Vor zweieinhalbtausend Jahren hat die Philosophie angefangen, die Geburtlichkeit des Menschen „zu vergessen“. Sie schaut nach einer schönen Idee. Sie schaut nicht zum Anfang vor dem Anfang. Peter Sloterdijk nimmt den Leser – in diesem Falle eher den Lauscher an der Wand- in 5 Vorlesungen mit auf
eine Reise in diesen Anfang, in dem es ein Angefangensein vor dem Anfang gegeben haben muss. Er…mehrVor zweieinhalbtausend Jahren hat die Philosophie angefangen, die Geburtlichkeit des Menschen „zu vergessen“. Sie schaut nach einer schönen Idee. Sie schaut nicht zum Anfang vor dem Anfang. Peter Sloterdijk nimmt den Leser – in diesem Falle eher den Lauscher an der Wand- in 5 Vorlesungen mit auf eine Reise in diesen Anfang, in dem es ein Angefangensein vor dem Anfang gegeben haben muss. Er zeichnet die Unmöglichkeit der Erinnerung an die Anstrengung der Geburt, des Zurwelt- und damit zur Sprache kommen mit Hilfe der Poesie nach.
Es wäre kein Text von Peter Sloterdijk, wenn diese Reise "gerade" verliefe.
Sein „Redeversuch gehört zur philosophischen Konversationsprosa oder zur Unterhaltungsmystik“. Auf dem Weg zur letzten Seite kommt man in Versuchung das Buch als Fehlkauf wegzugeben – wäre da nicht der Spannungsbogen der bis zu den letzten Seiten Kopf und Augen im Text belässt. Diesen schafft er, weil er den Zuhörern immer wieder deutlich macht, dass die Antwort so gut durch dacht werden muss, dass sie ein fast Nichts gebiert, warten muss auf das frei Wort das wichtiger ist als das große, weil das Thema nicht ohne ist.
Es geht schließlich um die Geburt. Vor und bei der wir selber nicht wissend anwesend waren, aber gedrängt wurden, anzufangen. Und damit gewinnt man im Text nach und nach das Gefühl: es geht auch um mich. Das schafft die Spannung bis zur letzten Seite im Kreissaal der Poetikvorlesung auszuharren bis er Konturen annimmt.
Wer ein esoterisches Buch vermutet, wird, wie immer bei Sloterdijk, herbe enttäuscht.
Aber warum zum Teufel dieser Parforceritt wenn es doch „nichts“ zu erinnern gibt?
Die Seele, so Sloterdijk, muss sich immer wieder an die Geburt erinnern, um vor das Leben in erworbenen Meinungen zurückzugehen in seine anfängliche gedankenreiche Gedankenlosigkeit bis alle Iden über belangreiche Lebensfragen durchgearbeitet und annulliert sind –selbst die wahrscheinlichsten und nobelsten-. Sie müssen in einen Zustand versetzt werden, wo sie zwischen Gelten und Nichtgelten schweben, so dass sie jede bestimmende Gewalt verlieren“. Jedem „ismus“ die Zündschnüre abnehmen.
Damit hinterlässt er nach 176 Seiten einen Leser mit einem survival kit für das frivole Abenteuer der „Mensch“-werdung, das begleitet ist von „Panik, die aus der Ahnung steigt, dass Welt etwas ist was nicht gegeben sein kann, das nur an den dünne Fäden des Versprechens hängt“, das immer wieder angefangen werden will anzufangen.
Das Risiko diese dünnen Fäden durch starke Seile oder Ketten zu ersetzen, der Flucht in „ismen“ wird verständlich. Auch das Risiko der Depression oder der Verdammung dieser todesgefährlichen Reise und sie nicht-geschehen- machen wollen nachvollziehbarer.
Um der Geburtsvergessenheit der Philosophie nicht weiter zu sekundieren, sekundiert er dem Zurweltkommen mit der Spannkraft einer kleinen Weltpoetik aus Grundgesten.
Die Utensilien dazu sind: Entbindungsgesten, Initiativgesten, bühnenschaffende Gesten, Dringlichkeitsgesten, Erleichterungsgesten, dem Sprech- und Redeapriori, dem Weitergabeapriori sowie dem Freispruch und dem Versprechensapriori.
Daraus ergeben sich eröffnende, vorstoßende, destabilisierende und erschließende, einrichtende, stabilisierende Gesten. Eben so wie das Leben nun mal ist: Gesten aus positiven und negativen Zügen in der Anstrengung des Zur-welt-kommens.
Dieses kleine Bändchen empfehle ich in fünf Abschnitten und in ebenso vielen Tagen zu lesen. Es sind "nur" 176 Seiten, aber diese haben es in sich: inhaltlich anspruchsvoll dafür aber Erkenntnistheoretisch ein wertvoller Blick auf den blinden Fleck. Es geht um die Verhinderung der Geburtsvergessenheit –nicht nur- der Philosophie und der Erinnerung an ein Denken, in dem freie Worte wichtiger werden als große.