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Produktdetails
  • Verlag: C. Bertelsmann
  • Seitenzahl: 352
  • Erscheinungstermin: 4. März 2014
  • Deutsch
  • Abmessung: 207mm x 129mm x 33mm
  • Gewicht: 589g
  • ISBN-13: 9783570101872
  • ISBN-10: 3570101878
  • Artikelnr.: 40017731
Autorenporträt
Michael Jürgs, geboren 1945, war Chefredakteur von "Stern" und "Tempo". Er hat sich als Autor zahlreicher Biografien einen Namen gemacht. Seine Bücher waren alle Bestseller. Er ist Co-Autor vieler Fernsehdokumentationen, die nach seinen Büchern gedreht wurden.
Rezensionen
"Ein detail- und faktenreiches Sachbuch, das die Funktionsweisen eines brutalen Marktes offen legt" Deutschlandfunk, Andruck

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2014

Frauen,
wie Vieh verkauft
Michael Jürgs beschreibt gnadenlose Ausbeutung
in der EU – und macht einen schlechten Vorschlag
VON RONEN STEINKE
Niemand zwingt sie, außer das Leben selbst. Die Mutter, die eine Krebstherapie braucht, der Sohn, der eine vernünftige Schule besuchen soll. Um das nötige Geld nach Hause zu bringen, wird sie auch an diesem Abend ihre hohen grünen Stiefel anziehen. Dann, wenn der Kleine in seinem Bett ganz regelmäßig atmet. Sie wird sich davonstehlen aus ihrer Wohnung in Polen, gen Westen fahren, nach Berlin. In der Dämmerung wird sie zurück sein, der Sohn braucht sein Frühstück.
  In Berlin kennt man sie und ihre grünen Stiefel: auf der Kurfürstenstraße, dem billigsten Strich der Stadt. Ihre Geschichte und ihren Namen aber kennt nur Angelika Müller, 55, die hier seit 17 Jahren als Krankenschwester in der Hilfseinrichtung „Frauentreff Olga“ arbeitet.
  Hinter der rußigen Häuserfassade im ersten Stock kann man mit Müller über die Frauen sprechen, die ganz unten stehen, im Leben wie in der Hierarchie des Rotlichts. Hier prostituiert sich das Elend, hier tragen die Frauen keine einheitlichen Moonboots wie in der Oranienburger Straße, sondern Brandlöcher und Laufmaschen, und darunter verbergen sich bei den meisten der gut 220 Frauen blaue Flecke. Male, die kein Freier sieht, dem eine von ihnen in einer dunklen Ecke die schnelle Befriedigung verschafft. Male, die nur Angelika Müller sieht.
  Zwangsprostitution allerdings: Das sei ein großes Wort, findet die Krankenschwester, es täusche klare Grenzen vor. Am Beispiel der Frau mit den grünen Stiefeln könne man das sehen: Nicht nur die rohe Gewalt von Männern, auch ökonomische Notwendigkeiten zwingen Frauen auf die Straße. Eine krebskranke Mutter, ein Sohn, der es mal besser haben soll. Drogen, Schulden. „Frei von Zwang“, sagt Angelika Müller, „ist letztlich keine hier.“
  Das ist eine bedenkenswerte Frage in der aktuellen Debatte um ein Verbot von Prostitution in Europa: Wie viel Zwang und Ausbeutung bleiben übrig, wenn man sich die rohe, äußerliche Gewalt der Menschenhändler mit ihren Schlagringen und Ketten wegdenkt? Mutmaßlich: eine Menge. Das neue Buch des Publizisten Michael Jürgs, „Sklavenmarkt Europa“, gibt dazu einige Denkanstöße. Jürgs beschreibt einen beinharten Kapitalismus, der ungeschützt wüten kann in einer Halbwelt, in der sich Mittellose nicht an ein Sozialamt oder eine Polizeistation wenden können. Weil sie – wie die Frau mit den grünen Stiefeln – kein staatliches Sozialsystem an ihrer Seite haben. Oder weil sie illegal eingewandert sind, sich also vor dem Staat selbst verstecken müssen, sonst droht Abschiebehaft.    „Millionen Menschen befinden sich zwar in einem sklavenähnlichen Arbeitsverhältnis“, schreibt Jürgs, „aber viele sind dazu gezwungen durch die hoffnungslose wirtschaftliche Situation und die Lebensumstände in ihrer Heimat und lassen sich deshalb freiwillig ausbeuten.“
  Man braucht dafür nicht in die Golfstaaten zu schauen, auf Großbaustellen, es reicht schon der Blick in die 3700 Nähfabriken in der Toskana, wo kürzlich ein Brand chinesische Arbeitssklaven tötete. Oder in die Villenviertel Europas, wo papierlose Einwanderer immer wieder als rechtlose Haussklaven unterkommen: „Sie erdulden es. Könnten zwar bei passender Gelegenheit fliehen, aber wohin sollten sie sich in Sicherheit bringen? Sie haben kein Geld. Sie haben keine Papiere. Sie sprechen nicht die Sprache des Landes. Sie sind Illegale, und sie wissen, wenn sie sich auflehnen, schickt man sie zurück ins andere Elend. In das ihrer Heimat.“ Ein europäisches System macht es möglich, das Ausbeutern und Schleusern die Opfer in die Arme treibt, durch ein erbarmungsloses Grenzregime und durch das Verbot legaler Arbeit.
  Mit der Frage nach der zwiespältigen Rolle von Europas Polizei und Grenzschützern allerdings hält sich Jürgs nicht lange auf. Er spricht nicht mit Aussteigerinnen und nicht mit Davongekommenen, die möglicherweise davon erzählen würden, auch nicht mit Sozialarbeiterinnen wie der eingangs erwähnten Berlinerin Angelika Müller. Stattdessen nur mit Polizisten, die sich im Schutz der Anonymität geöffnet hätten. Und so gelangt der Autor zu der mannhaften These: „Die Bundespolizei bräuchte erstens ein größeres Budget. Zweitens mehr Personal. Drittens eine auf die kriminellen Herausforderungen kühl taktisch reagierende Politik.“ Das Buch ist natürlich spannend geschrieben, Michael Jürgs war in den Neunzigerjahren Chefredakteur des Stern, es gibt Pointen und Anekdoten. Doch der Großteil bleibt Kolportage, aufgeschnappt auf Polizeikonferenzen, Geschichten, wie man sie so oder ähnlich schon oft lesen konnte und nun aber nicht überprüfen kann, denn auf Zeit- und Ortsangaben wird großenteils verzichtetet, gewiss um diese exklusiven Einsichten zu ermöglichen.
  Zweifelhaft wird es, wo Jürgs über das Elend speziell der Osteuropäerinnen schreibt. Mit den Nationalitäten im Rotlichtmilieu verhält es sich so, erklären Sozialarbeiterinnen oder spezialisierte Anwältinnen wie Margarete von Galen, wenn man sie denn fragt: Die neueste Gruppe von Einwanderern steht immer am weitesten unten auf dem Strich, muss am billigsten anschaffen, wird am meisten ausgebeutet. Bis die nächste kommt. Neu ist, dass es in Deutschland derzeit Bulgarinnen und Rumäninnen sind (aber auch Nigerianerinnen); der Mechanismus indessen ist beklagenswert alt. Der Autor aber fährt fort im Ton des Verbrechensbekämpfers: Vor allem weil im Osten die Mafia so stark sei, dominierten den Sexmarkt in Deutschland inzwischen „Frauen aus Bulgarien und Rumänien, die“ – so behauptet er – die Preise drückten wie noch nie und „sich sogar in ihrer Muttersprache kaum auszudrücken wissen“. Also müsse die Polizei aufrüsten und ausrücken gegen diese neue Welle von Osten, noch entschlossener und mit noch mehr Rückenwind als bisher.
  Widerwärtig wird es, wo Jürgs über Roma schreibt. „Einziger Reichtum der Armen sind ihre Kinder. Viele werden produziert für den Export. . . . Die Mütter wehren sich nicht. Die Unterdrückung von Frauen, ihre Degradierung zu Sexobjekten ohne Anspruch auf eine eigene Meinung, hat ebenfalls Tradition.“ Nachdem der Autor den Fall des kleinen Roma-Mädchens Maria rekapituliert hat, der im vergangenen Herbst durch die Medien ging – es handelte sich um ein blondes Mädchen, das bei einer Razzia der Polizei in einer griechischen Roma-Siedlung entdeckt wurde, was kurzzeitig zu dem falschen Verdacht führte, sie sei ein Entführungsopfer –, erklärt Jürgs, warum dieser Verdacht von vornherein abwegig war. „Weil sie über viele selbst produzierte Kinder verfügen, müssen Roma keine fremden klauen, schicken die eigenen oder von anderen Roma angemieteten oder ausgeliehenen Kinder zum Betteln oder richten sie zum Klauen ab.“
  Wenn es um Roma geht, die Bevölkerungsgruppe, die derzeit in Europa am wenigsten auf einen Staat zählen kann und am meisten anfällig ist für Ausbeutung, und die deshalb auch von Menschenhändlern oft geschleust wird, verbietet sich Jürgs nicht einmal Ungeziefervergleiche. „Roma-Banden sind spezialisiert auf Betteln und auf Stehlen. In Berlin fielen sie wie Heuschrecken über die Innenstadt und die Villenviertel her.“ Und weit und breit kein Lektor, der Einwände hätte.
Michael Jürgs: Sklavenmarkt Europa: Das Milliardengeschäft mit der Ware Mensch. C. Bertelsmann, 2014. 352 S., 19,99 Euro.
Jürgs schildert einen
beinharten Kapitalismus,
der ungestört wüten kann
Die Rolle, die Europas Polizei
und die Grenzschützer spielen,
ist mehr als zwiespältig
Millionen Menschen, schreibt Michael Jürgs, befinden sich in einem sklavenähnlichen Arbeitsverhältnis, und das nicht nur zur Weihnachtszeit .  
Zeichnung: Schopf
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ronen Steinke ist entsetzt über manche der Ansichten, die der Publizist Michael Jürgs in seinem Buch zur Zwangsprostitution in Europa zum Besten gibt. Wenn es um Roma geht, erklärt Steinke schaudernd, scheut der Autor nicht mal vor Ungeziefervergleichen zurück. Dass Jürgs seinen Beitrag zur Debatte um ein Prostitutionsverbot fast ausschließlich aus Gesprächen mit Polizisten zusammenstellt, findet der Rezensent einfach zu wenig. Wo bleiben die Sozialarbeiterinnen, Krankenschwestern und die Betroffenen selbst? Die spannende, pointensichere Schreibe kann am Ende für Steinke nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem Buch vor allem um nicht nachprüfbare Kolportage handelt, schon weil Jürgs auf Orts- und Zeitangaben verzichtet.

© Perlentaucher Medien GmbH