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Vor 100 Jahren erstmals erschienenAls Lew Tolstoj Ende Oktober 1910 Jasnaja Poljana schwer krank verläßt, trägt er das Manuskript von 'Hadschi Murat' mit sich. Er stirbt auf der Flucht vor Frau, Familie und der Presse am 20. November 1910 in der Bahnstation von Astapowo unter den Augen der Weltöffentlichkeit, und 'Hadschi Murat' wird zu seinem letzen Roman, 1912 postum veröffentlicht. Der Anblick einer Tatarendistel ruft dem Erzähler bei einem Spaziergang die Kaukasuskriege ins Gedächtnis, in denen sich die Welt des Okzident und jene des Orient gegenüber standen. Erzählt wird die Geschichte…mehr

Produktbeschreibung
Vor 100 Jahren erstmals erschienenAls Lew Tolstoj Ende Oktober 1910 Jasnaja Poljana schwer krank verläßt, trägt er das Manuskript von 'Hadschi Murat' mit sich. Er stirbt auf der Flucht vor Frau, Familie und der Presse am 20. November 1910 in der Bahnstation von Astapowo unter den Augen der Weltöffentlichkeit, und 'Hadschi Murat' wird zu seinem letzen Roman, 1912 postum veröffentlicht. Der Anblick einer Tatarendistel ruft dem Erzähler bei einem Spaziergang die Kaukasuskriege ins Gedächtnis, in denen sich die Welt des Okzident und jene des Orient gegenüber standen. Erzählt wird die Geschichte des Widerstandes der um Freiheit kämpfenden Völker des Kaukausus und jene von Hadschi Murat, der zu den Russen überläuft und den Tod findet.
Autorenporträt
LEW TOLSTOJ, geboren 1828 in Jasnaja Poljana, war einer der berühmtesten Schriftsteller seiner Zeit. Zu den Höhepunkten seines Schaffens zählen die großen Romane der Weltliteratur 'Krieg und Frieden' sowie 'Anna Karenina'. Tolstoj starb 1910 in Astapowo. Im Dörlemann Verlag erschien sein allererster Roman 'Familienglück' in der Neuübersetzung von Dorothea Trottenberg.WERNER BERGENGRUEN, 1892 in Riga geboren. Der Schriftsteller übertrug 'Hadschi Murat' 1953 ins Deutsche, und seine Übersetzung gilt bis heute als zeitlos und kaum zu übertreffen. Werner Bergengruen verstarb 1964 in Baden-Baden.THOMAS GROB ist Professor für Slavistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zudem ist er publizistisch tätig, u.a. als Herausgeber der Werke Iwan Bunins im Dörlemann Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.1995

Tolstoi in Grosnyj
Rußlands Krieg im Kaukasus und die Kriegserinnerungen des russischen Dichters

So wie heute Jelzin und Dudajew, so standen sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Zar Nikolai und der Tschetschenenfürst Schamil gegenüber. Damals wie heute wurde der tschetschenische Aufstand mit brutaler Gewalt niedergeknüppelt. "La Pologne et le Caucase, ce sont les deux cautères de la Russie" (Polen und der Kaukasus, das sind die beiden offenen Wunden Rußlands) - diese Bemerkung flicht Tolstoi in ein Gespräch an der Tafel des Zaren ein.

Tolstoi hat den kaukasischen Konflikt zum Gegenstand einer großen Erzählung gemacht: "Hadschi Murat". Er hat dem Zaren nicht seinen ebenso autokratischen Gegenspieler Schamil gegenübergestellt, sondern eine Figur, die sich wiederum in Antagonismus zu Schamil befand, Hadschi Murat, einen muridischen Stammesführer. Hadschi Murat haßte die Russen genauso wie sein Feind Schamil, lief aber zu ihnen über, weil sich Schamil im Rahmen einer Blutfehde seiner Frauen und Kinder bemächtigt hatte. Das geschah 1859, in der Zeit, als Tolstoi russischer Soldat an der Kaukasusfront war; die Nachricht von dem Übertritt Hadschi Murats bewegte damals alle Gemüter. 1904, bei dem Anblick einer vom Pflug halbzerfetzten, aber weiterlebenden Distel, kam der Vorfall Tolstoi wieder in Erinnerung.

Obwohl sich Hadschi Murat während des größten Teils der Erzählung auf russischer Seite befindet, gewinnt Tolstoi in ihm den reineren Gegenpol zum russischen Imperialismus, denn anders als Schamil, der nach Tolstois Worten dem westlichen einen asiatischen Despotismus entegenhält, vertritt Hadschi Murat das Prinzip des Partikularen: die durch Verwandtschaft zusammengehaltene, kleine, aber unabhängige, traditionelle gemeinschaftliche Lebensform.

Man wird zu Tolstois Erzählung nicht greifen, ohne sich von dem großen Moralisten eine Orientierung zu erhoffen: Auf welche Seite soll man sich innerlich stellen? Mit Recht geht man davon aus, daß Tolstoi, obwohl er selbst als junger Soldat an den Kämpfen teilgenommen hat, nicht die Partei des russischen Imperialismus einnimmt. Und tatsächlich gibt Tolstoi ein abstoßendes Bild von den Umständen, unter denen der Zar die Entscheidung trifft, Tschetschenien zu verwüsten: Zar Nikolai tritt als eitler, hauptsächlich erotisch motivierter Greis in Erscheinung, der von einem korrupten System getragen und dumm gehalten wird. Er ist unfähig, sich von der Tragweite seiner Anordnung einen Begriff zu machen.

So realistisch-sarkastisch, wie Tolstoi die russische Machtzentrale und ihren Unterbau darstellt, so wenig erweckt er andererseits Illusionen über das moralische Niveau der muslimischen Gegenseite. Zu Unrecht wird ihm in dem Nachwort meiner DDR-Ausgabe aus dem Jahre 1963 vorgeworfen, er nehme Partei für das Ländlich-Unentwickelte und stelle sich gegen das Zentralisierte, Bürokratisierte, Technisierte. Wie alle diese Kommentare ist der Vorwurf Ausdruck der offiziellen marxistisch-leninistischen Ideologie (und wie alle diese Kommentare hat er daneben hohe Qualitäten); er ist außerdem unberechtigt. Tolstoi schildert lediglich das dörfliche Leben in den muslimischen Aulen so genau, daß die Schönheit und Würde dieser einfachen, aber hochkultivierten Lebensform dem Leser zu einem unvergeßlichen Eindruck wird.

Die Erzählung enthält einen tragischen Unterton, der schon einleitend in der Beschreibung der durch den Pflug zerfetzten, aber zäh weiterlebenden Distel anklingt: das Vielfältige, Bunte, Partikulare wird unaufhaltsam Opfer der einebnenden, homogenisierenden Kräfte der Moderne. Es kann diesen Kräften aber auch deshalb nicht widerstehen, weil es ihnen keine moralische Überlegenheit entgegenzusetzen hat. Moralischer ist zwar das Familienleben und der Zusammenhalt des Stammes, aber an dieser Grenze endet die Sittlichkeit auch schon. Dahinter beginnt ungezügelte Grausamkeit; auch bei dem romantischen Helden der Geschichte ist der Wunsch vorherrschend, "so viele dieser russischen Hunde wie nur irgend möglich zu erschießen oder niederzustechen".

Tolstois liebevolle Darstellung der muslimischen Welt ist nicht Ausdruck einer politischen Parteinahme; mit derselben Wärme wird das Kriegerleben der Russen geschildert - auch dort hat Tolstois sinnenfreudiges Auge Schönheit gesehen. Er scheut sich, so sehr er Pazifist ist, doch nicht, begeisternd von der hochgesteigerten Lebensintensität vor dem Kampf zu sprechen und von dem schönen Klang des ersten Schusses. Er läßt (in autobiographischen Zügen) den jungen Offizier Butler den Krieg als die herrliche Befreiung aus verqualmten Petersburger Klubräumen erleben, in denen er seine Spielschulden zurückläßt. "Butler, der ganz in den Anblick der Landschaft versunken war und in vollen Zügen die frische Luft einatmete, freute sich darüber, daß er, gerade er, lebte, und dazu auf diesem schönen Fleckchen Erde", heißt es anläßlich eines Ausritts, dessen Zweck die Zerstörung des tschetschenischen Aules ist, den der Leser so liebgewonnen hat.

Ihm wird zugemutet, gerade noch den Gram der tschetschenischen Mutter zu teilen, die den Leichnam ihres Sohnes vorfindet, eines dem Leser wohlbekannten fünfzehnjährigen Jungen (mit schwarzen, wie reife Johannisbeeren glänzenden Augen) - und sich schon auf der nächsten Seite wieder mit dem reizenden, edeldenkenden Kompanieführer, der den Einsatz geleitet hat, zu identifizieren.

In der wertfreien Verehrung der Lebenskraft, für die die Distel symbolisch steht, könnte man eine Zeiterscheinung der Jahrhundertwende vermuten: die Bewunderung des élan vital, der man sich damals unter Bergsons und Nietzsches Führung hingab. Aber davon ist Tolstoi natürlich weit entfernt. Er bringt es fertig, das, was in unseren Köpfen so unvereinbar miteinander rivalisiert: die universale, humanistische Ethik, die den Kampf und das Töten ablehnt, und den Sinn für das Gesunde und Lebenskräftige, für das Parteilich-Partikulare, das jenseits von Gut und Böse steht, so zusammenzuführen, daß man das Buch mit einem einheitlichen Gefühl aus der Hand legt.

An einer Stelle allerdings läßt Tolstoi eine Frau die kurzen, entscheidenden Worte sagen, die seine Botschaft sind: ,"Was haben Sie, Marja Dmitrijewna?" fragte Butler. "Ihr seid allesamt Mörder. Ich kann das nicht ertragen. Richtige Mörder seid ihr", sagte sie und stand auf. "Das gleiche kann jedem widerfahren", wandte Butler ein, der nicht recht wußte, was er sagen sollte. "Das ist eben Krieg." "Ach was - Krieg!" fuhr ihn Marja Dmitrijewna an. "Was ist denn das für ein Krieg? Ein Hinmorden ist das, nichts weiter!"' SIBYLLE TÖNNIES

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