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Entgegen den aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die sich einseitig am Phänomen der Schrift oder an Bild oder Bildmedien orientieren, ist das Buch von Reinhart Meyer-Kalkus ein Plädoyer zugunsten der klanglich-musikalischen Dimension der Sprache und der Sprechkünste.
Es erschließt eine weitverzweigte Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Literatur- und Theaterwissenschaft, in Psychologie, Sprachwissenschaft und Ästhetik geführt und durch die neuen Medien Telefon, Schallplatte, Radio und Tonfilm stimuliert wurde.
"Reinhart Meyer-Kalkus, Koordinator am
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Produktbeschreibung
Entgegen den aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die sich einseitig am Phänomen der Schrift oder an Bild oder Bildmedien orientieren, ist das Buch von Reinhart Meyer-Kalkus ein Plädoyer zugunsten der klanglich-musikalischen Dimension der Sprache und der Sprechkünste.

Es erschließt eine weitverzweigte Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Literatur- und Theaterwissenschaft, in Psychologie, Sprachwissenschaft und Ästhetik geführt und durch die neuen Medien Telefon, Schallplatte, Radio und Tonfilm stimuliert wurde.
"Reinhart Meyer-Kalkus, Koordinator am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat ein wunderbares Buch zur Geschichte der Stimme verfasst. (...)
Wer jemals Zweifel hatte, ob Geisteswissenschaften 'gesellschaftsrelevantes' Wissen zu produzieren vermögen (...), der wird durch Reinhart Meyer-Kalkus mit Nachdruck eines Besseren belehrt. Solche Wissenschaft wird niemand missen wollen: Sie hat den 'Sitz im Leben' und geht doch keine schlechten Kompromisse ein nach Inhalt und Darstellungsform."
(Daniel Krause, www.klassik.com)
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2001

Ich hab ein kleines gelbes Geräusch auf der Zunge
Die Schrift wollen wir nicht überbewerten, sagt Reinhart Meyer-Kalkus und legt das Hörrohr an: Stimme und Sprechkünste im visuellen Zeitalter
Im Mai 1929 wurden die Hörer von Radio Wien Teilnehmer eines Experiments. An drei aufeinander folgenden Abenden wurde eine Ballade von Friedrich Schiller gesendet, vorgetragen von neun unterschiedlichen Sprechern. Die Wiener Radiohörer wurden aufgefordert, ihre Vermutungen über Alter, Beruf und Charakter der Sprecher zu Papier zu bringen. Auftraggeber war der Sprachforscher Karl Bühler. Rund dreitausend Hörer folgten dem Aufruf und gaben ihre Höreindrücke zu Protokoll, manches davon erwies sich als zutreffend, anderes als reine Spekulation. Gerade um diese Spekulationen und „Unterstellungen” ging es Bühler jedoch: mit seinem Experiment wollte er die Deutungsmechanismen nachweisen, mit denen Menschen auf Stimmen reagieren.
Bühlers Radioexperiment lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Wissensgebiet, das nach 1900 in Deutschland sowohl bei Wissenschaftlern als auch bei Literaten, Sprechkünstlern und Medienpraktikern großen Zulauf hatte. Reinhart Meyer-Kalkus hat dieses Wissensgebiet in einer breit angelegten Studie rekonstruiert und die Einzelteile aus den unterschiedlichsten Disziplinen zu einem schillernden Gesamtbild zusammengesetzt. Unter dem Stichwort „Physiognomik der Stimme” geht er den Gründen nach, die dazu führten, dass in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ganze Wissenschaft entstand, die sich mit der Stimme und ihrer Erforschung und Deutung befasste.
Die da reden, sieht man nicht
Dieses neu erwachte Interesse an der Stimme reagiert auf eine veränderte mediale Situation. Bereits hundert Jahr zuvor hatte die Ablösung von mündlichen Kommunikationsformen durch solche, die auf dem Gebrauch von Schrift und Druck beruhen, die Kommunikationsteilnehmer auf Distanz gebracht. Telefon, Phonographie und Tonband treiben nach 1900 einen weiteren Keil in die Einheit von Hören und Sehen. Die Trennung von Auge und Ohr erzeugt Ungewissheit über Wesen und Absichten der Kommunikationsteilnehmer und ruft Überlegungen auf den Plan, wie mit Stimmen umzugehen sei, deren Sprecher unsichtbar oder unbekannt sind.
Ein eigener Wissenschaftszweig beschäftigt sich zwischen 1890 und 1930 mit der Frage, welche Schlüsse sich von der Stimme auf das Wesen eines Sprechers ziehen lassen. Aus einer Distanz von gut hundert Jahren scheinen die Experimente, die Eduard Sievers, Ottmar Rutz oder Karl Bühler in ihren Leipziger, Berliner und Wiener Labors anstellten, den Zeitgenossen vor allem eines versprochen zu haben, Sicherheit und Orientierung in einer Welt, in der Menschen von „körperlosen Stimmen” umgeben sind, die aus Radios, Telefonen und anderen Schallträgern auf sie eindringen. Auch das physiognomische Deuten von Körperbau, Gesicht oder Handschrift hat in dieser Zeit Konjunktur.
Die Erforschung von Lautgesetzen, Sprechrhythmus und Artikulation liefert wichtige Bausteine der Stimmanalyse, aus denen sich später als eigene Wissenschaft die Phonologie entwickelte. Der Linguist Roman Jakobson hat sich noch spät auf Sievers berufen, und auch Michail Bachtins scheint von den deutschen Stimmforschern Anregungen für seine Konzeption sprachlicher Vielstimmigkeit bezogen zu haben. Oft sind die Wege der Stimmforscher allerdings undurchsichtig, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Spekulation fließend. Meyer-Kalkus spricht von einer „wilden Hermeneutik”.
„Neue Wege zur Menschenkenntnis” stellt der Stimmphysiognomiker Ottmar Rutz seinen Anhängern in Aussicht. Der von den Stimmforschern gerne zitierte Satz „rede, damit ich dich sehe”, lässt indes unterschiedliche Deutungen zu, und an diesen Deutungen scheiden sich von jeher die Geister. Auf der einen Seite findet man Ansätze, die Sprechweise und Stimmführung auf kulturelle Parameter beziehen und die soziale Imprägnierung des Sprechverhaltens in ihren Analysen berücksichtigen. Auf weitaus größere Resonanz stießen in der Regel diejenigen, die Betonung, Rhythmus und Klang als etwas Zeitloses betrachteten und einfühlendes Hören als direkten Weg zur Menschenkenntnis empfahlen.
Dass die Stimmphysiognomik nach 1930 mehr und mehr an Ansehen verlor, hat auch mit den wissenschaftlich nur schwer haltbaren Positionen dieser Ausdrucks- und Einfühlungstheorie zu tun. Literaten und Sprechkünstler ließen sich von derartigen Spekulationen dennoch gerne inspirieren. Dass zwischen Elias Canettis „akustischen Masken” und den Stimmexperimenten seiner Zeitgenossen ein Zusammenhang besteht, leuchtet unmittelbar ein, und auch dass die Lautdichtungen Hugo Balls, Rudolf Blümners und Kurt Schwitters sich aus ähnlichen Quellen speisen, erscheint evident. Meyer-Kalkus spricht in diesem Zusammenhang von „Echos”, über die konkreten Einflüsse und Verbindungen würde man gerne mehr erfahren.
Gemeinsam ist Lautdichtern, Stimmforschern und frühen Tonfilm- und Radiopraktikern das Bemühen um eine neue Sensibilität für das Akustische. „Tongroßaufnahmen” versprach Béla Balász sich zu Beginn der dreißiger Jahre vom Aufkommen des Tonfilms. Balász sah eine ganze Welt der Geräusche und Klänge „zum ersten Mal in unser Bewusstsein” dringen – eine Welt, die umgehend der Deutung unterworfen wurde. Für den Radiomann Ernst Hardt jedenfalls hatte das Hören von Stimmen aus dem Radio „etwas vom jüngsten Gericht an sich”, treten die Eigentümlichkeiten einer Stimme hier doch besonders deutliche hervor. In Fritz Langs frühem Tonfilm „M – Eine Stadt sucht einen Mörder” ist es sein eigentümliches Pfeifen, das den Mörder verrät.
Meyer-Kalkus setzt Mitte der dreißiger Jahre eine Zäsur. So umgeht er den heiklen Zeitraum, in dem in Deutschland der Weg von der stimmlichen „Menschenkunde” zur Rassenkunde oft nicht weit war. Wohin die Sieverschen Stimmexperiment nach 1933 führten, ist in Marcel Beyers Roman „Flughunde” nachzulesen. Dass Meyer-Kalkus hier einen Schnitt macht, hat allerdings auch sachliche Gründe. Die Stimmphysiognomik hatte ihren Zenit um 1930 bereits überschnitten. Mit dem Zweiten Weltkrieg reißt diese vor allem in Deutschland betriebene Forschung ab. Nach 1945 kam es zu keiner Wiederbelebung.
Menschenkunde für das Ohr
Das Ende der stimmphysiognomischen Tradition wirft die Frage auf, ob deren Ideen heute noch aktuell sind. Meyer-Kalkus versteht seine Archäologie der Stimmforschung und Stimmkünste im 20. Jahrhundert auch als Einspruch gegen eine Kultur- und Medienwissenschaft, in der die Beschäftigung mit der Stimme und dem Hören eine untergeordnete Rolle spielt. Verglichen mit der Aufmerksamkeit, die den technischen Medien und den Folgen der Schriftkultur zu teil wird, führt die Auseinandersetzung mit der Stimme in der Tat eher ein Schattendasein. Liest man, was viele Stimmphysiognomiker sich unter einer „Menschenkunde” auf klanglicher Basis vorstellen, wird allerdings noch einmal deutlich, woher diese Zurückhaltung rührt.
Ein Anknüpfen an die Gedanken der Stimmphysiognomiker ist wohl nur um den Preis einer konsequenten Historisierung der Mechanismen denkbar, die beim „Vorgang des Stimmendeutens” im Spiel sind. Zu diesem Schluss kam jedenfalls bereits Karl Bühler bei der Auswertung dessen, was die Hörerinnen und Hörer von Radio Wien 1929 zu Protokoll gaben. Wenn man sich von allzu einfachen und bequemen Rückschlüssen von der Stimme auf das Wesen des Menschen löst, dann lässt sich auch das anthropologische Interesse hinter dem Projekt einer Physiognomik der Stimme wieder würdigen. Meyer-Kalkus Rekonstruktion dieses Projekts und seiner wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
CAROLINE PROSS
REINHART MEYER-KALKUS: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Akademie Verlag, Berlin 2001, 508 S. 87,62 Mark.
Man hört es förmlich, das Gebrüll der beiden. Unglaublich, wie kräftig Kinder schreien können, wenn sie etwas nicht hören möchten. Erwachsene schalten häufig einfach auf Durchzug. Da ist dann nur noch ein lautloses Atmen zu hören, an dem der Sprecher scheitert. Kinder sind einfach ehrlicher: auf ihn mit Gebrüll! Wir entnehmen unser Foto dem Band „Elliott Erwin Snaps” (Phaidon-Verlag, London 2001. 543 Seiten, 148 Mark). ikon
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Wie die Stimme, so der Mensch
Wegweisend: Reinhart Meyer-Kalkus legt das Ohr an die Sprechkunst / Von Michael Adrian

Daß wir einen Menschen in hohem Maße anhand seiner Stimme und Sprechweise einschätzen, gehört zu den alltäglichen Erfahrungen. Doch in den geläufigen Selbstbeschreibungen unserer Kultur kommt diese Dimension unserer Stimmenhörigkeit kaum vor. Ob von der Medienkultur oder der Kunst der Gegenwart die Rede ist, stets schwimmen die Assoziationen auf einem Strom von Begriffen wie Schrift, Zeichen, Differenz, Fragment, Bild oder Symbol. Dieses eigenartige Mißverhältnis hat der Berliner Germanist Reinhart Meyer-Kalkus zum Anlaß genommen, hinter die gegenwärtigen Diskursvorgaben zurückzugehen und die wissenschaftliche, literarisch-künstlerische und kulturkritische Beschäftigung mit "Stimme und Sprechkünsten im zwanzigsten Jahrhundert" historisch und systematisch aufzuarbeiten. In einläßlichen Rekonstruktionen bemüht sich die Habilitationsschrift, Materialien zu einer "historischen Anthropologie der Stimme" zu versammeln.

Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entsteht in Europa und den Vereinigten Staaten die Phonetik, die Lehre von der lautlichen Seite der Sprache. In Deutschland kommt es dabei zu einem phonetischen Sonderweg: Ästhetische Vorstellungen aus der Goethezeit, die im Kunstwerk den Ausdruck innerer Erlebnisse sehen, verbinden sich im letzten Drittel des Jahrhunderts mit der Ausdruckspsychologie, wie sie etwa Wilhelm Wundt einflußreich vertrat. Wundt ging von einem strengen "Psychophysikalismus" aus, demzufolge jede körperliche Ausdrucksgeste eine geistige Entsprechung besitze, und umgekehrt. Beide Denkfiguren kommen einem physiognomischen Denken entgegen, das sich bald auch in Charakterologien, Typologien und Völkerpsychologien - bis hin zur "Rassenkunde" - ausprägen sollte.

Auch die Philologie sollte von der neuen Lautforschung nicht unberührt bleiben. Eduard Sievers, einer der einflußreichen Pioniere der Phonetik, wollte der Augen- eine Ohrenphilologie an die Seite stellen und das psychophysikalische Paradigma auf die Literaturforschung ausdehnen. Seine "Schallanalysen" verbanden sich dabei mit der Vorstellung, stimmlichen Charakteristika lägen bestimmte Körperhaltungen und Muskelspannungen zugrunde. Beim lauten Lesen eines Gedichtes nun müsse man zu "Stimmfreiheit", also einem ungehemmten und unangespannten Vortrag kommen. Auf diese Weise beanspruchte Sievers nicht nur, objektive rhythmische und melodische Eigenschaften eines jeden Textes herausarbeiten und gar in der Überlieferung korrumpierte Passagen isolieren zu können. Gemäß der ausdrucksästhetischen Grundvorstellung glaubte er auch, die ursprüngliche Stimme des Verfassers wiederzufinden: die Autorenintention im Klanglabor. Und so lernen wir, daß Goethe, das "Weltgenie der Taktfühlkurve", mit nicht weniger als drei Stimmen schrieb, zwei Stimmtypen seiner Mutter und einem seines Vaters.

Mit dem Modell von innerem geistigem Zustand und dessen äußerem Ausdruck bricht Karl Bühler, der in seiner Sprachtheorie den Ausdruck subjektiver Zustände um den Appell an einen Adressaten und die Darstellung von Sachverhalten erweitert. Gleichwohl wird die physiognomische Ausdrucksebene der Sprache nicht verabschiedet: Im Mai 1929 läßt Bühler in Radio Wien neun verschiedene Sprecher Schillers Ballade "Der Graf von Habsburg" vorlesen; die Hörer des Senders sollen nun Angaben über Alter, Aussehen, Typ und Beruf der Vortragenden machen. Im Ergebnis stellt Bühler eine das Wahrscheinlichkeitsmaß übersteigende hohe Trefferquote fest. Interessant an solchen Versuchen ist für Meyer-Kalkus, daß die physiognomische Wahrnehmung mit den neuen Medien, die sich wie Radio und Stummfilm zunächst nur an einzelne Sinne richten, nicht an ihr Ende kommt. Weit davon entfernt, der "wilden Hermeneutik" der Physiognomie den Garaus zu bereiten, provoziert die "suspendierte Koexpressivität" - also das mediale Auseinanderreißen des Zusammenspiels der Sinne - vielmehr eine Beschleunigung reflexhaften physiognomischen Urteilens.

Es ist diese Dialektik zwischen sich wandelnden medialen und kulturellen Bedingungen und den Schicksalen der Stimme, die im Kern der Untersuchung steht. Wie Meyer-Kalkus zeigt, entwickeln sich gerade unter den Bedingungen der Schriftkultur die Sprechkünste. Nicht mehr in erster Linie der Unterrichtung der Leseunkundigen dienend, konnte das Vortragen zu einer eigenen Kunstform gemacht und die Musikalität der Sprache ins Zentrum gerückt werden. In einem äußerst materialreichen Kapitel verfolgt der Autor die Sprechstile und künstlerischen Sprachexperimente im zwanzigsten Jahrhundert. Deren Ausgangspunkt sieht er in der Kritik der Aufklärung an der zuvor verbindlichen rhetorischen Sprachkultur des französischen Adels. An ihre Stelle treten Vortrag, Rezitation, Deklamation der neueren deutschen Dichtung - Vortragsweisen, die akribisch voneinander unterschieden werden. Auf der Bühne, in Lesegesellschaften, beim lauten Deklamieren deutscher Dichtung in der Schule bildet sich im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts eine Bühnenaussprache aus, an deren Anerkennung als deutsche Hochsprache übrigens Eduard Sievers beteiligt war.

Auch die Vielzahl vokaler Experimente, die zwischen 1890 und 1930 im deutschen Sprachraum durchgeführt wurden, kreiste um die Musikalität und die Physiognomik der Stimme. Der ruckhaft-moderne, nervös-realistische Vortragsstil des österreichischen Schauspielers und Rezitators Josef Kainz, der eine ganze Generation in Bann schlug, trug den Deklamationsstil der deutschen Klassik zu Grabe und gab der Bühnenrede "die Unterlage des deutlich sichtbaren psycho-physiologischen Trieblebens" zurück, wie ein Zeitgenosse formulierte. Wachsplattenaufnahmen aus Kainz' späten Jahren charakterisiert Meyer-Kalkus aus heutiger Sicht als "emphatisch-pathetisch und singend-hysterisch". Nicht nur die historischen Erfahrungen lassen gerade Kainz' Pathos als spezifisch unmodern erscheinen. Auch die Entwicklung von Radio, Lautsprecher und Mikrophon holte die Stimmen ans Ohr und machte eine laute, raumfüllende Vortragsweise hinfällig. Radiotheorien wie die von Arnheim, Brecht und Benjamin, die auf den "physiognomischen Ernstfall" - die vokale Großaufnahme - reagieren, diskutiert Meyer-Kalkus folglich ebenso wie die vom Tonfilm ausgelösten filmästhetischen Umschwünge.

Der Berliner Sturmkreis, Hugo Ball mit seiner dadaistischen Lautpoesie und Kurt Schwitters mit seiner Ursonate wiederum bemühten sich, in "absoluten Lautdichtungen" die Musikalität der Sprache jenseits der Grenzen von Sinn und Grammatik hervorzutreiben. Allerlei Mystisches sollte bei Ball hinter dem von der "Großstadtvokabel" befreiten Lautspiel vernehmbar werden. Einen Einfluß der Sprechkunstbewegung um 1910, ihrer Prägung der "Sprechmelodie" und der Unterscheidung zwischen Sing- und Sprechstimme verzeichnet Meyer-Kalkus auch auf Schönbergs Versuch, im "Pierrot Lunaire" das "Triebleben der Klänge" (Adorno) zu Gehör zu bringen.

Die Coda dieses überaus anregenden, verweis- und fußnotenreichen Buches bildet ein instruktives Kapitel zu Lacans "Triebtheorie der Stimme" und Roland Barthes' Vorliebe für die französische "vokalische" Gesangsstimme seines Gesanglehrers Charles Panzéra, die er mit einer dezidierten Ablehnung des "konsonantisch" artikulierten Gesangs Dietrich Fischer-Dieskaus verband. Ein Beleg, notiert der Autor, daß die physiognomische Stimmwahrnehmung immer auch eine erotische Dimension aufweist, daß Liebe, Haß oder Gleichgültigkeit mitschwingen, wenn unser Ohr in Schwingung gerät. Den Rousseauschen Topos des Niedergangs einer ursprünglichen vokalischen Musikalität in der Moderne macht sich Reinhart Meyer-Kalkus dabei so wenig zu eigen wie den vom Verfall der Beredsamkeit. Vielmehr, so scheint sein Buch zwischen den Zeilen sagen zu wollen, haben diese seit der Aufklärung virulenten Klagen die Wahrnehmung der Vielfalt und Lebendigkeit des "scheinbar anachronistischen Massenmediums der Stimme" eher verhindert. Daß sie daran zu rütteln vermöchte, ist der wegweisenden Studie von Herzen zu wünschen.

Reinhart Meyer-Kalkus: "Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert". Akademie Verlag, Berlin 2001. VII, 508 S., 25 Abb., geb., 87,62 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Michael Adrian rezensiert Reinhart Meyer-Kalkus "wegweisende" Studie "Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert". Die Habilitationsschrift des Berliner Germanisten, die zeitlich bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückgreift, biete auf der Grundlage eines breitangelegten Quellenmaterials eine "historische Anthropologie der Stimme". Für das 20. Jahrhundert stehen die Umschwünge, die durch das Aufkommen neuer Medien wie Radio und Tonfilm auf die Sprechkunst ausgingen, im Zentrum der Untersuchung. Einen weiteren Schwerpunkt sieht Adrian bei den künstlerischen Sprachexperimenten im 20. Jahrhundert, deren Vorläufer Meyer-Kalkus anschaulich herausarbeite. Als besonders hervorhebenswert erachtet Adrian ein Kapitel über die "Triebtheorie der Stimme", die auf die erotischen Klangdimensionen eingehe.

© Perlentaucher Medien GmbH"
"Reinhart Meyer-Kalkus, Koordinator am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat ein wunderbares Buch zur Geschichte der Stimme verfasst. (...).
Wer jemals Zweifel hatte, ob Geisteswissenschaften gesellschaftsrelevantes Wissen zu produzieren vermögen (...), der wird durch Reinhart Meyer-Kalkus mit Nachdruck eines Besseren belehrt. Solche Wissenschaft wird niemand missen wollen: Sie hat den Sitz im Leben und geht doch keine schlechten Kompromisse ein nach Inhalt und Darstellungsform."
(Daniel Krause, www.klassik.com)