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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Statt der großen Theaterbühnen warteten die Schrecken der kasachischen Lager auf sie: Eleonora Hummel erzählt die Geschichte einer russischen Schauspielerin.
Sowjetunion, 1958. Eine Frau irrt über Bahnhöfe, sie ist Mitte vierzig und obdachlos. Die zerschlissene Wattejacke, die sie trägt, ist ihr viel zu groß, die Schuhe sind dreckverkrustet und ausgetreten. Vor jedem Spiegel zuckt sie zusammen und ballt die Faust - als wollte sie das Glas zerschlagen. Mit verstörtem Blick starrt sie auf die Dinge ringsum, und die Leute drehen sich erschrocken nach ihr um - ein Bild, das lang im Gedächtnis des Lesers bleibt. So tritt in Eleonora Hummels Roman "In guten Händen, in einem schönen Land" die Hauptfigur Olessia Lepanto auf, eine begabte Schauspielschülerin aus bester Familie, bis sie 1941 verhaftet wird. Sie hatte es gewagt, einen befreundeten Politiker um Hilfe für ihren verhafteten Vater zu bitten. Siebzehn Jahre verbrachte sie im "KarLag", einem Lagerkomplex in der kasachischen Steppe.
Den Stoff für ihren dritten Roman (nach "Die Venus im Fenster" und dem vielbeachteten Debüt "Die Fische von Berlin", das von der verwirrten Ankunft einer kasachischen Familie im Westen erzählt) fand Eleonora Hummel in einer russischen Zeitung. Das Schicksal der ukrainischen Schauspielerin, von der dort berichtet wurde, ließ sie nicht mehr los: Sie wurde zum Vorbild für ihre eindrucksvolle Hauptfigur und zur Grundlage des Romans, der sich eng an die historischen Fakten hält. Die Recherchen gingen der Autorin besonders nah, weil sie unweit jener berüchtigten Lager in der kasachischen Steppe geboren wurde. Als Zwölfjährige übersiedelte sie 1982 mit ihrer Familie nach Dresden, wo sie heute noch lebt. Deutsch, die Sprache, in der sie ihre Bücher schreibt, lernte sie erst dort.
Behutsam, nachdenklich und aufmerksam den Sätzen nachlauschend, nähert sich die Autorin ihrer Hauptfigur. "Erinnerst du dich?", fragt sie, als müsste sie die Schweigende dazu überreden, sich in Gedanken wieder ins Lager zurückzubegeben. Aber schon die Blicke der Menschen ringsum treiben sie zurück, denn sie zeigen unerbittlich, dass sie aus der Welt der Normalität herausgefallen ist. Verwirrt flüchtet sie von Zug zu Zug und landet schließlich auf der Krim, wo 1921 mit der Hinrichtung des Vaters, eines Diplomaten im Dienst des Zaren und späteren Unterstützers der Weißen Armee, ihre Leidensgeschichte begann. Ein erzählerisch geschickter Einstieg, der die Ereignisse jenes Jahres nah heranholt.
Drei sehr unterschiedliche Frauenstimmen umspielen einander im Roman: neben Viktorias kindlich-trotziger Schilderung eines öden Heimalltags stehen Olessias bohrende Fragen nach dem Warum und ihr melancholisches Eintauchen in die Familiengeschichte. Neben diesen beiden ratlosen und wütenden Stimmen klingt Ninas Pragmatismus stur und bieder, aber sie erreicht damit viel: Sie findet Olessias im Lager geborene Tochter und erwirkt 1958 sogar Olessias vorzeitige Entlassung.
In der berührenden, lakonisch erzählten Kernpassage des Romans, der Gerichtsverhandlung um das Sorgerecht für das Mädchen, das Nina um jeden Preis und auch mit Denunziationen erkämpft, wandern die Gedanken der beiden ehemals so Vertrauten ins Lager zurück: in die Ziegelei, wo Olessia Vorarbeiterin war und Nina das Ziegelformen lehrte, zur Zwangsversetzung der schwangeren Olessia ins Bergwerk und schließlich zur schrecklichen Wiederbegegnung der beiden Frauen im Durchgangslager Taischet, nach Olessias zweiter Verhaftung - eine der stärksten Szenen des Romans.
Ebenso mitreißend geschildert ist ein rauschhafter Abend im Lager: In nur zehn Tagen entsteht eine Goldoni-Aufführung, mit eigens gezimmerter Bühne und aus dem Nichts geschaffenen Kostümen - die Hüte sind mit vom Mund abgesparten Karotten-Kügelchen verziert. Die künstlerische Qualität des (historisch verbürgten) Abends, an dem Olessia leidenschaftlich mitwirkt, verdankte sich den vielen hochbegabten Theaterleuten unter den Gefangenen.
Die Autorin breitet ihren Stoff nicht episch aus, sondern setzt ihre Szenen aus Gesten und Bewegungen zusammen - als würden diese nur momentweise von einem Scheinwerfer erfasst. Das gelingt überzeugend, wenn gleichzeitig knapp und ohne Pathos von dieser Tragödie erzählt wird, wie von der Flucht nach dem Tod des Vaters: zu Fuß und abenteuerlich verkleidet schlagen sich Mutter und Tochter nach Leningrad durch und geraten ständig in absurde Situationen, die der reinen Not entspringen.
Leider sind im Buch viele leere Floskeln, umständliche Verben ("Du tastetest dich mühsam durch die Jahre zurück") und geschraubte Formulierungen ("der Versuchung eines Nickerchens erlegen") verstreut, die oft unmittelbar neben eindringlichen Passagen stehen, wie etwa dem Jubel der kleinen Viktoria über Brot mit Zwiebel, am Verbannungsort Nowaja Butarowka.
Auch bleibt Nina jenseits der Lagerzeit als Figur blass, denn sinnliche Details aus dem sowjetischen Alltag, in dem sie sich unauffällig zu bewegen versucht, erfährt der Leser kaum - genauso wenig wie aus dem Kinderheim, in dem die traumatisierte Viktoria alle Gefühle in sich abtötet. Das ändert sich erst mit der witzig geschilderten Altmetallsammlung der jungen Pionierin, die an ihr Land glaubt, sich dort in guten Händen wähnt und empört ist über ihre Mutter, die immer mehr zur Außenseiterin wird - und zur Lichtgestalt des Romans.
Man kann dieses Buch als Studie über einen starken Menschen lesen, der sich weigert, die entscheidenden Jahre seines Lebens zu vergessen. Immer wieder steigt Olessia in das Bergwerk ihrer Erinnerungen hinab - schon die ständigen Rückenschmerzen, die von harter Arbeit in niedrigen Schächten herrühren, halten ihr diese Jahre gegenwärtig. Dennoch lebt sie weiter, arbeitet und gestattet sich keine Verzweiflung. "Ich habe mich immer bemüht, meine Scherben in Ordnung zu halten", erklärt sie nüchtern, nur dass die Tochter sich bei ihren seltenen Pflichtbesuchen für die farbenfrohen Kleider und das Greisengesicht der Mutter schämt, schmerzt sie. Auf der Bühne brilliert sie als eigensinnige Alte, und man versteht sofort, dass ihr Publikum sie liebt, weil ihr authentisches Spiel die Schrecken der Vergangenheit und der Gegenwart zugleich zu bannen scheint - zumindest für einige Stunden.
Eine stimmige und anrührende Figur ist diese 1914 in einer großbürgerlichen Wohnung in St. Petersburg geborene Olessia Lepanto, die bis 1993, als sie bei einem Autounfall stirbt, in einem leeren Raum nur mit einer Matratze und vielen Blumenvasen lebt. Die Schauspielerin stirbt unversöhnt und wütend: Soeben hatte sie ein langersehntes Rollenangebot bekommen.
NICOLE HENNEBERG
Eleonora
Hummel: "In guten Händen, in einem schönen Land". Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2013. 368 S., geb., 22,- [Euro].
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