

Ist schon das Genesis-Rahmenkonzept mehr Überbiss als Überbau, so verliert sich die Handlung schließlich im Symbolischen. Jede Entwicklung, jedes Detail (etwa ein Zauberwürfel) soll im doppelten Sinn aufgehen, muss auf die biblische und die politische Situation bezogen sein. Schulze lädt der wunderbar leichten Erzählung den ganzen Ballast des weltgeschichtlichen Moments auf. Man will die Figuren in Schutz nehmen vor dieser hermeneutischen Überfrachtung, unter der sie zusammenbrechen. Muss denn der Besserwessi unbedingt als Zellbiologe an der Erbsündenaufhebung arbeiten: "Raus aus deiner selbstverschuldeten Sterblichkeit"? Muss Adams Charakter ("Ausprobieren, na wunderbar, und wenn es schiefgeht? Wir haben nur ein Leben") gleich staatstragend sein? Wie hölzern wirkt der mentalitätsgeschichtliche Schlagabtausch: Michael verkauft den Westen als "viel schöner, als du es dir überhaupt vorstellen kannst". Große Augen machen die Ossis, als sie eine Spülmaschine sehen. Erwartbar, dass Adam schließlich vom West-Onkel vorgeworfen wird, diese kaputt gemacht zu haben.

Zufällig fällt dem Paar, kaum im Westen angelangt, eine Bibel in die Hand. Adam, der sich hat verführen lassen (Leberkäse hält ihm Evi hin: "Koste mal"), kommt da bald eine Erkenntnis: Was ist der "Trieb, immer mehr und mehr Geld zu wollen", anderes als "Erbsünde"? Der Kapitalismus als Satanswerk, haut das noch jemand um? Jenseits des Paradieses ist auch der Himmel plötzlich nah: "Was waren alle Worte gegen diesen Schlüssel, dachte Evelyn. Mit einem leichten Knack öffnete sich die Pforte." Adam aber verliert seine Gutmütigkeit.

Seit Kurt Flasch wissen wir, dass der größte Antagonismus in Bezug auf die Genesis-Erzählung nicht jener zwischen glückseliger Dummheit und unglücklich machender Erkenntnis ist, sondern der zwischen Anschaulichkeit und Abstraktion. Das gilt auch für Schulzes Roman. Hat aber früher das Anschauliche Theologen in Verlegenheit gebracht, so schnürt nun das Theoriekorsett den Figuren den freien Atem ab: Würde der Autor nicht unbedingt Soziologe und Sozialist sein wollen, er hätte einen wunderbaren, überzeitlichen Dialogroman über die Liebe geschrieben, Truffauts Filmen ebenbürtig. Nur Schildkröte Elfriede entzieht sich den eindeutigen Zuordnungen. Oder ist sie, die schließlich ihren Winterschlaf im Gemüsefach antritt, etwa der Vereinigungsprozess selbst? Wundern tät's nicht.

- Ingo Schulze: "Adam und Evelyn". Roman. Berlin Verlag 2008. 320 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.08.2008

Wie man Revolution mit Beischlaf verwechselt
Die Geschichte von „Adam und Evelyn” – Ingo Schulzes ebenso leichte wie tiefe Allegorie eines Systemwandels
In der kapitalistischen Gesellschaft kann man jedem Menschen einen Wert zuordnen, entsprechend seiner finanziellen Leistungsfähigkeit. Dabei wissen wir natürlich, dass Reichtum nichts über den wahren Wert eines Menschen aussagt – seinen Fleiß, seine Intelligenz, seinen Erfindungsreichtum, seine Bildung, geschweige denn seine Güte. Aber weil wir das wissen, können wir über den lauten Großkotz im Porsche-Cabriolet verächtlich „Parvenü” grummeln und beim Anblick seiner Grünwalder Villa murmeln: „Guten Geschmack kann man mit Geld eben nicht kaufen.” Und schon stimmt unser inneres psycho-ökonomisches Gleichgewicht wieder.
Da hatten es die Bürger der früheren DDR nach 1989 schwerer. Sie fanden sich im wiedervereinigten Land ständig in Situationen der Unterlegenheit. Jene legendäre „Gabi (Ost) und ihre erste Banane” der Titanic hatte ja keinen geringeren IQ als ihre westliches Pendant, es mangelte ihr nur an einem, an sich extrem primitiven Erfahrungswissen. Viele DDR-Bürger kompensierten nach 1989 daher ihre materielle Unterlegenheit durch so etwas wie Stolz auf ihre moralische Authentizität.
Ingo Schulze, dieser große Erzähler des Mentalitätswandels nach 1989, berichtet in seinem neuen Roman „Adam und Evelyn” auch von den Versuchen, das eigene Wertsystem intakt zu halten. Und obwohl man diese ausgesprochen süffig durcherzählte Geschichte ziemlich schnell gelesen hat, entfaltet sie eine Fülle an Themen und Motiven: Adam ist ein begnadeter Damenmaßschneider. Auch Frauen mit nicht so toller Figur erscheinen plötzlich schön und elegant, wenn sie seine Sachen tragen. Dafür lieben ihn seine Kundinnen – sehr gerne auch im buchstäblichen Sinn. Einmal wird Adam von seiner Freundin Evelyn in flagranti mit einer Kundin erwischt. Evelyn packt ihre Sachen, geht zu einer Freundin und – es ist gerade Sommerferienzeit – fährt mit dieser und deren angereistem West-Cousin im Passat nach Ungarn an den Balaton. Adam, der Evelyn liebt, will sie zurückgewinnen und reist ihr in seinem alten Wartburg hinterher.
Es ist Schulzes bewährtes, seit seinem Bestseller „Simple Storys” immer wieder unter Beweis gestelltes Erzählrezept, private Lebens- und politische Weltgeschichte ineinanderfließen zu lassen. Auch in „Adam und Evelyn” macht er das wieder mit großer Souveränität – aber diesmal in einer Weise, die dieses Ineinander selber noch einmal thematisiert, nämlich als eine Geschichte trotziger Asynchronität von Individualgeschichte und politischer Wirklichkeit. Denn während Adam im Sommer 1989 am Balaton nur um die Liebe seiner erbosten Freundin Evelyn kämpft, schaut gleichzeitig alle Welt nur auf die österreichisch-ungarische Grenze. Und auch von Adam nimmt jeder an, dass er sich als Republik-Flüchtling auf den Weg nach Ungarn gemacht habe.
Manchmal weiß man bei dieser Geschichte nicht, was turbulenter ist: die Weltgeschichte oder die Paarungskonstellationen. Denn zum einen hat Adam Katja, eine junge DDR-Bürgerin ohne Ungarn-Visum, im Kofferraum seines Wartburgs über die Grenze geschmuggelt – ein Abenteuer, das durchaus verbindet. Zum anderen meint Evelyn sich in Michael, den Westcousin ihrer Freundin Simone aus Hamburg, verliebt zu haben – oder ist Evelyn nur eine „Westhure”, die auf diesem Weg sich einen glatten Start im Kapitalismus sichern will? Adam jedenfalls muss akzeptieren, dass Evelyn von der DDR die Nase voll hat. Wenn er sie zurückgewinnen will, muss er sie in den Westen begleiten. Und so findet er sich plötzlich auch von jenem Sog erfasst, den das ungarische Loch im Eisernen Vorhang erzeugt. Einen unwilligeren Republikflüchtling dürfte die Welt nicht gesehen haben. . .
Adam ist ein merkwürdiger, man hat den Eindruck: sehr DDR-typischer Charakter aus Phlegma, Trotz, Unangepasstheit und passiver Melancholie. Es ist ein bisschen so, als habe Adam sich in der Nische seiner DDR-Existenz als autarker Damenschneider mit abenteuerlustigen Privatkundinnen so gut eingerichtet, dass er zwischen Anprobe und Beischlaf überhaupt nicht mitbekommt, dass seine Landsleute dabei sind, ihrem Staat massenweise die Loyalität zu kündigen. Ein Volk wirft das alte Staatswesen über den Haufen – und Adam muss versuchen, nach aufgeflogenem Seitensprung den status quo wiederherzustellen.
Als Adam das erste Mal den Passat von Michael sieht, wundert er sich über das Kennzeichen HH: „Ihm fiel keine Stadt ein, in deren Name zweimal H vorkam.” Doch dies ist erst ein leiser Vorgeschmack dessen, was noch auf ihn zukommt, wenn er erst einmal Westdeutschland erreicht hat. Dabei befindet sich Adam in einer doppelt misslichen Lage. Zum einen empfindet er seine Unbeholfenheit im neuen System als demütigend. Plötzlich gehört man zu den Leuten, die sich nichts mehr leisten können: „Früher hat die Wurscht mal drei achtzig gekostet, das war Sozialismus, jetzt nehmse das Dreifache”, heißt es einmal – noch am Balaton. Zum anderen verachtet Adam sich selbst dafür, dass er – in seinen Augen: feige – in den Westen geflohen ist, statt mit seinen zu Hause gebliebenen Landsleuten im Herbst 1989 auf die Straße zu ziehen und die SED-Diktatur herauszufordern. Wann immer er jetzt den Fernseher anmacht, um das Geschehen in Leipzig, Dresden und Berlin zu verfolgen, plagen ihn Gewissensbisse.
Am Handwerk hängt alles
Ihm, der nie am SED-Staat mitgemacht hatte, ohne deswegen im aktiven Sinne ein Dissident gewesen zu sein, geht es gar nicht um Lebensveränderung: Die materiell bedrückenden Verhältnisse der DDR entsprechen eigentlich perfekt seinem genügsamen Lebenskonzept. Für Leute wie Adam geht es nicht um die Früchte der Freiheit, nicht um ein besseres Leben, sondern um die moralische Selbstachtung, um den Stolz, sich nicht verkauft zu haben an ein System – die Freiheit ist dann fast schon in einem sterilen Sinne Selbstzweck.
Ingo Schulze hat seinen Protagonisten mit Bedacht zu einem Maßschneider gemacht. Ein bisschen meint man darin ein Echo zu finden von Richard Sennetts jüngstem Buch, dieser manchmal leicht zum Kitsch neigenden Verherrlichung des Handwerks. Wenn Adam seine ersten Schritte im Westen macht, muss er feststellen, dass die Damen dort seine Produkte gar nicht wollen, dass die lieber zur Konfektionsware greifen. In der DDR hingegen mit ihrer notorischen Mangelwirtschaft verband sich mit dem Handwerk die Möglichkeit eines moralisch nicht fragwürdigen Luxus.
Außerdem steht die Maßschneiderkunst bei Schulze für nicht-entfremdete Arbeit. Aus Adams Perspektive tauscht er mit seiner Flucht in den Westen ein Leben nicht-entfremdeter Handwerklichkeit gegen eine Gesellschaft ein, die alles verdinglicht und nur die Arbeitsteilung der Massenproduktion kennt. So lässt Adam mit seinem früheren, bis ins Sexuelle „ganzheitliche” Leben den Garten Eden hinter sich, weil ihn seine Evelyn in eine Welt führt, in der man im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen muss.
Von der Ambivalenz gegenüber dem weltgeschichtlichen Kairos erzählt „Adam und Evelyn”. Das tat schon Schulzes großartiger Roman „Neue Leben”. Auch dessen Held Enrico Türmer, stets ein Systemfeind, ist plötzlich angewidert von den Montagsdemonstrationen. Er, der habituelle Nonkonformist, ahnt, dass sein eigener Lebensentwurf anachronistisch wird, wenn seine politischen Sehnsüchte plötzlich Wirklichkeit würden: Als dissidentischer Schriftsteller verliert er mit der Mauer gewissermaßen sein existentielles Lebensthema. Und in der neuen kapitalistischen Epoche verliert die Literatur ähnlich der Maßschneiderei ihre gesellschaftliche Funktion: „Merkten sie denn nicht”, heißt es in „Neue Leben”, „dass das Zeitalter der Kunst, das Zeitalter der Worte vorbei war und die Zeit der Taten unwiderruflich begonnen hatte?”
Mit Adam teilt Türmer eine, ich würde sagen: DDR-spezifische Authentizitäts-Verklärung. Authentizität war in der DDR das Substitut für die nicht vorhandenen materiellen Güter. Die Bedeutung des Geldes und der Warenproduktion im Westen (von allem gebe es zu viel, es herrsche eine „Inflation, die alles begräbt, die eigentlichen Dinge, die richtigen Dinge” – was eine moralische, keine monetäre Inflation ist. . .) empfindet Adam als so unauthentisch wie Enrico Türmer, der es stets für entwürdigend hält, wenn nach einem Geschäftsessen sich der Einladende eine Quittung geben lässt. Ist er selbst der Gastgeber, pflegt er die Quittung demonstrativ zu zerknüllen.
Ingo Schulze ist in „Adam und Evelyn” ebenso wie in „Simple Storys” und in „Handy” ein kontrollierter, ökonomischer Erzähler. Der Briefeschreiber Enrico Türmer in „Neue Leben” war dagegen ein Schwadroneur. Als gescheiterter Künstler zwischen Narzissmus und Minderwertigkeitskomplex hatte er zur Sprache ein Verhältnis wie zu einer Orgie: Er legte sich keine Zwänge auf und probierte alles aus. Immerzu gingen die gedanklichen und erzählerischen Pferde mit ihm durch. Enrico Türmers Rollenprosa war so gesehen Ingo Schulzes Chance, sich gehen zu lassen. Schulze ist in beiden Disziplinen großartig – in der disziplinierten Plot-Konstruktion wie in der wilden Roman-Spekulation. Aber die offene Brust, die Schulze in der Figur Enrico Türmers dem Leser darbietet, ist vermutlich doch noch anrührender, aufregender und erhellender. Bei „Adam und Evelyn” geht jede erzählerische Rechnung immer auf. Bei „Neue Leben” blieb unter dem Bruch immer ein krummer Rest. „Adam und Evelyn” ist ein makelloser Roman. „Neue Leben” war ein Superlativ deutschen Erzählens.IJOMA MANGOLD
INGO SCHULZE: Adam und Evelyn. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2008. 314 Seiten, 18 Euro.
Als der Eiserne Vorhang ein Loch bekam: Szenen aus dem Sommer 1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze Fotos: action press (2); Eisermann/Laif; AP
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"Adam und Evelyn ist ein mit leichter Hand geschriebenes Roadmovie, in 55 kurzen Szenen. Es besteht fast nur aus Dialogen und liest sich wie ein fertiges Filmdrehbuch. ... Es macht den Reiz dieses Romans aus, dass es Schulze gelingt, die Dinge und die Bedeutungen und die Bedeutungen offenzuhalten." Jörg Magenau, Lieteraturen, September 2008

21.8.2008: FAZ, Der Tagesspiegel, Die Welt, BZ, Börsenblatt und Buchreport: Alle berichten über die zwanzig Kandidaten für den Deutschen Buchpreis, zu denen auch Ingo Schulze gehört. Tilman Krause wagt in der Welt sogar die Prognose eines 'Kopf-an-Kopf-Rennens' zwischen Ingo Schulze und Uwe Tellkamp.

"In Adam und Evelyn nun erzählt Ingo Schulze mit geradezu traumwandlerischer Leichtigkeit und der Lust an Paradoxien: Das Schwere in diesem Buch wird leicht, das Leichte hat weiterhin Bodenhaftung, das Komische wirkt nicht lächerlich, das Ernste zieht uns nicht hinab. Und am Ende destillieren wir die aus diesem wunderbaren Liebes- und Zeitroman eine einfach komplizierte Lebensweisheit: Das Paradies ist immer anderswo, und auch wenn wirs nie erreichen werden - der Weg lohnt sich." Claus-Ulrich Bielefeld, Tages-Anzeiger vom 15. August

"Das Thema vom Zusammenbruch des Ostblocks und vom Chaos der Wendezeit wäre nichts Neues, wäre da nicht das wunderbar doppelbödige Spiel des Ingo Schulzes mit der ewigen Geschichte von Liebe, Lust und nicht zuletzt Verlockung - der Geschichte von Adam und Eva. Souverän und mit leichter Hand verquickt Ingo Schulze biblischen Mythos und Zeitgeschichte zu einem gelungenen Roman." (artour)

"Mit Adam und Evelyn hat Ingo Schulze nach Neue Leben einen zweiten wunderbar lesbaren und zugleich literarisch hoch komplexen Roman über die Wiedervereinigung geschrieben." (Die Welt)

"Obwohl man diese ausgesprochen süffig durcherzählte Geschichte ziemlich schnell gelesen hat, entfaltet sie eine Fülle an Themen und Motiven. (...) Adam und Evelyn ist ein makelloser Roman." (Süddeutsche Zeitung)
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit viel Sympathie und Achtung, aber verhaltener Begeisterung hat Paul Jandl diesen neuen Roman von Ingo Schulze gelesen, der, wie sollte es anders sein, wieder ein Wenderoman geworden ist: Mauer- und Sündenfall treiben Adam und Evelyn aus der Behaglichkeit. Der Ost-Schneider Adam betreibt seinen Dienst an der Kundin etwas zu gern, seine Freundin Evelyn dampft frustriert nach Ungarn an den Balaton ab, und da er ihr reumütig folgt, führen die Wirren der Wende sie unversehens nach München. In den offenbar recht ausgreifenden Dialogen des Romans findet Jandl allerdings die Psychologie jener Zeit sehr subtil und sehr stimmig festgehalten. Zu einem "ins Intellektuelle gehobenen Unterhaltungsroman" wird der Roman für den Rezensenten dadurch, dass er mal kalauernd, mal "mit vollem Ernst" seinen Stoff an der biblischen Vorlage messe, wobei Jandl den Sündenfall weder im Seitensprung noch in der persönlichen Hybris entdeckt, sondern in der Entzweiung von "Ideologie und gutem Leben". Ganz menschlich wiederum findet er dann, wie Schulzes Figuren hin und her gerissen sind in der Frage nach "Ost oder West, feste Bindung oder Freizügigkeit, Entschlossenheit und Bedächtigkeit".

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