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  • Anzahl: 1 Audio CD
  • Erscheinungstermin: 1. Januar 1980
  • Hersteller: ZYX-MUSIC GmbH / ZYX/CLS,
  • EAN: 0090204016921
  • Artikelnr.: 20024278
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2015

Die Spur des Krieges ist Teil der Dresdner Folklore

Wie die Semperoper aus dem Dornröschenschlaf erwacht: Christian Thielemann dirigiert Carl Maria von Webers "Freischütz", Axel Köhler sorgt unauffällig für die Regie.

Zur Feier des ersten Mai hat sich die Semperoper in Dresden eine weiße Unschuldsschärpe umgehängt. Diskret wie ein Feigenblatt, man sieht sie kaum, sie führt unter den Rundbögenfenstern vorbei, und es steht eine wichtige Botschaft drauf: "Für ein weltoffenes Dresden". Das musste ja wohl mal gesagt werden.

Draußen auf dem Platz sind Bierzelte aufgestellt worden, für das Gratis-Public-Viewing. Drinnen läuft, live und für zahlende Gäste, die "Freischütz"-Premiere. Zwar ein weltbekanntes Stück, aber gehört unbedingt hierher nach Dresden, etwa so, wie das Radeberger zur Semperoper gehört. In Dresden tat Carl Maria von Weber, als er den "Freischütz" komponierte, Dienst als Kapellmeister. Den Originalschauplatz der Wolfsschlucht-Szene kann heutzutage noch jeder selbst erwandern, er liegt etwa dreißig Kilometer vor den Toren der Stadt in der Sächsischen Schweiz, im Amselgrund, nahe Rathewalde. Und die nach wie vor klarste, schärfste, schönste Plattenaufnahme, die es vom "Freischütz" gibt, wurde anno 1973 von Carlos Kleiber mit der Staatskapelle Dresden in der Dresdner Lukaskirche produziert. Versteht sich, dass auch die 1985 endlich aus Ruinen wieder auferstandene Semperoper mit dem "Freischütz" eröffnet wurde. Nur eines versteht man nicht so richtig: Warum hat der amtierende Chefdirigent der Dresdner Staatskapelle, der Nachfolger Webers, Christian Thiemann, bis jetzt so einen großen Bogen um dieses Stück gemacht?

Wenn überhaupt ein Dirigent die idealen "Freischütz"-Tempi im kleinen Finger hat, dazu auch noch all die Hell-Dunkel-Schattierungen der "Freischütz"-Klangmixturen im Ohr, so ist es dieser. Und wenn einer der ideale Sängerbegleiter ist, der Chöre und Solisten effektvoll durch alle Finessen der "Freischütz"-Romantik heben und tragen kann, dann er.

Thielemann nimmt sich Zeit für das Waldweben im Adagio-Beginn der Ouvertüre. So traumselig langsam, so wunderstill verschwommen haben die Hörner das noch nie zuvor geblasen. Gläsern trennscharf dagegen und eilig stürmt das Allabreve los, darin sich bereits leitmotivisch all die finsteren Mächte tummeln, die den jungen Jägersmann alsbald umgarnen und vom rechten Weg abbringen werden. Jede Instrumentenstimme ließe sich nachzeichnen in der Luft, so beredt, so durchsichtig musiziert die Kapelle unter Thielemanns Leitung, auch, wenn es laut und schmissig zugeht. Ist die Ouvertüre vorbei, möchte man sie am liebsten gleich noch mal hören. Und dann könnte Thielemann auch schon Schluss machen. Denn eigentlich war alles drin, die ganze Geschichte wurde erzählt: von den verfluchten teuflischen Tritonus-Freikugeln, mit denen sich der junge Max Sieg und Glück in der Liebe erschießen will, die ums Haar die eigne Braut treffen, würde nicht am Ende der liebe Gott eingreifen.

Nur hätten wir, ginge jetzt nicht der Lappen hoch, auf etliche tolle Sänger verzichten müssen. Ein phantastischer Kaspar-Bösewicht, höchst charaktervoll gesungen und gespielt von Georg Zeppenfeld, gestaltet seine d-moll-Höllenarie wie das negative Credo des Jago: rabenschwarz. Schnuckelig das Ännchen, dreht sich wie ein Kreisel, singt wie ein Kanarienvogel: Das ist die silberstimmige Christina Landshamer. Die junge amerikanische Sopranistin Sara Jakubiak wirkt in der Partie der Agathe am stärksten in den Pianissimopassagen ihrer Wehmutsarien, die sie ausspinnt in langen, schönen Legato-Bögen. Michael König ist nicht allezeit hundertprozentig auf der jubelnden Tenorhöhe, auf der man sich einen Max-Helden wünscht. Die Nebenfiguren singen vorzüglich: Albert Dohmen als Erbförster, Adrian Eröd als Fürst, Andreas Bauer als rettender Eremit sowie Sebastian Kilian als Bauer Kilian. Und zum Entzücken präzis, mobil und farbenfroh agiert der Sächsische Staatsopernchor.

Er ist fast ständig unterwegs auf der mit viel Liebe zum Puppenstubendetail möblierten Bühne. Wildnis und Wohnzimmer, Grauen und Idylle sind in der Regie Axel Köhlers gleichzeitig gegenwärtig und allezeit sichtbar die Narben des letzten Krieges - sei es der Dreißigjährige, von dem Kaspar spricht, oder der Zweite Weltkrieg, der Dresden zerstörte. Der Wald ist längst bis in die Backstein-Ruinen dieses gründerzeitlichen Stadthauses vorgedrungen, wo die Jägerchöre als bis an die Zähne bewaffnete schnelle Einsatztruppe das Bauernvolk beim Schützenfest aufmischen. Statt des versöhnlichen Walzers gibt es eine zünftige Keilerei, bei der so sauber wie im Kasperletheater gestürzt, gestolpert, in die Luft gehauen wird. Die Wolfsschlucht, mit ihrer altmodisch blechernen Samiel-Stimme aus dem Lautsprecher und den Gehängten, die im Winde baumeln, ist nicht halb so gruselig wie eine Geisterbahn. Auch die Dienerin mit Satansklumpfuß, die klitzekleinen Jägerbuben, die mit Holzgewehren exerzieren und klitzekleine Reh-Mädchen totschießen, die folkloristisch eingekleideten Brautjungfern: alles wirkt wie stichwortartig bestellt und nicht abgeholt.

Zu den Worten "Kantors Sepperl trägt die Scheibe" reckt ein süßer Knirps die Schießscheibe in die Höhe. Singt der höllische Max im "Lebewohl"-Terzett die Worte "Mein Schicksal reißt mich fort", bricht die Stube in zwei Hälften und trennt ihn ruckartig von den frommen Frauen. Wie ein Musterknabe hat der Regisseur Axel Köhler offenbar alles nur richtig machen wollen. Aber auch auf diese Weise kann man das Thema verfehlen: Was dabei herauskam, war tümelndes Volkstheater.

Dass es in Webers "Freischütz" nicht um bunten Budenzauber geht, sondern um existentielle Wahrheiten, das tönt aus dem Graben heraus, in jedem Augenblick. Angucken muss man sich diese Dresdner "Freischütz"-Produktion also nicht. Anhören? Unbedingt! Aber nur, wenn Thielemann selbst am Pult steht, was nur noch einmal der Fall ist, am sechsten Mai. Danach wird die Semperoper wieder in malerischen Dornröschenschlaf versinken und Altes und Ausgeliehenes zeigen. Man könnte natürlich auf die Idee kommen, dass Köhlers ungewöhnlich unauffällige Regiearbeit so etwas war wie sein Bewerbungsschreiben für den vakanten Intendanten-Posten. Seit bald drei Jahren hat dieses Opernhaus kein nennenswertes künstlerisches Profil. Um der Vergesslichkeit entgegenzuwirken, sei erwähnt, dass es eigentlich die Idee von Serge Dorny gewesen war, dem von Thielemann einst unsanft hinauskomplimentierten Beinahe-Intendanten, einen neuen "Freischütz" in Dresden zu präsentieren.

ELEONORE BÜNING

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